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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 24.01.2002
Aktenzeichen: III R 5/01
Rechtsgebiete: StPO, FGO, EStG


Vorschriften:

StPO §§ 359 ff.
FGO § 120 Abs. 1
EStG § 33
EStG § 33 Abs. 1
EStG § 33 Abs. 2 Satz 1
EStG § 33 Abs. 2 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (1996) machten sie Rechtsanwaltskosten für ein Wiederaufnahmeverfahren gemäß §§ 359 ff. der Strafprozessordnung (StPO) als außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Der Bruder der Klägerin war u.a. aufgrund eines später widerrufenen Geständnisses wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er seither verbüßt. In den folgenden Jahren wiesen verschiedene Umstände und Gutachten auf seine mögliche Unschuld hin, so z.B. die Tatsache, dass unter vergleichbaren Umständen ein weiterer Mord geschah, sowie die Erkenntnis, dass seinerzeit eine andere Täterspur von den untersuchenden Polizeibeamten und der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt worden war und dem Gericht bei der Urteilsfindung nicht vorgelegen hatte. Daher entschlossen sich die Klägerin und ihre beiden Schwestern, ein Wiederaufnahmeverfahren des Bruders zu unterstützen. Dieses Verfahren blieb in erster Instanz erfolglos. Die vor dem Oberlandesgericht (OLG) erhobene sofortige Beschwerde wurde später zurückgenommen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte die Berücksichtigung der Rechtsanwaltskosten bei der Festsetzung der Einkommensteuer ebenso wie im Einspruchsverfahren ab.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 499, veröffentlichten Urteil als unbegründet ab. Es war der Auffassung, die geltend gemachten Aufwendungen seien den Klägern nicht zwangsläufig entstanden. Es habe weder eine gesetzliche noch eine sittliche Verpflichtung für die Klägerin bestanden, das Wiederaufnahmeverfahren des Bruders finanziell zu unterstützen.

Das FG ließ die Revision zu. Die Entscheidung wurde den Klägern am 8. Dezember 2000 zugestellt.

Mit dem unmittelbar an den Bundesfinanzhof (BFH) gerichteten Schreiben vom 3. Januar 2001 --dort eingegangen am Donnerstag, den 4. Januar 2001-- haben die Kläger Revision eingelegt und mitgeteilt, Anträge und Begründung blieben einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Die Posteingangsstelle des BFH sandte die Revisionsschrift mit Schreiben vom 4. Januar 2001 --zur Post gegeben am 5. Januar 2001-- an das FG, wo sie erst am 11. Januar 2001 einging. Abgabenachricht wurde mit gleicher Post erteilt.

Mit dem am 20. März 2001 eingegangenen Schriftsatz beantragen die Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie machen geltend, in der mündlichen Verhandlung vor dem FG sei ihre Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass eine Änderung der Finanzgerichtsordnung (FGO) bevorstehe und Revisionen voraussichtlich direkt an den BFH zu adressieren seien. Da die Änderungen im Bundessteuerblatt (BStBl) noch nicht veröffentlicht gewesen seien, habe ihre Prozessbevollmächtigte am 20. Dezember 2000 beim FG in Münster angerufen, um sich zu vergewissern, an wen die Revision zu richten sei. Sie habe darauf hingewiesen, dass es sich dabei um das Urteil vom 6.(?) Dezember 2000 handele. Das FG habe ihr dazu mitgeteilt, sofern sie die Revision bis zum 31. Dezember 2000 einreiche, sei diese an das FG zu adressieren, spätere Revisionen an den BFH. Über das Gespräch existiere eine Aktennotiz. Am 3. Januar 2001 habe ihrer Prozessbevollmächtigten der Text des neuen Gesetzes noch nicht vorgelegen. Ohne den Hinweis in der mündlichen Verhandlung auf die Änderungen der FGO hätte sie die Revision noch an das FG adressiert. Der Umstand, dass sie sogar noch einmal beim FG nachgefragt habe, zeige, dass sie die Frist unverschuldet versäumt habe. Zudem dürfe ihr die lange Postlaufzeit nicht zugerechnet werden. Da der BFH die Revisionsschrift unverzüglich am 4. Januar 2001 an das FG weitergeleitet habe, hätte bis zum Ablauf der Frist ein Zeitpuffer von 5 Tagen für den Postweg bestanden. Tatsächlich sei das Schreiben aber 8 Tage unterwegs gewesen.

