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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 27.08.1998
Aktenzeichen: V R 77/96
Rechtsgebiete: Richtlinie 77/388/EWG, UStG 1993, AO 1977


Vorschriften:

Richtlinie 77/388/EWG Art. 17
Richtlinie 77/388/EWG Art. 20
UStG 1993 § 9 Abs. 2
UStG 1993 § 15
UStG 1993 § 27 Abs. 2 Nr. 3
AO 1977 § 164
BUNDESFINANZHOF

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 15. Januar 1998 Rs. C-37/95, Ghent Coal Terminal NV, unter Bezugnahme auf das Urteil vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94, INZO) bleibt das Recht auf Vorsteuerabzug erhalten, wenn der Steuerpflichtige aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig waren, diese Gegenstände oder Dienstleistungen nicht verwendet hat, um steuerpflichtige Umsätze zu bewirken.

Bleibt nach diesem Grundsatz das Recht auf Vorsteuerabzug auch dann erhalten, wenn der Steuerpflichtige den Gegenstand oder die Dienstleistung zwar tatsächlich zur Ausführung von (Vermietungs-)Umsätzen verwendet, aber aufgrund einer Gesetzesänderung nach Bezug des Gegenstands/der Dienstleistung nicht mehr zum Verzicht auf die Steuerbefreiung der damit ausgeführten Umsätze berechtigt ist, also tatsächlich keine steuerpflichtigen Umsätze ausführen kann?

Bleibt in einem solchen Fall eines nachträglich eintretenden Umstands das Recht auf Vorsteuerabzug auch dann bestehen, wenn die Steuerfestsetzungen nach nationalem Recht zulässigerweise unter einem sog. Vorbehalt der Nachprüfung standen, der eine rasche Steuerfestsetzung allein aufgrund der Angaben des Steuerpflichtigen ermöglicht, aber andererseits der Finanzbehörde das Recht gibt, die Steuerfestsetzung allseitig in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu korrigieren?

Richtlinie 77/388/EWG Art. 17, 20 UStG 1993 § 9 Abs. 2, § 15, § 27 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 § 164

Beschluß vom 27. August 1998 - V R 77/96 -

Vorinstanz: FG Münster (EFG 1997, 507)


Gründe

I. Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) --eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR)-- wurde durch Gesellschaftsvertrag vom 1. März 1991 gegründet. Ihr Zweck war das Halten des Erbbaurechts an einem bestimmten Grundstück, die Errichtung eines Wohn- und Bürogebäudes darauf sowie die langfristige Nutzung und Verwertung des Grundbesitzes. Die Klägerin erwarb das Erbbaurecht am 8. März 1991. Einen am 16. März 1991 gestellten Bauantrag nahm sie zurück, weil gegen das Bauvorhaben planungsrechtliche Bedenken erhoben wurden. Am 16. Oktober 1992 stellte die Klägerin erneut einen Bauantrag. Die Baugenehmigung wurde am 27. Mai 1993 erteilt und durch mehrere Nachtragsgenehmigungen ergänzt.

Nach einem Beschluß der Gesellschafter der Klägerin vom 11. Juni 1993 bestand unter ihnen unverändert Einigkeit darüber, daß die Baugenehmigung unmittelbar nach Erteilung an einen Dritten oder mehrere Dritte veräußert werde. Dieser Beschluß konnte mangels eines Übernehmers nicht realisiert werden. Am 10. Oktober 1993 schloß deshalb die Klägerin einen Architektenvertrag zur Abwicklung der Baumaßnahme ab. Die Bauarbeiten begannen im Januar 1994 mit der Herstellung der Baustraße und der Baustelleneinrichtung. Am 28. April 1994 zeigte die Klägerin den sofortigen Beginn der Bauausführung der Gemeinde an. Die Baumaßnahme wurde im Dezember 1994 fertiggestellt.

Von der Gesamtfläche des Gebäudes vermietete die Klägerin 39,38 v.H. als Wohnraum, 46,49 v.H. als Büro an eine AG, die als Finanzdienstleistungsunternehmen zu mehr als 90 v.H. steuerfreie Umsätze ausführte, und zu 13,96 v.H. als Büro an einen Architekten.

