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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.10.1998
Aktenzeichen: V R 38/97
Rechtsgebiete: UStG 1991/1993, Richtlinie 77/388/EWG, AO 1977


Vorschriften:

UStG 1991/1993 § 14 Abs. 2 und 3
Richtlinie 77/388/EWG Art. 21 Nr. 1 Buchst. c
AO 1977 § 227
BUNDESFINANZHOF

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Gebietet es das Gemeinschaftsrecht, die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten Steuer bereits im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens zu ermöglichen, oder reicht es aus, wenn die Mitgliedstaaten eine Berichtigung erst in einem anschließenden Billigkeitsverfahren (aus sog. sachlichen Gründen) zulassen?

2. Setzt die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten Steuer zwingend voraus, daß der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist, oder ist eine Rechnungsberichtigung auch in anderen Fällen (ggf. welchen) zulässig?

3. Unter welchen Voraussetzungen handelt ein Rechnungsaussteller in gutem Glauben?

UStG 1991/1993 § 14 Abs. 2 und 3 Richtlinie 77/388/EWG Art. 21 Nr. 1 Buchst. c AO 1977 § 227

Beschluß vom 15. Oktober 1998 - V R 38/97, V R 61/97 -

Vorinstanzen: FG Münster (EFG 1996, 254) FG Baden-Württemberg (EFG 1998, 858)


Gründe

I. Sachverhalte:

1. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) im Verfahren V R 38/97 --vormals eine GmbH & Co. KG, aufgrund formwechselnder Umwandlung vom 28. Oktober 1994 eine AG & Co. KG-- erwarb 50 v.H. der Anteile einer GmbH zum Kaufpreis von 3 781 220 DM. In Höhe dieses Betrags erstellte sie unter dem 31. Dezember 1991 eine Rechnung an die GmbH mit offenem Ausweis der Umsatzsteuer von 529 370,80 DM für Beratungsleistungen, die sie nicht ausführte. Die Rechnung ging im Dezember 1992 bei der GmbH ein.

Dieser Sachverhalt wurde im März 1993 im Rahmen einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der Klägerin nach einem Auskunftsersuchen des für die GmbH zuständigen Finanzamts vom 19. Februar 1993 ermittelt. Nach Angaben der Klägerin sollte mit der "Pro-Forma-Rechnung" geklärt werden, ob aufgrund des Unternehmenserwerbs Investitionszulage beansprucht werden könne. Das Abrechnungspapier wurde vom Empfänger (der GmbH) tatsächlich als Bestandteil eines Investitionszulageantrags verwendet.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) setzte gegen die Klägerin Umsatzsteuer in Höhe des ausgewiesenen Betrags gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2, 2. Alternative des Umsatzsteuergesetzes 1991 (UStG) fest. Der Umsatzsteuerbescheid für 1992 wurde bestandskräftig.

Die Klägerin erhielt das Abrechnungspapier am 19. Juli 1993 vor Verwendung zum Vorsteuerabzug zurück. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) war "zu diesem Zeitpunkt ... das die Rückgabe auslösende Moment --die finanzamtliche Prüfung-- bereits vollständig durchgeführt und der geänderte USt-Bescheid vom 14.04.1993 bereits erlassen worden".

Der Antrag der Klägerin vom 1. Juli 1994 auf Erlaß der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen hatte keinen Erfolg.

Die Klage gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung wurde vom FG abgewiesen. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 254 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt die Klägerin unzutreffende Auslegung des § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) und des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Dazu macht sie geltend: Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. Februar 1980 V R 146/73 (BFHE 129, 569, BStBl II 1980, 283) sei es i.S. von § 227 AO 1977 sachlich unbillig, eine nach § 14 Abs. 3 UStG geschuldete Steuer zu erheben, wenn es dem Rechnungsaussteller gelinge, das von ihm ausgestellte Abrechnungspapier vor Verwendung durch den Rechnungsadressaten wieder in die Hand zu bekommen (und zu vernichten). Daraus folge entgegen dem angefochtenen Urteil, daß eigene aktive Maßnahmen des Ausstellers, die über den Rückerhalt der Rechnung hinausgingen, nicht zu fordern seien. Das Kriterium der Kausalität in dem Sinne, daß der Rechnungsaussteller das FA in die Lage versetzen müsse, die mißbräuchliche Erlangung von Vorsteuerbeträgen zu verhindern, sei nach vorbezeichnetem Urteil nur erforderlich, wenn der Rechnungsadressat die ihm ausgestellte Rechnung bereits zur Erlangung von Vorsteuerbeträgen verwendet habe.

