Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 30.06.2004
Aktenzeichen: III B 6/04
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO


Vorschriften:

AO 1977 § 364b Abs. 1 Nr. 1
AO 1977 § 364b
AO 1977 § 149 Abs. 2
FGO § 76 Abs. 3 Satz 2
FGO § 76 Abs. 3
FGO § 79 Abs. 1
FGO § 76 Abs. 1
FGO § 100 Abs. 2
FGO § 100 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) wird zur Einkommensteuer veranlagt. Im Streitjahr 1997 gab er keine Steuererklärung ab. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) schätzte deshalb die Besteuerungsgrundlagen.

Im Einspruchsverfahren forderte das FA den Kläger vergeblich zur Abgabe der Einkommensteuererklärung auf und setzte eine Frist zu deren Abgabe nach § 364b Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Nachdem der Kläger sich nicht geäußert hatte, wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Im Klageverfahren reichte der Kläger die Steuererklärung ein.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 280 veröffentlichtem Urteil statt und setzte die Einkommensteuer erklärungsgemäß fest.

Das FA hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob eine Präklusion nach § 364b AO 1977 stets dadurch ihrer Wirkung beraubt werden könne, dass die im finanzgerichtlichen Verfahren nachgereichte Steuererklärung regelmäßig ohne weiteres zu Grunde gelegt werde und so die Regelungen in §§ 149 Abs. 2 und 364b AO 1977 durch § 76 Abs. 3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgehebelt werden könnten.

Das FA beantragt, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist unzulässig und deshalb durch Beschluss zu verwerfen (§ 132 FGO).

Das FA hat die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen dargelegt (§ 116 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Hierfür reicht die bloße Behauptung, die Streitsache habe grundsätzliche Bedeutung, nicht aus. Für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung ist zunächst eine konkrete Rechtsfrage herauszustellen. Sodann ist schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zu den aufgeworfenen Rechtsfragen in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen darzutun, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. Oktober 2002 IX B 129/02, BFH/NV 2003, 328, m.w.N.). Gibt es zu der betreffenden Rechtsfrage bereits Entscheidungen des BFH, so ist insbesondere zu begründen, weshalb trotzdem weiterer oder ggf. erneuter Klärungsbedarf bestehe (BFH-Beschluss vom 28. Juli 2003 III B 129/02, BFH/NV 2003, 1610). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

1. Das FA hat sich nicht mit den dem FG-Urteil zugrunde liegenden BFH-Entscheidungen auseinander gesetzt. Demzufolge hat es auch nicht dargelegt, inwieweit die von ihm aufgeworfenen Fragen noch der Klärung bedürfen bzw. welchen erneuten Klärungsbedarf es vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung sieht.

a) Nach dem BFH-Urteil vom 17. Dezember 1997 I R 47/97 (BFHE 185, 21, BStBl II 1998, 269) rechtfertigt der Zweck der Zulassung des verspäteten Vorbringens durch das FG (die Wahrheitsfindung), dass die verfahrensbeschleunigenden Rechtsfolgen, die sich aus der vom FA im Einspruchsverfahren gesetzten und von dem Rechtsbehelfsführer dort versäumten Ausschlussfrist gemäß § 364b AO 1977 ergeben können, im finanzgerichtlichen Verfahren nicht fortwirken und deshalb letztlich ins Leere gehen können. § 76 Abs. 3 FGO diene insoweit der Effizienz des gerichtlichen Verfahrens, nicht (oder allenfalls mittelbar) aber den Interessen der beteiligten Finanzbehörde.