Zur Begründung der Revision tragen die Kläger im Wesentlichen vor: Das Urteil des FG verletze § 33 EStG. Sie hätten sich der Übernahme der für das Wiederaufnahmeverfahren des Bruders entstandenen Aufwendungen aus sittlichen Gründen nicht entziehen können. Eine derartige Verpflichtung ergebe sich schon daraus, dass sie von der Unschuld des Bruders überzeugt seien. Hätten sie sich der Übernahme der Kosten entzogen, hätte dies im sittlich-moralischen Bereich und auf gesellschaftlicher Ebene Sanktionen für sie zur Folge gehabt. Die Gründe, die auf eine mögliche Unschuld des Bruders hinwiesen, seien nach und nach auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld bekannt geworden, zumal nach der Verurteilung auch in der Presse von den Unschuldsbeteuerungen des Bruders berichtet worden sei. Da sie in der Heimatgemeinde des Bruders wohnten, sei es nicht ausgeblieben, dass die dort wohnenden Bürger die Übernahme der Kosten für ein Wiederaufnahmeverfahren durch sie als selbstverständlich erwartet hätten. Die Missachtung dieser Erwartung wäre als moralisch anstößig angesehen worden. Auch wenn sich nicht alle Geschwister dem gesellschaftlichen Druck gefügt hätten, so könne dies nicht bedeuten, dass für sie, die dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben hätten, die sittlich-moralische Verpflichtung wegfalle. So sei vor einigen Monaten (im Frühjahr 2000) der Fall im Fernsehen noch einmal dargestellt und von dem Bemühen der Geschwister um ein Wiederaufnahmeverfahren berichtet worden, woraufhin eine Nachbargemeinde spontan eine Unterschriftenaktion eingeleitet habe, um das Wiederaufnahmebegehren zu unterstützen. Der Ansicht des FG, hinsichtlich der Schuld des Bruders seien die Fakten unklar und daher nicht feststellbar, dass die Übernahme der Kosten ähnlich einer Rechtspflicht als eine selbstverständliche Handlung erwartet worden wäre, sei entgegenzuhalten, dass dann, wenn die Unschuld des Bruders für jedermann erkennbar wäre, die Geschwister sich nicht hätten um eine Wiederaufnahme bemühen müssen.

Die Kläger beantragen sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und Abänderung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides 1996 die Einkommensteuer nach einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von ... DM festzusetzen.

Das FA hält die Revision für unzulässig.

II. Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.

1. Das Urteil des FG wurde den Klägern am 8. Dezember 2000 zugestellt. Die Zulässigkeit der Revision beurteilt sich daher nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften der FGO a.F. (Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze --2.FGOÄndG-- vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757).

a) Nach § 120 Abs. 1 FGO a.F. ist die Revision beim FG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Die Revision ist ausweislich des Eingangsstempels des FG erst am 11. Januar 2001 dort eingegangen. Da die Frist für die Einlegung der Revision gegen das den Klägern am 8. Dezember 2000 zugestellte Urteil des FG am 8. Januar 2001 ablief, haben die Kläger die Frist für die Einlegung der Revision versäumt. Der Eingang des Schriftsatzes innerhalb der Frist beim BFH konnte die Revisionsfrist nicht wahren, da das Rechtsmittel --wie auch aus der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils eindeutig hervorgeht-- beim FG einzulegen war (§ 120 Abs. 1 FGO a.F.; vgl. BFH-Beschluss vom 15. Januar 1973 VIII R 14/72, BFHE 108, 18, BStBl II 1973, 246).

b) Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist ist jedoch zu entsprechen.

Bei Versäumung der Revisionsfrist ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Revisionskläger ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Es bestehen zwar Zweifel, ob die Prozessbevollmächtigte im Streitfall die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftiger Weise zu erwartende Sorgfalt bei der Einlegung des Rechtsmittels angewendet hat, weil sie die eindeutige Rechtsmittelbelehrung nicht beachtet hat, aus der unmissverständlich hervorgeht, dass die Revision im Streitfall beim FG einzulegen war (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Oktober 1995 II B 69/95, BFH/NV 1996, 336, m.w.N.).