Somit sei nach Aufdeckung des Tatbestands des § 14 Abs. 3 UStG durch eine Außenprüfung des FA für eine Billigkeitsmaßnahme i.S. des § 227 AO 1977 notwendige, aber auch ausreichende Voraussetzung, daß der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens i.S. des § 14 Abs. 3 UStG dadurch rechtzeitig und vollständig beseitige, daß es ihm gelinge, die von ihm ausgestellte Rechnung vor Verwendung zum Vorsteuerabzug durch den Empfänger wieder in die Hand zu bekommen.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und den Bescheid des FA vom 12. September 1994 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung vom 6. März 1995 aufzuheben und das FA zu verpflichten, Umsatzsteuer in Höhe von 529 370,80 DM zu erlassen und den bereits entrichteten Betrag zu erstatten.

Das FA tritt der Revision entgegen. Es entnimmt der Rechtsprechung des BFH, daß für Billigkeitsmaßnahmen zu § 14 Abs. 3 UStG immer auf eigene, rechtzeitige Maßnahmen des Steuerpflichtigen abzustellen sei. Härten, die verbleiben, wenn solche Maßnahmen nicht in Betracht kämen, habe der Gesetzgeber bewußt und billigend in Kauf genommen. Sie ließen keinen Billigkeitserlaß zu (BFH-Urteil vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131).

2. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) im Verfahren V R 61/97 betrieb 1992 und 1993 (Streitjahre) einen Handel mit Büromaschinen (Datentechnik). Um Verluste einer seiner Filialen zu verschleiern und eine bessere Ertragslage vorzutäuschen, stellte er verschiedenen Leasingunternehmen Rechnungen über fingierte, d.h. nicht ausgeführte Lieferungen aus. Die Leasingunternehmen beglichen die Rechnungen und zogen die darin ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuerbeträge ab. Der Kläger unterwarf die Entgelte der Umsatzsteuer. Anschließend zahlte er den Leasingunternehmen in Raten den jeweiligen Kaufpreis zurück.

1994 erstattete der Kläger bei der Staatsanwaltschaft und bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) Selbstanzeige. Dadurch wurden dem FA sämtliche Rechnungen und Rechnungsempfänger bekannt. Es übersandte im April 1995 den für die Rechnungsempfänger zuständigen Finanzämtern entsprechende Kontrollmitteilungen.

Im Anschluß an eine Außenprüfung setzte das FA gegen den Kläger die in den Rechnungen gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2, 2. Alternative UStG in Höhe von 519 346,36 DM für 1992 und in Höhe von 653 156,51 DM für 1993 fest. Die Bescheide wurden bestandskräftig.

Das FA lehnte den Antrag des Klägers vom 24. August 1995, die genannten (sowie weitere) Umsatzsteuerbeträge gemäß § 227 AO 1977 aus Billigkeitsgründen zu erlassen, ab und wies die Beschwerde mit Einspruchsentscheidung vom 4. Juli 1996 zurück.

