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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 24.09.2007
Aktenzeichen: III S 14/07 (PKH)
Rechtsgebiete: FGO, ZPO
Vorschriften:
FGO § 142 Abs. 1 | |
ZPO § 114 Satz 1 |
Gründe:
Der Antrag der Klägerin und Antragstellerin (Klägerin) auf Prozesskostenhilfe (PKH) für das beabsichtigte Revisionsverfahren --das Finanzgericht (FG) hat die Revision zugelassen-- und auf Beiordnung ihres Rechtsanwalts X als Prozessbevollmächtigten ist begründet.
1. Nach der Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ist die Klägerin nicht in der Lage, die Kosten für das beabsichtigte Revisionsverfahren aufzubringen (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- i.V.m. § 114 Satz 1, § 115, § 117 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--).
2. Das Begehren der Klägerin verspricht auch hinreichende Aussicht auf Erfolg i.S. von § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO.
Diese Voraussetzung ist nicht nur gegeben, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der angestrebten Revision besteht, sondern auch dann, wenn der Rechtsstreit schwierige Rechtsfragen aufwirft, die erst im Revisionsverfahren abschließend zu klären sind (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. Januar 2006 VIII S 6/05 (PKH), BFH/NV 2006, 801, m.w.N.).
Im Streitfall ist zu entscheiden, ob der nicht erwerbstätigen Klägerin, die mit ihren beiden Kindern in Deutschland wohnt, das Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) ungekürzt zusteht, obwohl ihr geschiedener, in der Schweiz beschäftigter Ehemann Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften der Schweiz hat, diese Leistungen aber nicht beantragt.
Welcher Anspruch vorrangig ist und ob ein Anspruch auch dann Vorrang hat, wenn er nicht geltend gemacht wird, richtet sich im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz seit 1. Juni 2002 --dem Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (BGBl II 2002, 1692)-- nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 28 vom 30. Januar 1997, S. 1) und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 (VO Nr. 574/72) des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (konsolidierte Fassung, ABlEG Nr. L 28 vom 30. Januar 1997, S. 1).
Nach Art. 73 VO Nr. 1408/71 hat ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat arbeitet, für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates, als ob die Familienangehörigen im Gebiet des Beschäftigungsstaates wohnten. Als Arbeitnehmer in der Schweiz hat der geschiedene Ehemann der Klägerin daher Anspruch auf Familienleistungen für seine in Deutschland wohnenden Kinder.
Ansprüche auf Familienleistungen (wie das Kindergeld) sind in einigen Ländern an eine Erwerbstätigkeit geknüpft --so in der Schweiz--, in anderen Ländern --wie in Deutschland-- hängt der Anspruch auf Kindergeld nicht von einer Berufstätigkeit ab.
Art. 76 VO Nr. 1408/71 regelt die Konkurrenzfälle, in denen Familienleistungen im Wohnland der Kinder aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen sind. Nach Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 ruht der Anspruch auf Familienleistungen des Landes, in dem die Kinder nicht wohnen, bis zur Höhe des im Wohnland vorgesehenen Betrages. Werden in dem Wohnland keine Familienleistungen beantragt, "kann" der zuständige Träger des anderen Landes nach dem --seit 1. Mai 1990 geltenden-- Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 "Absatz 1 anwenden", als ob Leistungen im Wohnland gewährt würden. Er braucht daher, wenn der Anspruch auf Familienleistungen im Wohnland geringer ist, nur den Differenzbetrag auszuzahlen.
Die Fälle, in denen --wie im Streitfall-- die Familienleistungen im Wohnland der Kinder nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängen, werden von Art. 10 VO Nr. 574/72 erfasst. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 ruht der Anspruch auf Familienleistungen im Wohnland der Kinder bis zur Höhe der im Beschäftigungsland aufgrund innerstaatlicher Vorschriften oder nach Art. 73 VO Nr. 1408/71 geschuldeten Familienleistungen. Anders als in Art. 76 VO Nr. 1408/71 ist in Art. 10 VO Nr. 574/72 nicht geregelt, ob der nachrangige Anspruch auch dann ruht, wenn die an sich vorrangigen Familienleistungen nicht beantragt werden.
Nach Auffassung der beklagten Familienkasse enthält Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 einen allgemeinen Rechtsgedanken, der auf die Fälle des Art. 10 VO Nr. 574/72 entsprechend anwendbar sei, so dass der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld nach dem EStG bis zur Höhe des Betrages ruhe, auf den der geschiedene Ehemann in der Schweiz Anspruch auf Familienleistungen hätte, wenn er sie beantragen würde.
Dem steht entgegen, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in seinem Urteil vom 4. Juli 1990 C-117/89 (Slg. 1990, I-02781) ausgeführt hat, durch die Einfügung des Abs. 2 in Art. 76 VO Nr. 1408/71 sei die bisherige Rechtslage nicht klargestellt, sondern erstmals geregelt worden. Da eine entsprechende Regelung in Art. 10 VO Nr. 574/72 nicht eingefügt wurde und nach der Rechtsprechung des EuGH die Konkurrenzregeln nur bezwecken, die Kumulierung von Beihilfen einzuschränken, ist fraglich, ob ein Anspruch auf Familienleistungen auch dann ruht, wenn der in einem anderen Land bestehende, an sich vorrangige Anspruch auf Familienleistungen nicht geltend gemacht wird. Hinzukommt, das es sich bei Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 um eine Ermessensvorschrift handelt ("kann"), die beklagte Familienkasse aber kein Ermessen ausgeübt hat, sondern generell von einem Ruhen der Kindergeldansprüche in Deutschland ausgeht, auch wenn die in der Schweiz bestehenden Familienleistungen nicht geltend gemacht werden.
Diese die Auslegung von Gemeinschaftsrecht betreffenden Fragen können im PKH-Verfahren nicht abschließend beantwortet werden. Möglicherweise ist es vor einer Entscheidung in der Hauptsache sogar erforderlich, eine Vorabentscheidung des EUGH einzuholen.
Ende der Entscheidung
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