In den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 1992 bis 1994 verzichtete die Klägerin auf die Steuerfreiheit der geplanten bzw. ab 1994 ausgeführten Vermietungsumsätze und machte den Vorsteuerabzug aus den Baurechnungen geltend.

Nach einer Sonderprüfung ließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) in den geänderten Umsatzsteuerbescheiden für 1992 und 1993 (§ 168 i.V.m. § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung --AO 1977--) sowie im erstmaligen Bescheid für 1994 einen Vorsteuerabzug nur in Höhe von 13,96 v.H. der geltend gemachten Beträge zu. Nach Auffassung des FA ging der Verzicht der Klägerin auf die Steuerfreiheit der übrigen Büro-Vermietungsumsätze ins Leere. Hinsichtlich dieser Umsätze sei die Option gemäß § 9 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (im folgenden: UStG) in der ab 1994 geltenden Fassung aufgrund des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) eingeschränkt. Denn die Klägerin habe nicht vor dem 11. November 1993, dem in § 27 Abs. 2 UStG i.d.F. des StMBG festgelegten Stichtag, mit der Errichtung des Gebäudes begonnen. Die Klägerin verwende die Bauleistungen somit nur zu 13,96 v.H. zur Ausführung steuerpflichtiger Leistungen.

Die Klägerin vertrat dagegen die Auffassung, die Einschränkung der Option --hinsichtlich der Vermietung der Büroräume an das Finanzdienstleistungsunternehmen-- durch die Neuregelung des § 9 Abs. 2 UStG gelte für sie nicht. Denn als Beginn der Errichtung des Gebäudes sei der Zeitpunkt des Bauantrages anzusehen, zumindest aber die Erteilung der Baugenehmigung (am 27. Mai 1993). Ferner habe sie noch vor dem 11. November 1993 den Architekten mit der Ausführungs- und Auftragsplanung sowie der Vorbereitung und der Mitwirkung bei der Vergabe der Baugewerke beauftragt und damit mit der Bauerrichtung begonnen. Im übrigen genieße sie Vertrauensschutz. Wäre nämlich der Inhalt des StMBG im Zeitpunkt der Investitionsentscheidung bekannt gewesen, wäre ihre Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen, weil die Versagung des Vorsteuerabzugs zu einem erheblichen Liquiditätsnachteil führe. § 27 Abs. 2 UStG in der geänderten Fassung verstoße gegen das Rückwirkungsverbot.

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 507).

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung von § 9 Abs. 2 i.V.m. § 27 Abs. 2 UStG (in der ab 1994 geltenden Fassung) sowie von § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG. Diese beruhe auf unzutreffender Auslegung des Merkmals "mit der Errichtung des Gebäudes begonnen" (§ 27 Abs. 2 UStG). Unter Berufung auf die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. September 1982 III R 12/80 (BFHE 137, 134, BStBl II 1983, 146) und vom 10. April 1992 III R 142/90 (BFHE 167, 474, BStBl II 1992, 632) macht sie geltend, daß immer dann, wenn für die Errichtung eines Gebäudes eine Genehmigung erforderlich sei, der Antrag auf Baugenehmigung als Beginn der Herstellung gelte.

Auch sei spätestens durch die Bestellung des Architekten vom 10. Oktober 1993 nach außen dokumentiert worden, daß die Investition durchgeführt werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt sei für sie, die Klägerin, auch klar gewesen, daß die geplanten Flächen an die AG vermietet werden sollten. Insoweit gebühre ihr hinsichtlich des Vorsteuerabzugs Vertrauensschutz. Dieser stehe ihr aber auch für die bereits 1992 und 1993 angefallenen Vorsteuerbeträge (Architekt, Notar usw.) zu. Denn dabei handle es sich um abgeschlossene Sachverhalte, die im nachhinein nicht anders behandelt werden dürften. Die abweichende Auffassung der Vorentscheidung sei mit dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94 (INZO, Slg. 1996, I-857, BStBl II 1996, 655) nicht vereinbar.

