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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 09.07.2007
Aktenzeichen: III S 1/07
Rechtsgebiete: EStG, FGO, ZPO, BVerfGG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2
EStG § 70 Abs. 4
FGO § 47 Abs. 1 Satz 1
FGO § 142 Abs. 1
ZPO § 114
ZPO § 119 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG § 78
BVerfGG § 79 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger, Revisionsbeklagte und Antragsteller (Kläger) hat einen im Jahr 1980 geborenen Sohn, der sich bis Juni 2004 in Ausbildung zum technischen Zeichner befand und ab 15. Oktober 2004 Maschinenbau studierte.

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom 10. Dezember 2004 den Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld für seinen Sohn für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 ab, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes in dieser Zeit den anteiligen Jahresgrenzbetrag von (9/12 von 7 680 € =) 5 760 € (§ 32 Abs. 4 Sätze 1 und 7 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung) überschritten. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse zurück; der Kläger erhob keine Klage.

Im Juni 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) erneut Kindergeld für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004. Das BVerfG hatte in dem zitierten Beschluss entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Die Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23. August 2005 ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge des Sohnes lägen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge unter dem anteiligen Grenzbetrag. Die Bestandskraft des Bescheids vom 10. Dezember 2004 stehe der Festsetzung von Kindergeld nicht entgegen, da der Bescheid nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren sei.

Die Familienkasse hat gegen das FG-Urteil Revision eingelegt. Der Kläger beantragt, ihm Prozesskostenhilfe (PKH) für das Revisionsverfahren zu gewähren.

II. Der Antrag hat keinen Erfolg.

1. Nach § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung sind die Verhältnisse und der Kenntnisstand im Zeitpunkt der Entscheidung über den PKH-Antrag maßgeblich (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. Dezember 2006 VI S 15/05 (PKH), BFH/NV 2007, 702, m.w.N.).

Nach § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO ist zwar die Erfolgsaussicht im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich nicht zu prüfen, wenn --wie im Streitfall-- der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. Ausnahmsweise ist § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO jedoch aufgrund einer teleologischen Reduktion nicht anwendbar, wenn sich nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils die rechtlichen Voraussetzungen --z.B. durch eine Gesetzesänderung oder wie im Streitfall durch eine (Grundsatz-)Entscheidung des BFH-- geändert haben (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 142 FGO Rz 48, m.w.N.; Stein/Jonas/ Bork, ZPO, 22. Aufl., § 119 Rz 23; MünchKommZPO/Wax, 5. Aufl., § 119 Rz 38). § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO liegt der Gedanke zugrunde, dass das erstinstanzliche Urteil eine Vermutung dafür begründet, dass die Verteidigung des Rechtsmittelbeklagten hinreichende Erfolgsaussicht hat und nicht mutwillig ist (vgl. Zöller/Philippi, ZPO, 26. Aufl., § 119 Rz 56; Stein/Jonas/ Bork, ZPO, 22. Aufl., § 119 Rz 23). Diese Vermutung ist jedoch widerlegt, wenn sich nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils die rechtlichen Voraussetzungen geändert haben.

2. Die Rechtsverteidigung des Klägers hat keine Aussicht auf Erfolg.

Dem Kläger kann für die Monate Januar bis Juli und Oktober bis Dezember 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden und nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern ist.

a) Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird ein volljähriges Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG nicht für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr (2004) hat. Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um ein Zwölftel (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).

b) Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 10. Dezember 2004 die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes in diesem Zeitraum den anteiligen Jahresgrenzbetrag in Höhe von 5 760 € überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO Klage erhoben hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Ihm kommt nach seinem Regelungsgehalt (hierzu BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88) für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 Bindungswirkung zu.

Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 10. Dezember 2004 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

c) Der Bescheid vom 10. Dezember 2004 ist entgegen der Auffassung des FG nicht gemäß § 70 Abs. 4 EStG zu ändern. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben. Dies gilt auch dann, wenn --wie im Streitfall-- der anteilige Grenzbetrag nur aufgrund des Abzugs der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten wird.

Ende der Entscheidung

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