Das FG wies die Klage mit dem Antrag, das FA zu verpflichten, für 1992 519 346,36 DM und für 1993 653 156,51 DM zu erlassen, als unbegründet ab. Das Urteil ist in EFG 1998, 858 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 227 AO 1977. Er meint, eine Gefährdung des Steueraufkommens sei von Anfang an nicht gegeben gewesen, weil er die sich nach den Rechnungen ergebenden (Netto-)Beträge der Umsatzsteuer unterworfen habe. Zudem habe er durch seine Selbstanzeige und die Aushändigung aller Unterlagen die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß das FA durch Kontrollmitteilungen die Korrektur des Vorsteuerabzugs bei den Rechnungsempfängern habe in die Wege leiten können. Dadurch habe er eine etwaige Gefährdungslage durch rechtzeitige andere Maßnahmen beseitigt, auch wenn er die ausgestellten Rechnungen nicht wieder zurückerlangt habe.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und das FA unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 4. Juli 1996 zu verpflichten, die Umsatzsteuer für 1992 und 1993 entsprechend seinem Antrag vom 24. August 1995 zu erlassen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Es tritt dem Revisionsvorbringen unter Bezugnahme auf seine Einspruchsentscheidung entgegen.

Der Senat hat in dieser Sache am 15. Oktober 1998 mündlich verhandelt.

II. Der Senat verbindet die Verfahren V R 38/97 und V R 61/97, setzt die Verfahren aus und legt die Sachen gemäß Art. 177 Abs. 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung vor.

1. Zur Rechtslage nach deutschem Recht

Der Erlaß von Umsatzsteuer gemäß § 227 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung der Verwaltung, die von den Gerichten gemäß § 102 FGO danach geprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

a) Nach § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Unbilligkeit aus "sachlichen Gründen" --wie sie hier geltend gemacht wird-- kommt in Betracht, wenn die Besteuerung --unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen-- im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131, m.w.N.).

aa) Die Festsetzung der Steuer, deren Erlaß die Klägerin/der Kläger begehrt, beruht auf § 14 Abs. 3 Satz 2, 2. Alternative UStG.

Das Umsatzsteuergesetz unterscheidet zwischen unrichtigem Steuerausweis (§ 14 Abs. 2 UStG) und unberechtigtem Steuerausweis (§ 14 Abs. 3 UStG). Die Vorschriften lauten:

"Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Betrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er auch den Mehrbetrag. Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, so ist § 17 Abs. 1 entsprechend anzuwenden" (§ 14 Abs. 2 UStG).

"Wer in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist, schuldet den ausgewiesenen Betrag. Das gleiche gilt, wenn jemand in einer anderen Urkunde, mit der er wie ein leistender Unternehmer abrechnet, einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er nicht Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt" (§ 14 Abs. 3 UStG).

Die Klägerin und der Kläger stellten Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer aus und übergaben sie den Rechnungsadressaten, obwohl sie die darin bezeichneten Leistungen nicht ausführten. Damit war in den Streitfällen die Festsetzung der Umsatzsteuer gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2, 2. Alternative UStG gerechtfertigt. § 14 Abs. 3 UStG ist als (abstrakter) Gefährdungstatbestand gefaßt. Zweck der Vorschrift ist es, "Mißbräuche durch Ausstellung von Rechnungen mit offenem Steuerausweis (zu) verhindern, wenn Umsätze überhaupt nicht ausgeführt werden" (vgl. Bericht des Finanzausschusses über den Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes --Nettoumsatzsteuer-- zu BTDrucks V/1581, S. 15). Wer mit einer Rechnung das Umsatzsteueraufkommen gefährdet oder beschädigt, muß hierfür einstehen, ohne daß es dabei auf ein vorwerfbares Verhalten ankommt (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 27. Oktober 1993 XI R 99/90, BFHE 172, 555, BStBl II 1994, 277, und vom 5. Februar 1998 V R 65/97, BFHE 185, 302, BStBl II 1998, 415).

