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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 25.10.2007
Aktenzeichen: III R 90/03
Rechtsgebiete: EStG, Genfer Konvention, HumHiG


Vorschriften:

EStG § 62
Genfer Konvention Art. 24 Abs. 1 Buchst. b
Genfer Konvention Art. 29
HumHiG § 1
HumHiG § 2
Weder aus Art. 24 noch aus Art. 29 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention) ergibt sich ein Anspruch auf Kindergeld.
Gründe:

I.

Das Thüringer Landesverwaltungsamt erteilte der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) sowie ihren in den Jahren 1987 und 1994 geborenen Kindern im November 2000 eine Zusage für die Aufnahme als jüdische Zuwanderer aus der "Sowjetunion" in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Das Bundesverwaltungsamt (BVA) in Köln übermittelte die Aufnahmezusage an die Botschaft der Bundesrepublik in Wilna mit dem Hinweis, dass Visa unter bestimmten Auflagen erteilt werden könnten.

Auf entsprechenden Antrag erhielten die Klägerin und ihre Kinder am 7. August 2001 ein Visum, das für die Zeit vom 20. August 2001 bis zum 19. November 2001 galt. Am 27. August 2001 reiste die Klägerin mit ihren Kindern in die Bundesrepublik ein.

Am 7. November 2001 erteilte das Ausländeramt der Klägerin und ihren Kindern jeweils eine "Bescheinigung über den Status als Kontingentflüchtling", in der festgestellt wird, dass sie die Rechtsstellung als Flüchtling nach § 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHiG) haben.

Die Klägerin beantragte am 15. November 2001 unter Vorlage dieser Bescheinigungen Kindergeld für ihre beiden Kinder. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) setzte mit Bescheid vom 21. November 2001 das Kindergeld ab November 2001 fest. Den Einspruch, mit dem die Klägerin unter Hinweis auf den Einreisetag das Kindergeld bereits für die Monate August bis Oktober 2001 begehrte, wies die Familienkasse zurück.

Das Finanzgericht (FG) setzte unter Änderung des Kindergeldbescheids vom 21. November 2001 das Kindergeld für die beiden Kinder bereits ab August 2001 fest. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2004, 350 veröffentlicht.

Das FG führte im Wesentlichen aus: Der Ausschluss des Kindergeldes für Ausländer ohne Aufenthaltstitel gelte nicht für anerkannte Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention) vom 1. September 1953 (BGBl II 1953, 559). Nach § 1 Abs. 1 HumHiG vom 22. Juli 1980 (BGBl I 1980, 1057) i.d.F. vom 1. November 1997 (BGBl I 1997, 2584), das auf jüdische Zuwanderer entsprechend anzuwenden sei, habe die Klägerin die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Konvention. Zum Nachweis seiner Rechtsstellung erhalte der Flüchtling eine amtliche Bescheinigung (§ 2 HumHiG). Eine amtliche Bescheinigung über den Nachweis der Rechtsstellung als Flüchtling sei zwar Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld. Den Status als Flüchtling i.S. des § 1 Abs. 1 HumHiG habe die Klägerin aber bereits bei der Einreise in die Bundesrepublik mit dem entsprechenden, nach Vorlage der Aufnahmeerklärung beantragten Visum erhalten. Eine amtliche Bescheinigung, mit der die Rechtsstellung als Flüchtling nachgewiesen werde, sei bereits die Aufnahmezusage des Thüringer Landesverwaltungsamts und der Einreisevermerk vom 27. August 2001 auf dem Visum und nicht erst die deklaratorische Bescheinigung des Ausländeramtes vom 7. November 2001. Diese Bescheinigung sei keine Statusentscheidung, der eine für das Gericht bindende Tatbestandswirkung zukomme.

Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die nicht vertretene Klägerin hat sich nicht geäußert.

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Zu Unrecht hat das FG Kindergeld für die Monate August bis Oktober 2001 festgesetzt.

1. Nach § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haben Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld, wenn sie im Besitz eines dort aufgeführten Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz oder --bei vor dem Jahr 2005 verwirklichten Sachverhalten-- einer Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz (AuslG) 1990 sind (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2007 III R 93/03, BFH/NV 2007, 1234). Die Klägerin hatte zwar nach § 1 Abs. 3 HumHiG Anspruch auf eine --zum Bezug von Kindergeld berechtigende-- Aufenthaltserlaubnis. Diese war im Zeitraum August bis Oktober 2001 aber noch nicht erteilt.