Jedoch beruht die Nichteinhaltung der Revisionsfrist letztlich nicht auf einem den Klägern zuzurechnenden Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten. Zwar trägt der Revisionsführer das Risiko des rechtzeitigen Eingangs, wenn eine Revision fälschlich an den BFH gerichtet und von diesem unverzüglich an das FG weitergeleitet wird (BFH-Beschluss vom 20. Januar 1999 IV R 52/98, BFH/NV 1999, 1100). Aufgrund der Abgabenachricht vom 4. Januar 2001 konnte die Prozessbevollmächtigte im Streitfall aber darauf vertrauen, dass die Revisionsschrift noch vor dem 8. Januar 2001 beim FG eingehen werde. Dies wäre bei Einhaltung der normalen Postlaufzeiten auch möglich gewesen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darf der Bürger darauf vertrauen, dass die von der Post nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Werden diese Postlaufzeiten überschritten, darf das dem Bürger, der hierauf keinen Einfluss hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (BVerfG-Beschluss vom 4. Mai 1977 2 BvR 616/75, BVerfGE 44, 302). Dies gilt auch dann, wenn die überlange Postlaufzeit eine beim unzuständigen Gericht abgegebene Rechtsmittelschrift betrifft (BFH-Urteil vom 4. Juni 1992 IV R 123-124/91, BFHE 169, 132, BStBl II 1993, 125).

Den Senatsakten ist zu entnehmen, dass die Posteingangsstelle des BFH die Revisionsschrift bereits am Freitag, dem 5. Januar 2001, auf dem Postwege an das FG weitergeleitet hat, wo sie erst am 11. Januar 2001 eingegangen ist. Der Senat kann als gerichtsbekannt unterstellen, dass die Revisionsschrift bei normaler Postlaufzeit spätestens innerhalb von drei Tagen, also am Montag, dem 8. Januar 2001, und damit rechtzeitig, beim FG hätte eingehen müssen. Verzögerungen bei der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG gehen nicht zu Lasten der Kläger (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 56 Rz. 20 "Postbeförderung"; BFH-Beschluss vom 12. September 1996 III B 70/96, BFH/NV 1997, 291).

2. Die Revision ist jedoch unbegründet. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren des Bruders der Klägerin entstandenen Rechtsanwaltskosten keine zwangsläufigen Aufwendungen i.S. des § 33 EStG darstellen.

a) Nach § 33 Abs. 1 EStG wird auf Antrag die Einkommensteuer in bestimmtem Umfang ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Die Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Davon ist auszugehen, wenn die aufgeführten Gründe der Zwangsläufigkeit von außen, d.h. vom Willen der Steuerpflichtigen unabhängig, auf ihre Entschließung in einer Weise einwirken, dass sie ihnen nicht auszuweichen vermögen (vgl. BFH-Urteile vom 18. Juli 1986 III R 178/80, BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745; vom 27. Februar 1987 III R 209/81, BFHE 149, 240, BStBl II 1987, 432, und vom 27. Oktober 1989 III R 205/82, BFHE 158, 431, BStBl II 1990, 294, m.w.N.).

b) Das FG hat zu Recht angenommen, dass die Kläger nicht aufgrund einer tatsächlichen Zwangslage verpflichtet waren, die Kosten für das Wiederaufnahmeverfahren des zu einer Haftstrafe verurteilten Bruders zu übernehmen. Dass die streitigen Zuwendungen aus tatsächlichen Gründen geboten waren, haben die Kläger selbst nicht geltend gemacht; im Streitfall liegen dafür auch keine Anhaltspunkte vor.

c) Die Kosten für den mit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens betrauten Rechtsanwalt sind den Klägern auch nicht aus rechtlichen Gründen zwangsläufig i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG erwachsen. Eine Zwangsläufigkeit aus rechtlichen Gründen ist nach ständiger Rechtsprechung nur zu bejahen, wenn die Aufwendungen nicht in Erfüllung selbst gesetzter Rechtspflichten, sondern aufgrund unmittelbar aus dem Gesetz folgender Ansprüche geleistet werden (vgl. BFH-Urteil vom 23. Oktober 1987 III R 219/83, BFHE 152, 70, BStBl II 1988, 332, m.w.N.). Eine Rechtspflicht scheidet im Streitfall schon deshalb aus, weil die Kläger die geltend gemachten Aufwendungen nicht in Erfüllung gesetzlicher Unterhaltspflichten gegenüber dem Bruder der Klägerin erbracht haben.

