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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 02.06.2005
Aktenzeichen: III R 86/03
Rechtsgebiete: GG, EStG
Vorschriften:
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2 | |
GG Art. 12a | |
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 | |
EStG § 32 Abs. 5 Satz 1 | |
EStG § 33a | |
EStG § 33b | |
EStG § 62 Abs. 1 | |
EStG § 63 Abs. 1 Satz 1 | |
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2 |
Gründe:
I.
Der am 9. Mai 1969 geborene Sohn des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) leistete in der Zeit vom 1. April 1991 bis zum 31. März 1992 seinen Wehrdienst. Seit einem Verkehrsunfall am 9. April 1997 ist er schwerbehindert.
Im März 2002 beantragte der Kläger für seinen Sohn Kindergeld. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Anspruch auf Kindergeld, weil die Behinderung des Sohnes nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei.
Einspruch und Klage, mit denen der Kläger geltend machte, die Altersgrenze von 27 Jahren sei wegen des von seinem Sohn geleisteten Wehrdienstes um die Dauer dieses Wehrdienstes hinausgeschoben, blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) war der Auffassung, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehe kein Anspruch auf Kindergeld, wenn die Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Die vom Kläger begehrte entsprechende Anwendung des § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG, nach dem für in Ausbildung befindliche Kinder, die den gesetzlichen Grundwehrdienst oder einen entsprechenden Dienst geleistet hätten, Anspruch auf Kindergeld über das 27. Lebensjahr hinaus bestehe, komme nicht in Betracht. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 275 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er führt im Wesentlichen aus:
Der Ausschluss des Kindergelds für behinderte Kinder, deren Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei, verstoße gegen das Diskriminierungsverbot von Behinderten in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. Art. 12a GG (Wehr- und Dienstpflicht). § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG sei daher verfassungskonform auszulegen. Bei dem für den Eintritt der Behinderung maßgeblichen Alter sei die Wehrdienstzeit seines Sohnes hinzuzurechnen. Er müsse deshalb so behandelt werden, als ob die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Komme eine "verfassungskonforme Auslegung des Verweises in § 32 Abs. 5 Satz 1 auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG" nicht in Betracht, sei das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Familienkasse zu verpflichten, für den Sohn ab März 2002 Kindergeld zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das FG hat rechtsfehlerfrei einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld für seinen behinderten Sohn verneint.
1. Nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, gewährt, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Seit der Änderung durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552, 2553) mit Wirkung ab 1. Januar 2000 wird außerdem ausdrücklich verlangt, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt, weil die Behinderung des Sohnes des Klägers durch den Unfall am 9. April 1997 und damit nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
2. Entgegen der Auffassung des Klägers besteht keine Veranlassung, durch eine entsprechende Anwendung des § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG die Höchstaltersgrenze, innerhalb derer die Behinderung eingetreten sein muss, um den Zeitraum des geleisteten Wehrdienstes zu verlängern.
a) Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Eine Gesetzeslücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Davon zu unterscheiden ist ein sog. rechtspolitischer Fehler, der vorliegt, wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber --gemessen an dem mit ihr verfolgten Zweck-- nicht als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist. Eine Auslegung gegen den Wortlaut kommt zudem nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht, wenn nämlich die auf den Wortlaut abgestellte Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Dezember 2002 III R 33/01, BFHE 201, 379, BStBl II 2003, 322, m.w.N.).
b) Da der Gesetzeswortlaut eindeutig ist, die Rechtsfolgen vom Gesetzgeber beabsichtigt waren und auch zu keinem sinnwidrigen Ergebnis führen, kommt eine erweiternde Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht in Betracht.
Mit der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs ab 1996 sollten das sozialrechtliche Kindergeldrecht und das steuerrechtliche Kinderfreibetragsrecht harmonisiert werden. Der Gesetzgeber wollte an die frühere Rechtsprechung zum sozialrechtlichen Kindergeld anknüpfen, nach der ein Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind nur bestand, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten war (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832, und vom 16. April 2002 VIII R 62/99, BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738, jew. m.w.N.).