Schließlich habe die Neuregelung zu § 9 Abs. 2 UStG sog. "Vorschaltmodelle" treffen sollen. In ihrem --der Klägerin-- Fall handle es sich aber um keine derartige Gestaltung.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den begehrten Vorsteuerabzug in den angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen (insgesamt ca. 60 v.H. der gesamten Vorsteuerbeträge aus der Gebäudeerrichtung) zu gewähren.

Das FA tritt der Revision entgegen.

II. Zur Rechtslage nach nationalem Recht

Es ist zweifelhaft, ob die Revision nach dem Umsatzsteuergesetz und dem Verfahrensrecht der Abgabenordnung Erfolg haben könnte.

1. Die Klägerin vermietete die Räume nach Fertigstellung des Gebäudes im Jahr 1994. Ab 1. Januar 1994 galt folgende Regelung für den Verzicht auf die Steuerbefreiung von Vermietungsumsätzen gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 UStG (i.d.F. des StMBG).

"Der Verzicht auf Steuerbefreiung nach Absatz 1 ist ... bei der Vermietung oder Verpachtung von Grundstücken (§ 4 Nr. 12 Buchstabe a) ... nur zulässig, soweit der Leistungsempfänger das Grundstück ausschließlich für Umsätze verwendet oder zu verwenden beabsichtigt, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen."

Soweit die Klägerin Büroräume an das Finanzdienstleistungsunternehmen vermietete, verwendete der Leistungsempfänger das Grundstück nicht "ausschließlich für Umsätze ..., die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen". Denn nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) sind die Umsätze des Mieters zu über 90 v.H. steuerfrei.

Zum Anwendungsbereich der ab 1. Januar 1994 geltenden Fassung des § 9 Abs. 2 UStG enthält § 27 Abs. 2 Nr. 3 UStG (i.d.F. des StMBG) folgende Übergangsregelung:

"(2) § 9 Abs. 2 ist nicht anzuwenden, wenn das auf dem Grundstück errichtete Gebäude

1. Wohnzwecken dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1. April 1985 fertiggestellt worden ist,

2. anderen nichtunternehmerischen Zwecken dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1. Januar 1986 fertiggestellt worden ist,

3. anderen als in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Zwecken <Wohnzwecken oder anderen nichtunternehmerischen Zwecken> dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1. Januar 1998 fertiggestellt worden ist,

und wenn mit der Errichtung des Gebäudes ... in den Fällen der Nummer 3 vor dem 11. November 1993 begonnen worden ist."

2. Nach dieser Vorschrift ist die ab 1. Januar 1994 geltende Fassung des § 9 Abs. 2 UStG, die zum Ausschluß der Option führt, im Streitfall anzuwenden.

a) § 27 Abs. 2 Nr. 3 UStG i.d.F. des StMBG umschreibt zwar die Voraussetzungen für den "Beginn der Errichtung des Gebäudes" nicht. Bauantrag oder Baugenehmigung sind aber noch nicht der Beginn der Bauarbeiten im Sinne dieser Vorschrift. Die Gründe dazu brauchen im Rahmen der Vorlage an den EuGH nicht erörtert zu werden. Danach ist davon auszugehen, daß die Klägerin tatsächlich erst 1994 mit der Errichtung des Gebäudes begonnen hatte.

b) Andererseits gehören die bereits 1992 und 1993 bezogenen Leistungen (Notar, Architekt) zu den Herstellungskosten des Gebäudes (sind also insoweit Teil des Gebäudes als "Investitionsgut", dazu unten zu III. 3.). Die Entscheidung über den Vorsteuerabzug für diese Leistungen kann somit nicht isoliert von der Errichtung des Gebäudes --und damit ohne die Einschränkung durch § 27 Abs. 2 UStG i.d.F. des StMBG-- getroffen werden. Sie richtet sich nach der tatsächlichen Verwendung des Gebäudes (§ 15 Abs. 2 UStG), also nach den (frühestens Ende) 1994 ausgeführten Vermietungsumsätzen und deren Beurteilung als steuerpflichtig oder steuerfrei.

