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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 02.07.1998
Aktenzeichen: IV R 60/97
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977


Vorschriften:

FGO § 120
FGO § 120 Abs. 2 Satz 2
FGO § 102
FGO § 121
AO 1977 § 227 Abs. 1
AO 1977 § 37 Abs. 1
AO 1977 § 3 Abs. 3
AO 1977 § 227
AO 1977 § 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist als Krankenpfleger selbständig tätig. Anläßlich einer beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) durchgeführten Kassenprüfung wurde festgestellt, daß das FA dem Kläger aufgrund eines Eingabefehlers eine falsche Abrechnung zum geänderten Einkommensteuerbescheid 1988 erteilt hatte. Dem Kläger war infolgedessen ein Betrag von ... DM zu Unrecht erstattet worden. Die Steuerschuld in Höhe von ... DM wurde nicht erhoben. Das FA forderte daher zuletzt mit Abrechnung vom 11. November 1992 Einkommensteuer in Höhe von ... DM zurück.

Bereits mit Schreiben vom 28. September 1992 hatte der Kläger beantragt, den Nachforderungsbetrag sowie die inzwischen verwirkten Säumniszuschläge aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen. Die Erlaßbedürftigkeit beruhe auf einer finanziellen Notlage, in die er durch Vertrauensmißbrauch und Betrug seitens seines früheren Freundes B, bei dem er nach der Trennung von seiner Ehefrau gewohnt habe, gebracht worden sei. Er habe B seinerzeit Kontovollmacht erteilt und ihm die Regelung seiner finanziellen Angelegenheiten überlassen. Die Möglichkeit eines Regresses scheide aus, da die Eröffnung des Konkursverfahrens gegen B mangels Masse abgelehnt worden sei. Er, der Kläger, sei derzeit und in absehbarer Zukunft nicht in der Lage, Steuerschulden zu begleichen. Es werde im besten Falle zehn Jahre dauern, bis er alle Schulden abgetragen habe.

Mit Verwaltungsakt vom 28. Oktober 1992 lehnte das FA den beantragten Erlaß der nachgeforderten Einkommensteuer 1988 in Höhe von ... DM sowie der zwischenzeitlich verwirkten Säumniszuschläge in Höhe von ... DM mit der Begründung ab, daß die behauptete Notlage nach der Schilderung des Klägers nicht durch die Steuerschulden allein verursacht worden sei und deshalb durch einen Steuererlaß nicht allein behoben werden könne.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers wies die zuständige Oberfinanzdirektion (OFD) als unbegründet zurück. Die OFD begründete ihre Entscheidung damit, daß der Kläger seine Erlaßbedürftigkeit nicht ausreichend nachgewiesen habe. Es sei nicht erkennbar, ob gerade die steuerlichen Verbindlichkeiten eine eventuelle Existenzgefährdung verursachen bzw. ob ein Verzicht des Fiskus diese beseitigen könne. Die Ausführungen des Klägers ließen vielmehr die Vermutung zu, daß sich der begehrte Erlaß nicht konkret auf seine wirtschaftliche Existenz auswirken würde. Dem Kläger drohten durch eine ablehnende Entscheidung derzeit keine Einkommensverluste, so daß seine Lebensführung unberührt bliebe. Außerdem habe der Kläger die mangelnde Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die zu Unrecht erstattete Einkommensteuer 1988 selbst herbeigeführt, indem er das Geld verbraucht habe, anstatt das FA auf dessen Fehler hinzuweisen. Dies wiege um so schwerer, als der Kläger steuerlich beraten gewesen und der Steuerbescheid seinem Berater zugestellt worden sei.

Die Klage, mit der der Kläger sein Antragsziel weiterverfolgte, hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) war der Ansicht, die Finanzbehörden hätten die Erlaßbedürftigkeit ohne Ermessensfehler mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger seine angebliche Notlage nicht nachvollziehbar dargelegt habe.

Hiergegen richtet sich die vom Senat --lediglich hinsichtlich des beantragten Erlasses der Säumniszuschläge-- zugelassene Revision. Zur Begründung nimmt der Kläger in seinen Schriftsätzen vom 8. August und 22. September 1997 "auf den gesamten erstinstanzlichen und vorgerichtlichen Vortrag einschließlich aller unerledigter Beweisantritte" sowie auf den Vortrag zur Nichtzulassungsbeschwerde Bezug. Diesem Vortrag sei zu entnehmen, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klägers die Zahlung der Steuerschulden nie zugelassen hätte und daher die Säumniszuschläge zu erlassen seien.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil des FG, die Beschwerdeentscheidung der OFD sowie den ablehnenden Verwaltungsakt des FA aufzuheben, soweit sie die Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1988 betreffen.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, da die Revision nicht entsprechend des § 120 der Finanzgerichtsordnung (FGO) begründet sei.

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, der Beschwerdeentscheidung der OFD sowie des ablehnenden Verwaltungsaktes des FA, soweit die Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1988 betroffen sind.