bb) Die gesetzliche Regelung des § 14 Abs. 3 UStG zur Inanspruchnahme des Rechnungsausstellers für den unberechtigt ausgewiesenen Steuerbetrag stieß zwar seit ihrer Einführung mit dem Umsatzsteuergesetz 1967 auf Kritik. Denn sie erfaßt ihrem Wortlaut nach u.a. Fälle irrtümlicher Rechnungslegung (z.B. unrichtige Adressierung oder Irrtum über die Unternehmereigenschaft) und Vorausrechnungen über ernsthaft in Aussicht genommene, tatsächlich dann aber aus nicht vorhergesehenen Umständen unterbliebene Leistungen. Außerdem sieht § 14 Abs. 3 UStG --anders als § 14 Abs. 2 UStG-- (bewußt) keine Berichtigungsmöglichkeit vor, da diese nach Auffassung des Gesetzgebers die mit der Vorschrift angestrebte Abschreckungswirkung entkräftet hätte (vgl. BFH-Urteil vom 7. Mai 1981 V R 126/75, BFHE 133, 127, BStBl II 1981, 547). Verfassungsrechtlicher Prüfung hielt § 14 Abs. 3 UStG aber stand.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verneinte im Beschluß vom 7. Januar 1983 1 BvR 301/82 (Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1983, 51) einen Verfassungsverstoß der im Urteil vom 10. Dezember 1981 V R 3/75 (BFHE 135, 107, BStBl II 1982, 229) dargelegten Auffassung des BFH, § 14 Abs. 3 UStG 1967 sei keine Strafnorm, sondern als Steueranspruch ausgestaltet. Die BFH-Rechtsprechung ging von der Konzeption des § 14 Abs. 3 UStG aus, die nicht auf vorwerfbares Verhalten abstelle und keine Auferlegung eines Übels wegen begangenen Unrechts nach Maßgabe der persönlichen Schuld enthalte.

Im Beschluß vom 5. Mai 1992 2 BvR 271/92 (Die Information über Steuer und Wirtschaft --Inf-- 1992, 431) verneinte das BVerfG unter Hinweis auf seine Entscheidung vom 7. Januar 1983 1 BvR 301/82 einen Verstoß von § 14 Abs. 3 UStG gegen Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf. Es wies ferner Bedenken aus Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) gegen die Ausgestaltung des § 14 Abs. 3 UStG 1967 als Gefährdungstatbestand u.a. unter Hinweis auf die von der BFH-Rechtsprechung in bestimmten Fällen für geboten gehaltenen Billigkeitsmaßnahmen wegen sachlicher Härte zurück.

cc) Die zuletzt angesprochenen Billigkeitsmaßnahmen (auf Nichterhebung der Steuer gerichtet) sind nach dem BFH-Urteil in BFHE 129, 569, BStBl II 1980, 283 in Fällen geboten, in denen der Rechnungsaussteller den Gefährdungstatbestand rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Für die prohibitive Wirkung der Vorschrift ist dann kein Raum. Die Gefährdung des Steueraufkommens fällt nach der vorbezeichneten Entscheidung weg,

- wenn der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens durch eigene Maßnahmen rechtzeitig und vollständig beseitigt und es ihm gelingt, das von ihm ausgestellte Abrechnungspapier vor Verwendung durch den Rechnungsadressaten wieder in die Hand zu bekommen (und zu vernichten) oder

- wenn der Aussteller zwar die ausgestellte Rechnung nicht wieder zurückerlangen kann, aber die Gefährdungslage durch rechtzeitige andere Maßnahmen (z.B. Anzeige bei seinem oder bei dem für den Rechnungsadressaten zuständigen FA) beseitigt.

Für die insoweit nicht erfaßte Fallgruppe --daß der Rechnungsempfänger die Rechnung bereits zur Erlangung des Vorsteuerabzugs verwendet hat-- ist seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. November 1995 IX ZR 225/94 (Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1996, 842, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht --UVR-- 1996, 91) eine aus § 14 Abs. 3 Satz 2, 1. Alternative UStG 1980 folgende Steuerschuld aus Billigkeitsgründen jedenfalls dann zu erlassen,

- wenn die von einem Nichtunternehmer abgerechnete Leistung tatsächlich ausgeführt und versteuert worden ist,

- wenn zusätzlich vom Leistungsempfänger abgezogene Vorsteuerbeträge im vollen Umfang in die Staatskasse erstattet worden sind und

- wenn der Leistende weiter nachweist, daß er in entschuldbarem Irrtum über seine Unternehmereigenschaft gehandelt hat.