Da nach ständiger Rechtsprechung des Senats zum Umsatzsteuergesetz (seit dem Umsatzsteuergesetz 1967) über den Vorsteuerabzug im sog. Abzugsjahr erst nach tatsächlicher Verwendung zur Ausführung von Umsätzen (ggf. in späteren Jahren) materiell abschließend entschieden werden kann --also nicht bereits aufgrund der erklärten Verwendungsabsicht-- (vgl. BFH-Urteile vom 25. Januar 1979 V R 53/72, BFHE 127, 238, BStBl II 1979, 394, und vom 26. Februar 1987 V R 1/79, BFHE 149, 307, BStBl II 1987, 521), konnte das FA grundsätzlich die unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerfestsetzungen gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977 (dazu unten zu 3.) dahingehend ändern, daß es den Vorsteuerabzug wegen tatsächlich steuerfreier Verwendung der Leistungsbezüge endgültig versagte.

3. Demnach war der Klägerin aufgrund nationalen Verfahrensrechts der ursprünglich (für die Streitjahre 1992 und 1993) gewährte Vorsteuerabzug nicht endgültig zu belassen. Der Klägerin war zwar vom FA für 1992 und 1993 aufgrund der von ihr erklärten Absicht, steuerpflichtig vermieten zu wollen, der Vorsteuerabzug aus den Vorbereitungsmaßnahmen gewährt worden. Die Umsatzsteuer für diese Jahre wurde aber gemäß §§ 168, 164 AO 1977 unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt, so daß die Klägerin jedenfalls nicht auf den Bestand dieser Behandlung bei noch ausstehender tatsächlicher Verwendung vertrauen konnte.

Gemäß § 168 AO 1977 steht eine Steueranmeldung (wie die Umsatzsteuererklärung, § 18 Abs. 3 UStG) einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleich.

§ 164 Abs. 1 und 2 AO 1977 lautet:

"(1) Die Steuern können, solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist, allgemein oder im Einzelfall unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden, ohne daß dies einer Begründung bedarf. ...

(2) Solange der Vorbehalt wirksam ist, kann die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert werden. ..."

Nach Absatz 4 der Vorschrift entfällt der Vorbehalt der Nachprüfung, wenn die Festsetzungsfrist abläuft.

Die Regelung der Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung wurde als "eine der zentralen Vorschriften der neuen AO" eingeführt. Sie bezweckt, einerseits eine rasche Steuererhebung zu ermöglichen und andererseits den Steuerfall offen zu halten, und zwar sowohl zugunsten des Fiskus als auch zugunsten des Steuerpflichtigen. Die Änderung der Vorbehaltsfestsetzung ist jederzeit zugunsten und zu Lasten des Steuerpflichtigen in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht möglich (vgl. z.B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 164 AO 1977 Tz. 1, m.N.; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 6. Aufl. 1998, § 164 Anm. 1). Damit kann die Festsetzung auch bei Rechtsänderung mit Rückwirkung auf den Besteuerungszeitraum der Steuerfestsetzung geändert werden.

Das gilt nach der Rechtsprechung des Senats auch für Umsatzsteuerfestsetzungen, mit denen der Vorsteuerabzug auf Investitionen (sofort) gewährt wurde, obwohl die tatsächliche Verwendung zu Umsätzen ohne Ausschluß vom Vorsteuerabzugsrecht noch nicht feststand. Der Vorsteuerabzug wird lediglich aufgrund der Erklärung des Steuerpflichtigen über die beabsichtigte Verwendung gewährt. Die endgültige Entscheidung über den Vorsteuerabzug fällt erst bei abschließender Prüfung des Steuerfalles, die das Vorliegen der tatsächlichen Verwendung der Investitionsleistung voraussetzt.