1. Die Revision ist zulässig. Als Bezeichnung des angefochtenen Urteils reicht der Hinweis auf den die Revision zulassenden Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) aus. Auch die Begründungserfordernisse sind erfüllt. Das Vorbringen des Klägers --insbesondere die bloße Bezugnahme auf den Vortrag im Klageverfahren-- erweckt zwar den Eindruck, daß er sich mit dem angefochtenen Urteil nicht auseinandergesetzt hat. Für die Rüge eines Verfahrensmangels hat der BFH jedoch die Bezugnahme auf den mit Gründen versehenen, die Revision zulassenden Beschluß dann als ausreichend für eine Revisionsbegründung i.S. des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO erachtet, wenn die Begründung der Beschwerde ihrem Inhalt nach zur Begründung der Revision genügt und das Revisionsgericht in seinem die Revision zulassenden Beschluß das Vorliegen eines gerügten Verfahrensmangels bejaht hat (vgl. BFH-Urteil vom 7. März 1995 XI R 82/93, BFH/NV 1995, 990, m.w.N.). Wegen der insoweit mit der Verfahrensrüge vergleichbaren Rechtslage bei einer Divergenzrüge können diese Grundsätze der Revisionsbegründung auch --wie im Streitfall-- zur Begründung einer Divergenz herangezogen werden.

Die in Bezug genommene Beschwerdeschrift des Klägers beinhaltet hinsichtlich des Erlasses der Säumniszuschläge --zugleich in der Art einer Revisionsbegründung-- die Darlegung der Divergenz der Vorentscheidung zu Entscheidungen des BFH. Der Kläger legt darin dar, daß die Vorentscheidung von der Entscheidung des BFH vom 8. März 1984 I R 44/80 (BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415), auf die sich auch der Zulassungsbeschluß des Senats vom 19. Juni 1997 IV B 70/96 (BFH/NV 1997, 829) stützt, abweicht. Es genügt deswegen noch den Anforderungen für eine Revisionsbegründung, wenn der Kläger sich hierauf in seinen Schriftsätzen vom 8. August und 22. September 1997 bezieht.

2. Die Revision ist auch begründet.

Gemäß § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) können Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen gehören (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO 1977) ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.

Die Säumniszuschläge dienen als Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern. Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen setzt deshalb voraus, daß ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil --obwohl der gesetzliche Tatbestand erfüllt ist-- die Erhebung der Säumniszuschläge den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich geworden ist und deshalb die Ausübung eines Druckes zur Zahlung ihren Sinn verloren hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415). Zahlungsunfähigkeit ist anzunehmen, wenn von einem auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhenden dauernden Unvermögen des Schuldners auszugehen ist, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden noch im wesentlichen zu berichtigen. Dauerndes Unvermögen wird bereits bejaht, wenn feststeht, daß der Schuldner in den nächsten drei bis sechs Monaten seine wesentlichen und fälligen Verbindlichkeiten nicht wird begleichen können. Eine Überschuldung des Steuerpflichtigen liegt vor, wenn die Passiven die Aktiven übersteigen, wenn also das Vermögen des Schuldners seine Verbindlichkeiten nicht mehr deckt.

Die Erlaßentscheidung nach § 227 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO 1977), die von den Gerichten nach § 102 FGO (i.V.m. § 121 FGO) nur darauf überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem eingeräumten Ermessen in zweckwidriger Weise Gebrauch gemacht worden ist. Eine Verpflichtung zum Erlaß kann nur dann ausgesprochen werden, wenn nach den Umständen des Einzelfalls jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre (vgl. Beschluß des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603).

Im Streitfall hat das FG zu Unrecht nicht beanstandet, daß die Finanzbehörden hinsichtlich des begehrten Erlasses der Säumniszuschläge ihr Ermessen nicht ausgeübt haben. Die OFD und das FA haben in ihren Entscheidungen nicht unterschieden zwischen dem Erlaß der Einkommensteuer und dem der verwirkten Säumniszuschläge. Die OFD hat in ihrer Beschwerdeentscheidung lediglich darauf abgestellt, daß ein Erlaß der Einkommensteuer mangels Erlaßbedürftigkeit des Klägers im Hinblick auf eine künftige positive Ertrags- und Vermögensentwicklung nicht in Betracht komme. Hinsichtlich des begehrten Erlasses der Säumniszuschläge hat die OFD ihr Ermessen nicht ausgeübt. Es hat insbesondere nicht geprüft, ob dem Kläger die rechtzeitige Zahlung der Steuerschulden wegen Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit unmöglich gewesen war.

Bei --wie im Streitfall-- Nichtausübung des Ermessens ist insoweit die Vorentscheidung sowie der zugrundeliegende Verwaltungsakt in der Fassung der Beschwerdeentscheidung aufzuheben.

Damit ist das FA verpflichtet, über den Erlaßantrag hinsichtlich der Säumniszuschläge erneut unter Beachtung der sich aus dieser Entscheidung ergebenden Bindungswirkung zu entscheiden.

Ende der Entscheidung

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