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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.03.2007
Aktenzeichen: III R 39/06
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977, BVerfGG, VwVfG, BGB


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2
EStG § 70 Abs. 4
AO 1977 § 118
AO 1977 § 165 Abs. 1
AO 1977 § 355 Abs. 1 Satz 1
BVerfGG § 78
BVerfGG § 79 Abs. 2 Satz 1
VwVfG § 38
BGB § 133
BGB § 157
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat u.a. einen im Jahr 1983 geborenen Sohn, der am 1. August 2003 eine Ausbildung zum Bankkaufmann begann.

Mit Bescheid vom 29. Juni 2004 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab Januar 2004 auf, da die Einkünfte des Sohnes voraussichtlich den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 in Höhe von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung --EStG--) überschritten. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt dieser Bescheid folgenden "wichtigen Hinweis": "Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen." Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Mit Schreiben vom 13. August 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Das BVerfG hatte dort entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).

Mit Bescheid vom 19. September 2005 setzte die Familienkasse daraufhin für die Monate Juli bis Dezember 2004 Kindergeld fest. Für die Monate Januar bis Juni 2004 lehnte sie die Festsetzung von Kindergeld ab, da mit dem Bescheid vom 29. Juni 2004 die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig aufgehoben worden sei. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 1181 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Bestandskraft des Bescheids vom 29. Juni 2004 stehe der Festsetzung von Kindergeld ab Januar 2004 nicht entgegen. Der in diesem Bescheid enthaltene "wichtige Hinweis" sei als Zusicherung der Familienkasse zu werten, dass der Bescheid jederzeit zu Gunsten des Klägers geändert werden könne, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Sohnes eine tatsächliche oder rechtliche Änderung ergeben sollte.

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 118 der Abgabenordnung (AO).

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Juni 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und der Bescheid weder aufgrund einer Zusage der Familienkasse noch nach einer Korrekturvorschrift des EStG oder der AO zu ändern ist.

1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2004 hat.

2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 29. Juni 2004 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 29. Juni 2004 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

3. Der Bescheid vom 29. Juni 2004 ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, weil § 70 Abs. 4 EStG keine Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheides ermöglicht, wenn der Jahresgrenzbetrag --wie im Streitfall-- allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).

4. Entgegen der Auffassung des FG ist der "wichtige Hinweis" in dem Bescheid vom 29. Juni 2004 nicht als Zusage der Familienkasse zu beurteilen, sie werde den Bescheid in jedem Fall ändern, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Änderungen ergeben sollten.

Der Gesetzgeber hat in der AO --anders als in § 38 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG)-- keine allgemeine Regelung über Zusicherungen getroffen und auch nicht treffen wollen. Zusagen, die über die gesetzlich geregelten Fälle (insbesondere §§ 204 ff. AO) hinausgehen, können im Regelungsbereich von Steuerbescheiden allenfalls im Einzelfall zu einer Bindung der Finanzbehörde nach dem Grundsatz von Treu und Glauben führen (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1989 X R 208/87, BFHE 159, 114, BStBl II 1990, 274, m.w.N.).

Aus einer verbindlichen Zusage außerhalb einer Außenprüfung (§§ 204 ff. AO) können nach der Rechtsprechung des BFH Rechtswirkungen nur abgeleitet werden, wenn --neben weiteren Voraussetzungen-- der Steuerpflichtige eine verbindliche Zusage beantragt und die Finanzbehörde eine solche ohne Einschränkung erteilt hat (vgl. BFH-Urteil vom 16. November 2005 X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, unter II. 2. i, m.w.N.). Im Streitfall fehlt es bereits an einem Antrag des Klägers auf verbindliche Auskunft.

Die Finanzbehörde ist ferner nur dann nach Treu und Glauben gebunden, wenn sie einem Steuerpflichtigen zusichert, einen konkreten Sachverhalt, dessen steuerrechtliche Beurteilung zweifelhaft erscheint und der für die wirtschaftliche Disposition des Steuerpflichtigen bedeutsam ist, bei der Besteuerung in einem bestimmten Sinne zu beurteilen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall ebenfalls nicht erfüllt.

Unabhängig von diesen Voraussetzungen scheitert die Annahme einer die Familienkasse bindenden Zusage im Streitfall jedenfalls auch daran, dass es hierfür am erforderlichen Bindungswillen der Familienkasse fehlt (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 5. Februar 1986 I R 124/84, BFH/NV 1986, 601). Für die Beurteilung, ob durch eine Zusage eine finanzbehördliche Bindung eingetreten ist und gegebenenfalls in welchem Umfang diese Bindung besteht, kommt es auf den durch Auslegung zu ermittelnden Sinngehalt des fraglichen finanzbehördlichen Verhaltens an. Dabei ist auf die Sicht desjenigen abzustellen, dem die Zusage erteilt worden sein soll, wobei allerdings sämtliche dem Beteiligten bekannten und erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (BFH-Urteil vom 21. Juli 1988 V R 97/83, BFH/NV 1989, 356). Der BFH kann als Revisionsgericht überprüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches --BGB--) beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (BFH-Urteil vom 17. September 1992 IV R 39/90, BFHE 169, 290, BStBl II 1993, 218).