4. Die "rückwirkende" Erfassung des Vorsteuerabzugs auf die bereits 1992 und 1993 bezogenen Leistungen --wie Inanspruchnahme des Notars und des Architekten-- durch die Neuregelung des § 9 Abs. 2 UStG verstößt nicht gegen ein verfassungsrechtliches Rückwirkungsverbot (vgl. zuletzt Urteil des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 3. Dezember 1997 2 BvR 882/97, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst --DStRE-- 1998, 270). Hinsichtlich des hier zu beurteilenden Rechts auf Vorsteuerabzug aus den bezeichneten Investitionen war der Vorgang --entgegen dem Vortrag der Klägerin-- noch nicht abgeschlossen. Denn die gemäß § 15 Abs. 2 UStG für die Frage des Ausschlusses vom Vorsteuerabzug maßgebende tatsächliche Verwendung der bezogenen Leistungen (Notar, Architekt) zur Ausführung von Umsätzen lag noch nicht vor.

Schutzwürdiges Vertrauen auf die Weitergeltung der damals noch bestehenden Optionsmöglichkeit nach § 9 Abs. 2 UStG 1991/1993 im Hinblick auf eine beabsichtigte Vermietung des Gebäudes bestand nicht. Die Übergangsregelung beachtet die Grenzen zulässiger Rückwirkung der Neuregelung. Die Klägerin hatte mit der Errichtung des Gebäudes noch nicht begonnen (s. oben zu 2.). Sie hatte vielmehr nach den Feststellungen des FG noch am 11. Juni 1993 die Veräußerung der Baugenehmigung beabsichtigt und mit dem Auftrag an den Architekten noch keine bindenden Bauaufträge vergeben.

III. Zur Anrufung des EuGH

Der Streitfall wirft Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts auf. Der Senat legt dem EuGH daher gemäß Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Fragen zur Auslegung der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) vor, die im Streitfall entscheidungserheblich sind.

1. Die Klägerin beruft sich auf das Urteil des EuGH vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94, INZO, nach dem das einmal entstandene Recht auf Vorsteuerabzug bestehen bleibt, selbst wenn die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu steuerbaren Umsätzen führt. Für den Streitfall ist insbesondere das daran anknüpfende Urteil vom 15. Januar 1998 Rs. C-37/95 (Ghent Coal Terminal NV, Slg. 1998, I-1; berichtigte deutsche Fassung in DStRE 1998, 528) von Bedeutung. In diesem Urteil führt der EuGH aus, daß das Recht auf Vorsteuerabzug ebenso erhalten bleibt, wenn der Steuerpflichtige die Gegenstände oder Dienstleistungen, die zu dem Abzug geführt haben, aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, nicht im Rahmen steuerpflichtiger Umsätze verwenden konnte (Rdnr. 20). Nach Rdnr. 23 und 24 des Urteils kann die Lieferung eines Investitionsguts ggf. innerhalb des Berichtigungszeitraums zu einer Berichtigung des Vorsteuerabzugs unter den in Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehenen Voraussetzungen führen.

2. Auch im Streitfall stellt sich die Frage, ob nach der wiedergegebenen Auslegung des Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG das Recht auf Vorsteuerabzug für die Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit der --späteren-- Errichtung des Gebäudes bezogen worden sind, endgültig bestehen bleibt. Die Klägerin war bei Empfang der angegebenen Dienstleistungen in den Jahren 1992 und 1993 davon ausgegangen, daß diese (soweit hier einschlägig) zu Vermietungsleistungen verwendet werden würden, die aufgrund (damals) möglichen Verzichts auf die Steuerbefreiung das Recht zum Vorsteuerabzug nicht ausschließen würden. Der Vorsteuerabzug war ihr in den entsprechenden Steuerfestsetzungen --allerdings unter Vorbehalt der Nachprüfung-- gewährt worden.

Die Klägerin konnte zwar --anders als in den Fällen der EuGH-Urteile INZO und Ghent Coal Terminal NV-- die beabsichtigten Vermietungsumsätze tatsächlich ausführen. Aufgrund der Änderung des § 9 Abs. 2 UStG, die ab 1. Januar 1994 den Verzicht auf die hier maßgeblichen Vermietungsumsätze ausschloß, konnte sie aber die Vermietungsumsätze nach Fertigstellung des Gebäudes Ende 1994 tatsächlich nicht mehr steuerpflichtig ausführen.