Der BGH bezog sich zur Begründung auf das Urteil des EuGH vom 13. Dezember 1989 Rs. C-342/87 (Genius Holding, Slg. 1989, 4227, 4242, UVR 1990, 113, UR 1991, 83). Danach ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Geltung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer dadurch zu gewährleisten, daß sie in ihrem innerstaatlichen Recht vorsehen, "daß jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist" (Rdnr. 18 des Urteils). Dieses Gebot ist nach Auffassung des BGH im Hinblick darauf, daß § 14 Abs. 3 UStG keine Berichtigungsmöglichkeit zuläßt, jedenfalls durch einen Erlaß der festgesetzten Steuer gemäß § 227 AO 1977 zu befolgen.

b) Wendet man diese Kriterien in den Streitfällen an, ist die jeweilige Ablehnung des Billigkeitserlasses revisionsrechtlich --unter Berücksichtigung der bezeichneten EuGH-Rechtsprechung-- nicht zu beanstanden.

In beiden Fällen trat allerdings im Ergebnis kein Schaden "am Steueraufkommen" durch die Rechnungserteilung ein. Die Rechnung der Klägerin wurde vom Empfänger nicht für Zwecke des Vorsteuerabzugs verwendet. Mit den Rechnungen des Klägers machten deren Empfänger zwar den Vorsteuerabzug geltend. Der Kläger hatte die ausgewiesene Steuer aber jeweils erklärt und abgeführt. Weder die Klägerin noch der Kläger können jedoch nachweisen, daß sie "in entschuldbarem Irrtum" über ihre umsatzsteuerrechtliche Berechtigung zur Erteilung von Rechnungen mit gesondertem Steuerausweis --insoweit also "in gutem Glauben"-- handelten. Die Klägerin hat eine Rechnung über "Beratungsleistungen" erteilt, obwohl sie wußte, daß sie eine solche Leistung nicht ausgeführt hatte und auch nicht ausführen wollte. Die Rechnung zielte wohl auf die Verschaffung einer Investitionsförderung zugunsten des Empfängers ab. Der Kläger hat bewußt unrichtige Rechnungen über nicht ausgeführte Leistungen erstellt und ausgegeben, um Verluste zu verschleiern und eine bessere Ertragslage vorzutäuschen.

Auf die Frage, ob einem Erlaß entgegensteht, daß die Klägerin die von ihr ausgestellte Rechnung zwar vor Verwendung zum Vorsteuerabzug durch den Leistungsempfänger zurückerlangt hat, dies aber erst nach Aufdeckung durch die Finanzverwaltung geschehen ist, kommt es dann nicht an. Dasselbe gilt für die Frage, ob eine Billigkeitsmaßnahme deswegen gerechtfertigt ist, weil der Kläger das FA in die Lage versetzt hat, durch Kontrollmitteilungen die --bereits geschehene-- mißbräuchliche Verwendung der von ihm erstellten Rechnungen zum Vorsteuerabzug zu korrigieren.

Das Erfordernis des "guten Glaubens" für die Berichtigungsmöglichkeit war nach bisheriger Rechtsprechung des BFH nicht dem "Gesetzesplan" des § 14 Abs. 3 UStG als abstrakter Gefährdungstatbestand zu entnehmen. Es ergibt sich --wie dargelegt-- aus der EuGH-Rechtsprechung (vgl. dazu näher unter II. 2.)

2. Zur Rechtslage nach Gemeinschaftsrecht

Gemeinschaftsrechtlich besteht hinsichtlich der Ausstellung von Rechnungen mit unrichtigem bzw. unberechtigtem Mehrwertsteuerausweis derzeit --soweit ersichtlich-- folgende Rechtslage:

a) Nach Art. 21 Nr. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) schuldet die Mehrwertsteuer "jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder einem ähnlichen Dokument ausweist". Die Bestimmung enthält keine ausdrückliche Regelung über die Möglichkeit, solche Rechnungen zu berichtigen und damit die Steuerschuld rückgängig zu machen.