d) Die Kläger waren auch nicht aus sittlichen Gründen verpflichtet, die strittigen Aufwendungen zu leisten. Eine Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen zur Übernahme von Verpflichtungen ist nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 22. Oktober 1996 III R 265/94, BFHE 182, 352, BStBl II 1997, 558) nur dann anzunehmen, wenn nach dem Urteil der Mehrzahl billig und gerecht denkender Mitbürger ein Steuerpflichtiger sich zu einem solchen Verhalten verpflichtet sehen kann. Sittlich zu billigende oder besonders anerkennenswerte Gründe allein genügen deshalb nicht. Es reicht vor allem nicht aus, dass die Leistung menschlich verständlich ist. Die sittlichen Motive müssen vielmehr so stark sein, dass eine andere Entscheidung kaum möglich erscheint, d.h. der Steuerpflichtige muss bei Unterlassung der Leistung nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor seinen Mitbürgern als "unsittlich" oder "unanständig" gelten (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 24. Juli 1987 III R 208/82, BFHE 150, 351, BStBl II 1987, 715, m.w.N.). Es ist daher darauf abzustellen, ob die Unterlassung der zu beurteilenden Handlung Nachteile im Sinne von Sanktionen im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene zur Folge haben kann, ob das Unterlassen also als moralisch anstößig empfunden wird. Hierbei ist auf die Gesamtumstände des Einzelfalles abzustellen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 149, 240, BStBl II 1987, 432, 433, unter 3. a). Allein das Bestehen eines nahen Verwandtschaftsverhältnisses reicht für die Annahme eines sittlichen Zwangs nicht aus.

e) Unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall kann nicht angenommen werden, dass die Kläger gesellschaftlicher Missbilligung begegnet wären, wenn sie die Rechtsanwaltskosten für das Wiederaufnahmeverfahren des zu einer Haftstrafe verurteilten Bruders nicht übernommen hätten. Ebenso wenig kann davon ausgegangen werden, dass die Übernahme der Kosten durch die Klägerin von der Gesellschaft als selbstverständliche Handlung erwartet worden wäre. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 29. November 1991 III R 192/90 (BFH/NV 1992, 457) entschieden, dass es keine Erwartungshaltung der Gesellschaft gibt, einem entfernteren Verwandten in der Seitenlinie im Strafprozess finanziell beizustehen.

Das muss umso mehr gelten, wenn es sich --wie im Streitfall-- um ein Wiederaufnahmeverfahren nach einer strafrechtlichen Verurteilung des Verwandten handelt, in das dieser --anders als in ein Strafverfahren-- nicht kraft öffentlich-rechtlicher Verpflichtung "hineingezogen" worden ist, sondern dessen Aufnahme in seinem Ermessen lag und das hier durch Rücknahme der sofortigen Beschwerde seinen Abschluss gefunden hat. Kosten für ein Wiederaufnahmeverfahren beim Steuerpflichtigen selbst stellen keine außergewöhnliche Belastung dar (BFH-Urteil vom 13. Dezember 1994 VIII R 34/93, BFHE 176, 564, BStBl II 1995, 457). Auch wenn für die Beurteilung, ob Aufwendungen zugunsten eines Dritten für einen Steuerpflichtigen aus sittlichen Gründen unabdingbar sind, das Verhalten des Unterstützten nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist (vgl. BFH-Urteil vom 23. Mai 1990 III R 145/85, BFHE 161, 73, BStBl II 1990, 895, unter II. 1. c), so kann die "Freiwilligkeit" eines Wiederaufnahmeverfahrens bei der Wertung, ob die Kostenübernahme aus sittlichen Gründen zwangsläufig war, aber nicht allein deshalb völlig außer Betracht bleiben, weil ein Dritter die Kosten getragen hat.

Dass im Streitfall der Bruder die Übernahme der Kosten für ein Wiederaufnahmeverfahren durch die Klägerin nicht als Selbstverständlichkeit erwarten konnte bzw. ihre Weigerung, diese Kosten zu tragen, von der örtlichen Gemeinschaft missbilligt worden wäre, zeigt auch das Verhalten der übrigen Geschwister des verurteilten Bruders. Denn nach dem eigenen Vortrag der Kläger haben sich diese an den strittigen Kosten nicht beteiligt. Unter diesen Umständen wäre es objektiv nicht etwa moralisch anstößig, wenn sich auch die Kläger einer Kostenübernahme entzogen hätten. Allein der einer anständigen und sittlich anerkennenswerten Gesinnung entspringende Wunsch, einem Angehörigen zu helfen, lässt es nicht gerechtfertigt erscheinen, im privaten Lebensbereich entstandene Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung teilweise der Allgemeinheit aufzubürden.

Ende der Entscheidung

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