2. Entgegen der Auffassung des FG ergibt sich aus den für jüdische Zuwanderer entsprechend anwendbaren Vorschriften des HumHiG i.V.m. der Genfer Konvention kein Anspruch auf Kindergeld ab dem Zeitpunkt der Einreise.

a) Im Streitjahr 2001 richteten sich die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion nicht nach dem damals geltenden AuslG 1990, sondern aufgrund eines Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 nach den entsprechend anwendbaren Vorschriften des HumHiG (vgl. Runderlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 30. April 2001, Niedersächsisches Ministerialblatt 2001, 411).

Danach war zunächst bei der Auslandsvertretung ein Aufnahmeantrag zu stellen, der an das BVA in Köln und von hier an die zentralen Aufnahmestellen der Bundesländer weitergeleitet wurde. Erteilte die jeweilige Landesbehörde eine Aufnahmezusage, wies das BVA die diplomatischen Vertretungen an, entsprechend § 1 Abs. 1 HumHiG ein Einreisevisum (Sichtvermerk im Pass) auszustellen. Der aufgrund einer Aufnahmezusage und eines Einreisevisums in der Bundesrepublik aufgenommene jüdische Zuwanderer genoss entsprechend § 1 Abs. 1 HumHiG die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 Genfer Konvention. Zum Nachweis seiner Rechtsstellung als Flüchtling bekam er entsprechend § 2 HumHiG eine amtliche Bescheinigung. Die zuständige Ausländerbehörde hatte entsprechend § 1 Abs. 3 HumHiG eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (ohne die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit einschränkende Auflage) zu erteilen.

b) Die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 Genfer Konvention berechtigt einen Flüchtling jedoch nicht zum Bezug von Kindergeld.

aa) Nach Art. 24 Abs. 1 Buchst. b (i) (ii) Genfer Konvention sind Flüchtlinge zwar hinsichtlich der gesetzlichen Bestimmungen zur sozialen Sicherheit (unter anderem gesetzliche Bestimmungen bezüglich des Familienunterhalts) Deutschen gleichzustellen, jedoch vorbehaltlich solcher Leistungen oder Teilleistungen, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werden.

Einen Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) i.d.F. vor 1996 aus Art. 24 Genfer Konvention hat das Bundessozialgericht (BSG) verneint, weil das Kindergeld --unabhängig davon, ob es überhaupt zur sozialen Sicherheit (insbesondere zum "Familienunterhalt") gehöre-- ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werde (Urteile vom 15. Dezember 1992 10 RKg 11/92, SozR 3-5870 § 1 Nr. 2, zu Art. 24 Genfer Konvention, und vom 3. Dezember 1996 10 RKg 8/96, SozR 3-5870 § 1 Nr. 12, zu dem wortgleichen Art. 24 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen --StlÜbK-- vom 28. September 1954, verkündet mit Gesetz vom 12. April 1976, BGBl II 1976, 473).

bb) Durch die Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch das Jahressteuergesetz 1996 hat sich im Ergebnis an dieser Beurteilung nichts geändert. Auch wenn das Kindergeld seitdem im Regelfall nach steuerrechtlichen Vorschriften gewährt wird, ergibt sich kein Anspruch auf Kindergeld aus Art. 29 Genfer Konvention (offen gelassen im Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 16. Oktober 1998 VI B 192/98, BFH/NV 1999, 310, zu dem gleichlautenden Art. 29 StlÜbK).

Nach Art. 29 Genfer Konvention erheben die Vertragsstaaten von den als Flüchtling anerkannten Ausländern keine anderen oder höheren Gebühren, Steuern oder sonstige Abgaben gleich welcher Art oder Bezeichnung, als von ihren Staatsangehörigen unter entsprechenden Voraussetzungen jetzt oder künftig erhoben werden. Durch die Nichtgewährung von Kindergeld werden von den Flüchtlingen jedoch keine höheren Steuern erhoben als von Deutschen.