b) Das bereits erwähnte Urteil des EuGH vom 13. Dezember 1989 Rs. C-342/87 (Genius Holding, Slg. 1989, 4227) erging nicht zur Auslegung des Art. 21 Nr. 1 Buchst. c, sondern des Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG zum Recht auf Vorsteuerabzug. Unter Rdnr. 18 des Urteils ist ausgeführt: "Soweit die Klägerin des Ausgangsverfahrens und die Kommission schließlich geltend machen, eine Beschränkung des Rechts auf Vorsteuerabzug allein auf diejenigen Steuern, die mit der Lieferung von Gegenständen und der Erbringung von Dienstleistungen in Zusammenhang stünden, stelle den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage, ist darauf hinzuweisen, daß es Sache der Mitgliedstaaten ist, die Geltung dieses Grundsatzes dadurch zu gewährleisten, daß sie in ihrem innerstaatlichen Recht vorsehen, daß jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist."

3. Zur Anrufung des EuGH

a) Der Senat geht davon aus, daß der EuGH diese Berichtigungsmöglichkeit im Wege der Auslegung dem Art. 21 Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG zuordnet. Fraglich ist aber (Vorlagefrage zu 1.), ob das Gemeinschaftsrecht es gebietet, die Berichtigung bereits im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens zu ermöglichen, oder ob es ausreicht, wenn die Mitgliedstaaten eine Berichtigung erst in einem anschließenden Billigkeitsverfahren (aus sog. sachlichen Gründen) zulassen.

Wie dargelegt, sieht § 14 Abs. 3 UStG im Gegensatz zu § 14 Abs. 2 UStG eine Rechnungsberichtigung nicht vor. Führt jedoch die Erhebung der zu Unrecht ausgewiesenen Steuer zu einer sachlichen Härte, so läßt es die Finanzverwaltung --abweichend von der gesetzlichen Regelung-- aus Billigkeitsgründen zu, daß der Aussteller die Rechnung in entsprechender Anwendung des § 14 Abs. 2 UStG berichtigt (vgl. Abschn. 190 Abs. 3 der Umsatzsteuer-Richtlinien --UStR--). Sie berücksichtigt eine solche Berichtigung bereits im Steuerfestsetzungsverfahren und nicht erst auf einen Erlaßantrag des Rechnungsausstellers nach § 227 AO 1977 in einem gesonderten Erlaßverfahren, das daneben ebenfalls in Betracht kommt.

b) Da der EuGH die --gemeinschaftsrechtlich gebotene-- Möglichkeit, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer stützt, fragt sich, ob der Aussteller seine Rechnung --unabhängig von einem guten Glauben-- auch dann berichtigen darf, wenn das Gleichgewicht von Steuer des Rechnungsausstellers und Vorsteuerabzug des Rechnungsempfängers gewährleistet ist, etwa dadurch, daß

- der Rechnungsaussteller --wie im Fall V R 38/97-- die Rechnung vor Verwendung durch den Rechnungsadressaten zurückerlangt,

- der Aussteller der Rechnung die von ihm ausgewiesene Steuer --wie im Fall V R 61/97-- entrichtet oder

- der Leistungsempfänger die aufgrund der Rechnung (zu Unrecht) abgezogenen Vorsteuerbeträge dem Fiskus erstattet hat.

Denn es ist nicht ersichtlich, weshalb aus dem Neutralitätsgrundsatz folgt, daß der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist.

Insofern erscheint eine Begrenzung der Berichtigungsmöglichkeit auf Fälle des guten Glaubens des Rechnungsausstellers nicht ausreichend bzw. systemkonform. Als Kriterium für den Ausschluß von der Berichtigung des Steuerbetrags in der Rechnung böte sich vielmehr der Umstand an, ob der "zutreffende" Vorsteuerabzug beim Rechnungsempfänger tatsächlich erreicht werden konnte. Den Rechnungsaussteller träfe --wenn die Rückabwicklung eines gewährten Vorsteuerabzugs beim Rechnungsempfänger nicht mehr möglich ist-- eine Ausfallhaftung zur Herstellung der Steuerneutralität.