Mit der Verankerung der Höchstaltersgrenze von 27 Jahren in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durch das Gesetz zur Familienförderung hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestätigt (BTDrucks 14/1513, S. 14; BFH-Urteile in BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832, und in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738).
c) Im Übrigen liegt der Regelung in § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG auch kein vergleichbarer Sachverhalt oder Rechtsgedanke zugrunde, der eine entsprechende Anwendung rechtfertigte.
Nach § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG werden arbeitslose Kinder unter 21 Jahren (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG) oder in der Ausbildung befindliche Kinder unter 27 Jahren (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und b EStG), die den gesetzlichen Grundwehrdienst oder eine entsprechende Tätigkeit geleistet haben, bei einer fortdauernden Berufsausbildung für einen der Dauer dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das 21. oder 27. Lebensjahr hinaus berücksichtigt.
Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich dafür schaffen, dass Kinder während der Leistung ihres Wehr- oder Zivildienstes steuerlich nicht berücksichtigt werden (BTDrucks 13/1558, S. 155 f.). Der Gesetzgeber trägt damit dem Umstand Rechnung, dass sich die Ausbildung verzögert, weil das Kind während der Dauer des Grundwehrdienstes oder eines entsprechenden Dienstes einer Berufsausbildung nicht nachgehen konnte (BFH-Beschluss vom 14. Oktober 2002 VIII R 68/01, BFH/NV 2003, 460, m.w.N.). Die entsprechende Verlängerung des Berücksichtigungszeitraums soll diese Ausbildungsverzögerung ausgleichen (vgl. Dürr in Frotscher, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 101; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32 EStG Rz. 722).
Dagegen soll durch die Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ausgeschlossen werden, dass Kinder, für die --z.B. wegen Abschluss der Ausbildung oder wegen Überschreitens der Altersgrenze-- kein Anspruch auf Kindergeld mehr bestand, durch eine später eingetretene Behinderung wieder als Kinder zu berücksichtigen sind (BTDrucks 14/1513, S. 14; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 54).
Der Unfall vom 9. April 1997, der nach Ablauf des 27. Lebensjahres des Sohnes eingetreten ist, hat keinen Bezug zu dem von April 1991 bis März 1992 geleisteten Wehrdienst. Auch fiel der Zeitpunkt des Unfalls nicht in einen Zeitraum, in dem nach § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG über das 27. Lebensjahr hinaus Anspruch auf Kindergeld bestand. Denn der Zeitraum für die Gewährung verlängert sich nur dann, wenn sich das Kind über das 27. Lebensjahr hinaus in Ausbildung befindet. Diese Voraussetzung lag im Streitfall nicht vor, weil der Sohn des Klägers laut Einspruchsentscheidung seine Ausbildung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres abgeschlossen hatte. Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern der --Jahre vor dem Unfall geleistete Wehrdienst-- es rechtfertigen sollte, einen Kindergeldanspruch zu begründen.
3. Die vom Kläger geforderte verfassungskonforme Auslegung scheidet aus, weil die Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist.
Die vom Kläger gerügte Diskriminierung von Steuerpflichtigen, deren Kinder Wehrdienst geleistet haben, ist nicht erkennbar. Eine Behinderung, die nach Vollendung des 27. Lebensjahres durch einen Verkehrsunfall eintritt, steht in keinem Zusammenhang mit dem Jahre zuvor geleisteten Wehrdienst. Ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung danach, ob das Kind Wehrdienst geleistet hat oder nicht, liegt nicht vor.
§ 33 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verletzt auch nicht das Prinzip der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit. Denn wenn für ein behindertes Kind, dessen Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, kein Anspruch auf Kindergeld oder Kinderfreibetrag besteht, sind Unterhalts- und sonstige behinderungsbedingte Aufwendungen nach §§ 33a und 33b EStG zu berücksichtigen (vgl. z.B. Dürr, a.a.O., § 32 Rz. 76). Dadurch ist gewährleistet, dass das für die Existenzsicherung auch eines über 27 Jahre alten Kindes erforderliche Einkommen von der Besteuerung freigestellt ist.
Ende der Entscheidung
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