Die Auslegung des "wichtigen Hinweises" durch das FG als Zusage hält bei Anwendung dieser Grundsätze der revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand. Weder dem Wortlaut des "wichtigen Hinweises" noch seiner Stellung im Bescheid vom 29. Juni 2004 lässt sich entnehmen, dass sich die Familienkasse hinsichtlich einer künftigen Änderung dieses Bescheids binden wollte. Die Bezeichnung als "Hinweis" zeigt vielmehr, dass die Familienkasse nur auf eine bestehende gesetzliche Korrekturmöglichkeit --im Streitfall eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG-- hinweisen und nicht eine darüber hinausgehende Verpflichtung begründen wollte. Dafür spricht zudem, dass der "wichtige Hinweis" nicht im verfügenden oder begründenden Teil des Bescheids enthalten ist, sondern im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung erteilt worden ist. Angesichts dieser aus dem Bescheid selbst erkennbaren Umstände ist unerheblich, dass dem Kläger --wie er vorträgt-- die Korrekturvorschrift des § 70 Abs. 4 EStG nicht bekannt war. Auch die Annahme des FG, jeder sachverständige Empfänger habe davon ausgehen können, dass von dem "wichtigen Hinweis" das seinerzeit beim BVerfG anhängige Verfahren in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 umfasst sei, findet in der bekanntgegebenen Regelung (vgl. § 124 Abs. 1 Satz 2 AO) keinen Anhalt.

Doch selbst wenn man im Streitfall eine die Familienkasse bindende Zusage oder ein zusageähnliches Verhalten annähme, ginge deren Bedeutung nicht über den Regelungsgehalt des § 70 Abs. 4 EStG hinaus. Denn für einen objektiven Erklärungsempfänger in der Lage des Klägers wäre erkennbar, dass sich der "wichtige Hinweis" nur auf tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge bezieht, da der Bescheid vom 29. Juni 2004 während des laufenden Kalenderjahres ergangen ist, die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Sohnes im Jahr 2004 aber erst nach dessen Ablauf feststeht.

5. Entgegen der Auffassung des Klägers ist der "wichtige Hinweis" auch nicht als Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) oder als vorläufige Festsetzung hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 165 Abs. 1 AO) zu werten.

Auch der Regelungsgehalt eines Bescheids ist erforderlichenfalls durch Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Entscheidend ist daher der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Steuerpflichtige nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339, m.w.N.). Der BFH ist auch als Revisionsgericht zur Auslegung befugt, wenn die tatsächlichen Feststellungen des FG ausreichen (BFH-Urteil vom 27. November 1996 X R 20/95, BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791, m.w.N.). Ein Steuerbescheid ist nur dann wirksam unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt, wenn die Kennzeichnung des Vorbehalts für den Steuerpflichtigen eindeutig erkennbar ist (BFH-Urteil vom 2. Dezember 1999 V R 19/99, BFHE 190, 288, BStBl II 2000, 284, m.w.N.).

Gegen eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung spricht im Streitfall bereits der Umstand, dass sich der "wichtige Hinweis" lediglich auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes bezieht. Ein Vorbehaltsvermerk erfasst jedoch stets den gesamten Bescheid (vgl. BFH-Beschluss vom 23. März 1999 III B 107/98, BFH/NV 1999, 1307, m.w.N.). Der "wichtige Hinweis" sollte vielmehr nach seinem objektiven Erklärungsgehalt --wie bereits dargelegt-- lediglich auf die gesetzliche Korrekturmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG hinweisen.

Die Familienkasse hat den Bescheid vom 29. Juni 2004 auch nicht hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes mit einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 AO versehen. Zwar braucht --wie der Kläger zutreffend ausführt-- das Wort "vorläufig" nicht in einem solchen Vermerk verwendet zu werden. Gleichwohl muss deutlich werden, dass wegen bestehender Ungewissheiten die abschließende Festsetzung noch aussteht (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 122/99, BFHE 196, 268, BStBl II 2002, 84). Im Streitfall ist wiederum aus der Bezeichnung als "Hinweis" und der Stellung des "wichtigen Hinweises" nach der Rechtsbehelfsbelehrung für einen objektiven Erklärungsempfänger erkennbar, dass die Familienkasse nur auf eine bestehende gesetzliche Korrekturmöglichkeit hinweisen wollte.

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