Nach § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich des Betreuungsbedarfs im gesamten Veranlagungszeitraum 2001 entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder das Kindergeld bewirkt. Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Das Kindergeld wird im laufenden Kalenderjahr als Steuervergütung monatlich gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG). Wird die gebotene Freistellung durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt, sind bei der Veranlagung zur Einkommensteuer die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abzuziehen (§ 31 Satz 4 EStG).

Erzielt der Flüchtling einkommensteuerpflichtige Einkünfte, werden das steuerliche Existenzminimum des Kindes und der Betreuungsbedarf bei der Einkommensteuerveranlagung durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG von der Einkommensteuer freigestellt. Der Flüchtling wird daher nicht höher besteuert als ein Deutscher, bei dem die Freistellung von der Einkommensteuer ganz oder teilweise durch das Kindergeld bewirkt wird. Soweit das Kindergeld zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und des Betreuungsbedarfs erforderlich ist, beschränkt sich seine Funktion "auf eine als vorläufiger 'Abschlag' wirkende Steuervergütung" (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005 Beilage 1, 33, unter C.II.2. b).

Eine höhere Besteuerung des Flüchtlings ergibt sich auch nicht dadurch, dass sein Einkommen nicht schon während des Veranlagungszeitraums monatlich von der Einkommensteuer freigestellt wird. Soweit die gebotene steuerliche Freistellung durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt wird, kann dies zwar weder im Lohnsteuerermäßigungsverfahren noch bei den Vorauszahlungen (§ 37 Abs. 3 Satz 11 EStG) berücksichtigt werden. Bei Steuerpflichtigen aber, die keinen Anspruch auf Kindergeld haben, wirken sich die Kinderfreibeträge über die Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte bereits bei der Bemessung der Lohnsteuer aus (§ 39a Abs. 1 Nr. 6 EStG). Entsprechend sind in diesen Fällen auch die Vorauszahlungen unter Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen festzusetzen (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 9. März 1998, BStBl I 1998, 347 Rz 25).

Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient, besteht kein Anspruch nach Art. 29 Genfer Konvention. Denn insoweit hat das Kindergeld eine von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die steuerrechtliche Belastung unabhängige sozialrechtliche Funktion (BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005 Beilage 1, 33, unter C.II.1., und vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005 Beilage 3, 260, unter B.I.2.). Auch wenn das Kindergeld als einheitlicher Betrag gezahlt wird, ist rechtlich --insbesondere hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Vorgaben-- zu unterscheiden, ob es zur Freistellung des Existenzminimums des Kindes erforderlich ist und im Ergebnis zu einer Minderung der Einkommensteuer führt oder ob es als Sozialleistung der Förderung der Familie dient (Beschlüsse des BVerfG in BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005 Beilage 1, 33, unter C.II.2. b., und in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005 Beilage 3, 260, unter B.I.2.).

Ein Anspruch aus Art. 24 Abs. 1 Buchst. b (i) (ii) Genfer Konvention auf das Kindergeld als allgemeine Sozialleistung scheidet aus, weil es --unabhängig davon, ob es überhaupt zur sozialen Sicherheit (insbesondere zum "Familienunterhalt") gehört-- ebenso wie das Kindergeld nach dem BKGG ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten wird (vgl. BSG-Urteile in SozR 3-5870 § 1 Nr. 2, und in SozR 3-5870 § 1 Nr. 12).

c) Da sich aus der Genfer Konvention kein Anspruch auf Kindergeld ergibt, ist im Streitfall unerheblich, ob die Rechtsstellung der Klägerin als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention bereits mit der Aufnahmezusage i.V.m. der Erteilung des Visums oder erst durch die amtliche Bescheinigung des Ausländeramtes vom 7. November 2001 begründet wurde.

3. Offen lassen kann der Senat im Streitfall, ob Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention nach Art. 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953 (BGBl II 1956, 507) i.V.m. Art. 2 des Zusatzprotokolls einen Anspruch auf Kindergeld haben, sofern sie seit mindestens sechs Monaten in der Bundesrepublik wohnen (so Abschn. 62.4.2 Abs. 1 der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des EStG, Stand Juni 2007, BStBl I 2007, 489). Denn im Zeitraum August bis Oktober 2001 war die Klägerin noch keine sechs Monate in der Bundesrepublik.

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