Diesen Ausführungen setzt das FA lediglich seine --abweichende-- Rechtsauffassung entgegen. Den umfangreichen Darlegungen zur verbleibenden Sinnhaftigkeit des § 364b AO 1977, wenn im finanzgerichtlichen Verfahren nachgereichte Erklärungen trotz versäumter Ausschlussfrist berücksichtigt werden können, ist eine Auseinandersetzung mit der vom BFH gegebenen Begründung für die Regelung in § 76 Abs. 3 FGO nicht zu entnehmen. Das FA berücksichtigt in keiner Weise die Bedeutung, die der BFH der eigenständigen Aufklärungspflicht des FG im Verhältnis zu dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung beimisst (BFH-Urteile vom 9. September 1998 I R 31/98, BFHE 186, 511, BStBl II 1999, 26, und vom 10. Juni 1999 IV R 23/98, BFHE 189, 3, BStBl II 1999, 664).

Der BFH führt in diesen Entscheidungen aus, § 76 Abs. 3 FGO könne den Ausschluss nachgereichten Vorbringens nur dann rechtfertigen, wenn die Berücksichtigung dieses Vorbringens das finanzgerichtliche Verfahren verzögern würde. Eine solche Verzögerung scheide aber schon dann aus, wenn dem FG vor der mündlichen Verhandlung ausreichend Zeit verbleibe, durch vorbereitende Maßnahmen nach Maßgabe von § 79 Abs. 1 FGO die Erklärung zu prüfen, den Kläger ggf. auf Bedenken hinzuweisen und eine Stellungnahme des FA einzuholen. Auch im Falle einer versäumten Ausschlussfrist nach § 364b AO 1977 bleibe die Verpflichtung des FG bestehen, die mündliche Verhandlung nach Maßgabe des § 79 Abs. 1 FGO vorzubereiten und alle prozessleitenden Maßnahmen zu ergreifen, um den Rechtsstreit nach Möglichkeit bis zur mündlichen Verhandlung zur Entscheidungsreife zu bringen. Der Beschleunigungszweck der Präklusionsregelung rechtfertige nur, dass das FG den Verhandlungstag nach Maßgabe seiner Geschäftslage und nicht nach dem Umfang des Aufklärungsbedarfs bestimme. Der Beschwerdebegründung lässt sich nicht entnehmen, was das FA diesen Ausführungen entgegenzusetzen hat.

b) Auch der Einwand des FA, der BFH habe mit seiner Gesetzesinterpretation außer Acht gelassen, dass dadurch gleich zwei Vorschriften der AO 1977, welche die Mitwirkung des Steuerpflichtigen gewährleisten sollten, nämlich §§ 149 Abs. 2 und 364b AO 1977, unterlaufen würden, geht am Kern der Argumentation des BFH vorbei und zeigt deshalb keinen weiteren Klärungsbedarf auf. Im Urteil in BFHE 185, 21, BStBl II 1998, 269 hat der BFH ausdrücklich festgestellt, das FG werde durch die behördliche Entscheidung, das verspätete Vorbringen des Steuerpflichtigen gemäß § 364b AO 1977 zurückzuweisen, nicht präjudiziert, sondern lediglich zu einer --eigenständigen-- Ermessensentscheidung gemäß § 76 Abs. 3 FGO veranlasst. Allein dies entspreche der aus rechtsstaatlichen und damit verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) gebotenen Trennung des Verwaltungsverfahrens einerseits und des Gerichtsverfahrens andererseits. Das FA hat sich zu diesen Ausführungen nicht geäußert. Ist angesichts der grundlegenden Aufklärungspflicht des FG nach § 76 Abs. 1 FGO die Präklusion verspäteten Vorbringens im finanzgerichtlichen Verfahren nur dann gerechtfertigt, wenn der durch das verspätete Vorbringen entstehende Klärungsbedarf auch bei angemessener Prozessleitung nicht bis zu dem in Aussicht genommenen Entscheidungstermin erfüllt werden kann, kann es nicht darauf ankommen, ob der Steuerpflichtige im Verwaltungsverfahren seinen Mitwirkungspflichten genügt hat.

c) In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Auseinandersetzung des FA mit dem Hinweis des FG, dass der Gesetzgeber selbst von einer vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderung des § 76 Abs. 3 FGO --mit dem Ziel, der Rechtsprechung des BFH entgegenzuwirken-- abgesehen hat, weil er für erforderlich hielt, den FG weiterhin ein Ermessen einzuräumen, ob sie trotz einer rechtmäßigen Fristsetzung nach § 364b AO 1977 nachträgliches Vorbringen im Klageverfahren berücksichtigen oder nicht (BRDrucks 399/01 --Beschluss--, S. 26 Nr. 19; BTDrucks 14/7471, S. 9, zu Art. 3b).

