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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 17.12.2008
Aktenzeichen: III R 6/07
Rechtsgebiete: BGB, BSHG, EStG, SGB XII


Vorschriften:

BGB § 1601
BGB § 1602
BSHG § 76 Abs. 2 Nr. 5
EStG § 74 Abs. 1 S. 1
EStG § 74 Abs. 1 S. 3
EStG § 74 Abs. 1 S. 4
SGB XII § 41 Abs. 1 Nr. 2
SGB XII § 42 S. 1 Nr. 2
SGB XII § 43 Abs. 2 S. 1
SGB XII § 94 Abs. 1 S. 3
Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Satz 1 und 3 EStG für eine Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger sind dem Grunde nach auch dann erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte nicht zum Unterhalt seines volljährigen, behinderten Kindes verpflichtet ist, weil es Grundsicherungsleistungen nach § 41 ff. SGB XII erhält.
Gründe:

I.

Der Beigeladene hat zwei 1971 und 1979 geborene, behinderte Kinder, die in seinem Haushalt leben und für die er Kindergeld erhielt. Ab 1. Januar 2005 bezogen der Beigeladene und seine Ehefrau Arbeitslosengeld II --ALG II-- (§§ 19 ff. des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch --SGB II--), auf welches das Kindergeld als Einkommen angerechnet wurde. Sie bekamen insgesamt 510,16 EUR monatlich.

Die Kinder erhielten vom Sozialamt der Stadt B (Klägerin und Revisionsbeklagte --Klägerin--) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII), auf die das Kindergeld ebenfalls angerechnet wurde.

Auf den Widerspruch des Beigeladenen, der für seine Kinder als gesetzlicher Betreuer bestellt ist, gewährte die Klägerin durch Bescheid vom 9. März 2005 rückwirkend ab 1. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für die Kinder ohne Anrechnung des Kindergeldes.

Gleichzeitig (Schreiben vom 9. März 2005) stellte die Klägerin bei der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) einen Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes, den die Familienkasse mit Bescheid vom 18. März 2005 unter Berufung auf eine Anweisung des Bundeszentralamtes für Steuern (Newsletter 1/2005) ablehnte. Danach komme eine Abzweigung nur in Betracht, wenn der Unterhaltsverpflichtete seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Eine Unterhaltspflichtverletzung sei aber nicht gegeben, solange das Kind im Haushalt des Berechtigten lebe. Der Einspruch der Klägerin war erfolglos.

Durch Urteil vom 10. August 2006 14 K 4461/05 Kg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1684) hob das Finanzgericht (FG) die Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete die Familienkasse, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG neu zu bescheiden. Das FG führte im Wesentlichen aus:

Zu Unrecht habe die Familienkasse angenommen, eine Abzweigung komme nicht in Betracht, weil der Beigeladene seiner Unterhaltsverpflichtung durch Gewährung von Unterkunft und Betreuungsleistungen nachgekommen sei. Denn etwaige Sach- und Betreuungsleistungen des Beigeladenen seien keine Unterhaltsleistungen, da sie entgegen § 1612 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht als Geldrente gezahlt würden. Einzelne Naturalleistungen könnten nicht an die Stelle der gesetzlich vorgesehenen monatlichen Geldleistungen treten.

Zwar habe der Beigeladene seine Unterhaltspflicht nicht verletzt, so dass die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für eine Abzweigung nicht gegeben seien. Es sei aber der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt. Unstreitig sei der Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig gewesen. Dass tatsächlich kein Unterhalt gezahlt werde, sei nicht erforderlich. Zudem seien die Kosten für die Unterkunft der Kinder von den Leistungen der Grundsicherung für die Kinder (§ 42 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) erfasst, sodass dem Beigeladenen insoweit keine Aufwendungen für die Kinder entstehen könnten. Grundsätzlich sei somit eine Abzweigung möglich. Die Familienkasse habe daher erneut über den Abzweigungsantrag unter Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens zu entscheiden. Da nach § 76 Abs. 2 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) das Kindergeld in Höhe von 10,25 EUR nicht als Einkommen eines Sozialhilfeempfängers angerechnet werde, könne sich auch im Streitfall die Frage stellen, ob bei Betreuung der Kinder eine Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin nur teilweise geboten sei. Außerdem werden Art und Umfang etwaiger Unterhaltsleistungen des Beigeladenen zu ermitteln sein.

Mit ihrer Revision trägt die Familienkasse vor, nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG sei das Kindergeld nur dann abzuzweigen, wenn kein Unterhalt geleistet werde. Eine Abzweigung sei jedoch nicht möglich, wenn die Eltern Unterhaltsleistungen mindestens in Höhe des Kindergeldes erbringen würden. Der Beigeladene leiste aber durch die Aufnahme der Kinder in seinen Haushalt Unterhalt, der mindestens die Höhe des Kindergeldes erreiche. Sofern hieran Zweifel bestünden, sei der Umfang der Aufwendungen noch zu ermitteln.

Die Familienkasse beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise

die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1.

Das FG hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach gegeben sind.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Sätze 1 und 3 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

Eine Abzweigung setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichtet ist, aber keinen Unterhalt leisten will, keinen Unterhalt leisten kann oder als Unterhalt nur einen geringeren Betrag als das Kindergeld zu leisten braucht.

Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 BGB aber nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche Einkünfte, die geeignet sind, den gegenwärtigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers sicher zu stellen. Dazu zählen auch Grundsicherungsleistungen, soweit sie nicht subsidiär sind. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen i.S. des § 16 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch unter 100 000 EUR liegt. Daher sind im Streitfall die Grundsicherungsleistungen für die Kinder des Beigeladenen nicht nachrangig und mindern den unterhaltsrechtlichen Bedarf (Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 20. Dezember 2006 XII ZR 84/04, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht --FamRZ-- 2007, 1158). Sie führen nicht zu einem gesetzlichen Übergang der Unterhaltsansprüche der Kinder gegen ihre Eltern auf den Leistungsträger (§ 94 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XII), sondern lassen die Unterhaltspflicht der Eltern in diesem Umfang erlöschen (Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 8. Februar 2007 B 9b SO 5/06 R, FamRZ 2008, 51). Da die Grundsicherungsleistungen das Existenzminimum der Kinder sichern, braucht der Beigeladene seinen Kindern keinen Unterhalt zu zahlen.

Gleichwohl bleibt der Beigeladene dem Grunde nach zum Unterhalt gegenüber seinen Kindern verpflichtet, auch wenn die Unterhaltsansprüche der Kinder nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII aufgrund seiner Einkommensverhältnisse unberücksichtigt bleiben. Würde er Unterhalt leisten, wären die Leistungen auf die Grundsicherung anzurechnen (BGH-Urteil in FamRZ 2007, 1158). Daher ist der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG (keine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit) erfüllt.

2.

Ebenfalls im Ergebnis zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass der Beigeladene durch die Aufnahme der Kinder in den elterlichen Haushalt keine Unterhaltsleistungen mindestens in Höhe des Kindergeldes erbracht hat, die eine Abzweigung an die Klägerin ausschließen würden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind zwar bei der Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den --dem Kind anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden-- Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, auch geringe Unterhaltsleistungen der Eltern zu berücksichtigen. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, wird eine Abzweigung nicht als ermessensgerecht angesehen (Senatsurteil vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).

Dem Beigeladenen sind durch die Aufnahme der Kinder in seinen Haushalt aber keine Unterhaltsleistungen entstanden. Den Unterhalt für die Kinder hat die Klägerin durch die Leistungen der Grundsicherung, die auch Unterkunft und Verpflegung umfassen, erbracht. Der Beigeladene und seine Frau erhalten ALG II, das nur Regelleistungen sowie Unterkunft und Heizung für ihren Bedarf umfasst. Da die Kinder volljährig sind und selbst Leistungen der Grundsicherung beziehen, enthält das ALG II für den Beigeladenen und seine Ehefrau keinen Zuschlag für Kinder. Der Beigeladene und seine Ehefrau verfügen deshalb nur über die für ihren Unterhalt notwendigen finanziellen Mittel. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beigeladene, der als Betreuer für seine Kinder eingesetzt ist, den Unterhalt der Familie aus den erhaltenen Mitteln (ALG II und Grundsicherung) bestreitet (sog. Wirtschaften aus einem Topf). Für die Annahme, der Beigeladene könnte aus seinem ALG II Leistungen für die --über eigene Mittel verfügenden-- Kinder erbringen, ist nichts ersichtlich.

3.

Zu Unrecht hat das FG jedoch unter Berufung auf § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG (keine Anrechnung des Kindergeldes in Höhe von 10,25 EUR als Einkommen eines Sozialhilfeempfängers) angenommen, bei Betreuung der Kinder könne eine Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin nur teilweise geboten sein. Denn diese Regelung des nur bis 31. Dezember 2004 geltenden BSHG ist weder für das ALG II nach SGB II noch für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII übernommen worden. Vielmehr gilt das Kindergeld für ein minderjähriges Kind als Einkommen des Kindes (§ 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II, § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), und das Kindergeld für volljährige Kinder, soweit es nicht an das Kind abgezweigt ist, als Einkommen des Kindergeldberechtigten (BSG-Urteil in FamRZ 2008, 51, m.w.N.). Bei der Ermessensentscheidung, in welcher Höhe das Kindergeld an den --dem Kind anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden-- Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, sind Betreuungsleistungen nur insoweit zu berücksichtigen, als dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen entstanden sind.

Ob im Streitfall allein eine Abzweigung des vollen Kindergeldes in Betracht kommt, kann dahinstehen. Da nur die Familienkasse, nicht auch die Klägerin Revision eingelegt hat, kann der Senat nur die Revision der Familienkasse zurückweisen, nicht aber das FG-Urteil aufheben und zugunsten der Klägerin durcherkennen. Die Familienkasse hat somit erneut über den Antrag der Klägerin auf Abzweigung zu entscheiden.

Bei der Ausübung des Ermessens wird die Familienkasse zu berücksichtigen haben, dass der Beigeladene aufgrund seiner geringen finanziellen Mittel kaum Aufwendungen für die Kinder erbracht haben kann. Unterhaltsleistungen des Beigeladenen an seine Kinder hätten im Übrigen zur Folge, dass diese Leistungen auf die Grundsicherungsleistungen für die Kinder anzurechnen wären (BGH-Urteil in FamRZ 2007, 1158). Für den Beigeladenen wäre die Auszahlung des Kindergeldes auch keine finanzielle Entlastung, da es als Einkommen auf das ALG II anzurechnen wäre (BSG-Urteil vom 6. Dezember 2007 B 14/7b AS 54/06 R, FamRZ 2008, 886). Das Kindergeld käme damit letztlich der das ALG II auszahlenden Arbeitsgemeinschaft (ARGE) zugute. Zweck des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG ist es aber, das Kindergeld an die Person oder Einrichtung auszuzahlen, die anstelle des Kindergeldberechtigten die Kosten des Unterhalts trägt (vgl. Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753). Wird der Kindergeldberechtigte aber trotz zusätzlichen kindbedingten Aufwands wegen der Kürzung des ALG II durch die Auszahlung des Kindergeldes nicht entlastet, entspräche es sachgerechtem Ermessen, das Kindergeld in voller Höhe an die Klägerin, die den Unterhalt für die Kinder trägt, abzuzweigen.

Ende der Entscheidung

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