Der Senat weist in diesem Zusammenhang auf den --nicht realisierten-- Entwurf zur Änderung des § 14 Abs. 2 und 3 UStG und Einfügung eines § 14a UStG durch das Steuerreformgesetz 1990 (BTDrucks 11/2157, z.T. wiedergegeben bei Dziadkowski, UR 1988, 237, 239) hin. § 14a UStG sah nicht nur in den Fällen des § 14 Abs. 2 UStG, sondern auch in denen des § 14 Abs. 3 UStG die Berichtigung des unzutreffend oder unberechtigt ausgewiesenen Steuerbetrags durch den Rechnungsaussteller sowie dessen Haftung vor. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs wurde eine Unterscheidung zwischen Mißbrauchs- und Irrtumsfällen als nicht praktikabel angesehen. Es solle --so die Begründung-- die Berichtigung der Rechnung mit dem unzulässigen Steuerausweis in allen Fällen zugelassen werden. Zur Vermeidung ungerechtfertigter Steuerausfälle solle eine Ausfallhaftung des Rechnungsausstellers kodifiziert werden. Vorgesehen war, daß nach einer Berichtigung der Rechnungsaussteller für den vom Rechnungsempfänger zu Unrecht als Vorsteuer abgezogenen Betrag haftet, "bis der Rückforderungsanspruch der Finanzbehörde gegen den Rechnungsempfänger erloschen ist".

Eine Berichtigungsmöglichkeit nur bei Nachweis des guten Glaubens des Rechnungsausstellers würde zudem Art. 21 Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG in die Nähe einer Strafvorschrift rücken. Denn die (endgültige) Belastung mit der ausgewiesenen Steuer --auch wenn die Gefährdung der Steuerneutralität nicht eintrat, etwa weil der entsprechende Vorsteuerabzug nicht gewährt wurde-- hinge dann ausschließlich von "vorwerfbarem Verhalten" (Bösgläubigkeit) ab. Dies stieße auf verfassungsrechtliche Bedenken (vgl. insoweit die oben --zu II. 1. a, bb-- angeführten Beschlüsse des BVerfG vom 7. Januar 1983 1 BvR 301/82, UR 1983, 51, und vom 5. Mai 1992 2 BvR 271/92, Inf 1992, 431, sowie Stadie in Rau/Dürwächter, Umsatzsteuergesetz, § 14 Anm. 267; Dziadkowski, UR 1988, 237, 239 f.; Reiß, UR 1989, 178).

Ferner wäre eine Berichtigung ggf. auch in Fällen ausgeschlossen, in denen der Aussteller der Rechnung zwar im Ausstellungszeitpunkt nicht im guten Glauben an seine Berechtigung zum Steuerausweis handelt, aber anschließend --z.B. insbesondere durch Meldung gegenüber den Finanzbehörden-- an der Beseitigung der Gefährdung des Steueraufkommens mitwirkt.

Daraus ergibt sich die Vorlagefrage zu 2.

c) Soweit die Berichtigung einer --zu Unrecht in Rechnung gestellten-- Steuer bei Nachweis des guten Glaubens des Rechnungsausstellers stattfinden darf, fragt sich, wann diese Voraussetzung vorliegt. Ein guter Glaube könnte nur dann gegeben sein, wenn der Rechnungsaussteller aufgrund eines entschuldbaren Rechtsirrtums, eines mechanischen Versehens oder einer ähnlichen Fehlerquelle zu Unrecht Steuer ausweist (sog. Irrtumsfälle). Ein guter Glaube könnte darüber hinausgehend --entsprechend der Rechtslage in Österreich (vgl. Ruppe, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, § 11 Rz. 123, m.w.N.)-- allerdings auch dann anzunehmen sein, wenn der Aussteller mit einem unrichtigen Steuerausweis nicht die Finanzbehörden (hinsichtlich des Umsatzsteueraufkommens), sondern ausschließlich Dritte (etwa Banken, andere Kreditgeber) täuschen will, wie dies im Fall V R 61/97 in Betracht kommt.

Daraus ergibt sich die Vorlagefrage zu 3.

Ende der Entscheidung

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