2. Unschlüssig ist das Vorbringen des FA, es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob die FG ohne entsprechendes Vorverfahren für die erstinstanzliche Bearbeitung von Steuererklärungen säumiger Steuerpflichtiger zuständig seien. Gemäß § 100 Abs. 2 FGO ist es Aufgabe des FG, auf Anfechtungsklage einen Verwaltungsakt, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, zu ändern und den Betrag in anderer Höhe festzusetzen oder die Feststellung durch eine andere zu ersetzen. Gerade bei der Anfechtung von Schätzungsbescheiden kann sich das FG der eigenen Aufklärungspflicht nicht durch Aufhebung des Bescheides und Übertragung der weiteren Sachaufklärung auf das FA entziehen (§ 100 Abs. 3 Satz 2 FGO). Die vom FA aufgeworfene Frage ist durch gesetzliche Regelung entschieden.

3. Unschlüssig ist auch das Vorbringen, es müsse grundsätzlich geklärt werden, ob durch die Möglichkeit der Zulassung verspäteten Vorbringens im Klageverfahren, das im Verwaltungsverfahren zu Recht präkludiert worden sei, das Gewaltenteilungsprinzip verletzt werde und ob das FG bei der Prüfung dieses verspäteten Vorbringens die Hilfe des FA in Anspruch nehmen und Stellungnahmen einfordern dürfe. Dazu hat bereits das FG klargestellt, dass es gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung zu beurteilen hat. Bereits daraus ergibt sich, dass es --unbeschadet der Auswirkungen auf die Kostenentscheidung-- auf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das FA im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung nicht (mehr) ankommt.

Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht ankommt, ist allerdings für die Überprüfung von Ermessensentscheidungen anerkannt. Hier ist auf den Zeitpunkt des letzten Verwaltungshandelns abzustellen, denn die Ermessensentscheidung der Behörde kann vom Gericht nur eingeschränkt überprüft werden (vgl. § 102 FGO). Die im Streitfall angefochtene Steuerfestsetzung durch den Schätzungsbescheid ist keine Ermessensentscheidung des FA, auch wenn sie --unter anderem-- auf einer solchen, nämlich der Präklusion nach § 364b AO 1977 beruht. Die Zulassung des verspäteten Vorbringens im finanzgerichtlichen Verfahren ist keine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Präklusion nach § 364b AO 1977, sondern eine eigenständige Ermessensentscheidung des FG nach § 76 Abs. 3 FGO.

4. Schließlich hat sich das FA auch nicht mit der Klärbarkeit der aufgeworfenen Fragen in einem Revisionsverfahren auseinander gesetzt. Nach der Rechtsprechung des BFH, aber auch des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist die Zulassung verspäteten Vorbringens als positive Verfahrensentscheidung des Gerichts in der Revisionsinstanz grundsätzlich als verbindlich hinzunehmen. Sie ist revisionsrechtlich nicht überprüfbar (BFH-Urteil in BFHE 185, 21, BStBl II 1998, 269; BGH-Urteil vom 21. Januar 1981 VIII ZR 10/80, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1981, 928; BAG-Urteil vom 31. Oktober 1984 4 AZR 604/82, Betriebs-Berater 1985, 799). Dies folgt letztlich daraus, dass die ursprünglich durch eine Zurückverweisung erreichbare Beschleunigung des Verfahrens endgültig nicht mehr verwirklicht werden kann, wenn das erstinstanzliche Gericht nachträgliches Vorbringen einer Partei verwertet hat (BGH-Urteil in NJW 1981, 928).



Ende der Entscheidung

Zurück