3. Damit ist zu fragen, ob --auf der Grundlage der Auslegung des Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG durch den EuGH-- auch eine Gesetzesänderung, die den Verzicht auf die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze ausschließt und damit auf das Recht zum Vorsteuerabzug bezüglich der Investitionen zurückwirkt, ein "vom Willen <der Klägerin> unabhängiger Umstand" war.

Ist dies zu bejahen --was nach Auffassung des Senats in Betracht kommt-- müßte der Klägerin der (bereits gewährte) Vorsteuerabzug für Leistungsbezüge vor dem 11. November 1993 (dem gesetzlich festgelegten Stichtag der geänderten Fassung des § 9 Abs. 2 UStG), die in die Herstellungskosten des Gebäudes eingingen, belassen werden. Er könnte wohl nur nach der Berichtigungsregel des Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG ab tatsächlich steuerfreier Vermietung für den restlichen Berichtigungszeitraum rückgängig gemacht werden. Dabei ist davon auszugehen, daß die angesprochenen Leistungsbezüge (als Herstellungskosten) Bestandteil des "Investitionsguts" Gebäude sind. Der Begriff "Investitionsgüter" i.S. von Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG kann gemäß Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG durch die Mitgliedstaaten bestimmt werden.

4. Zweifel an der uneingeschränkten Geltung dieser Beurteilung können aber aufgrund der Begründungserwägungen im EuGH-Urteil INZO bestehen. Dort führte der EuGH unter Rdnr. 21 aus, der Grundsatz der Rechtssicherheit verbiete nämlich, daß die von der Steuerbehörde festgestellten Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen von Tatsachen, Umständen oder Ereignissen abhängen könnten, die nachträglich eingetreten seien. Habe die Behörde also aufgrund der ihr von einem Unternehmen übermittelten Angaben festgestellt, daß diesem die Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuzuerkennen sei, so könne ihm diese Stellung ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich nicht wegen des Eintritts oder des Nichteintritts bestimmter Ereignisse nachträglich aberkannt werden.

Ist der Grundsatz der Rechtssicherheit im Besteuerungsverfahren (mit dem beschriebenen Hintergrund) die Grundlage der Auslegung des Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG durch den EuGH, so müßte auf nationale Verfahrensregelungen, die gesetzlich die Grenzen der Rechtssicherheit --hier: des Bestands einer auf Angaben des Steuerpflichtigen beruhenden Steuerfestsetzung-- bestimmen, Bedacht genommen werden. Zu diesen nationalen Regelungen gehören die Vorschriften der Abgabenordnung über die Änderung von Steuerbescheiden (hier: § 164 Abs. 2, ferner § 165 und §§ 172 ff. AO 1977). Gerade die Möglichkeit der Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nach deutschem Recht soll eine Erleichterung der Prüfung der "objektiven Nachweise" der Erfüllung von Besteuerungsvoraussetzungen (vgl. dazu Rdnr. 23 des EuGH-Urteils INZO) zugunsten und zu Lasten der Steuerpflichtigen bewirken. Die vom EuGH hervorgehobene Änderungsgrenze der Rechtssicherheit besteht nach deutschem Recht bei Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nur nach Maßgabe der gesetzlichen Regelung; der Bescheid kann grundsätzlich wegen jeglicher Änderungsgründe geändert werden.

5. Danach ergeben sich folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts:

Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 15. Januar 1998 Rs. C-37/95, Ghent Coal Terminal NV, unter Bezugnahme auf das Urteil vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94, INZO) bleibt das Recht auf Vorsteuerabzug erhalten, wenn der Steuerpflichtige aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig waren, diese Gegenstände oder Dienstleistungen nicht verwendet hat, um steuerpflichtige Umsätze zu bewirken.

Bleibt nach diesem Grundsatz das Recht auf Vorsteuerabzug auch dann erhalten, wenn der Steuerpflichtige den Gegenstand oder die Dienstleistung zwar tatsächlich zur Ausführung von (Vermietungs-)Umsätzen verwendet, aber aufgrund einer Gesetzesänderung nach Bezug des Gegenstands/der Dienstleistung nicht mehr zum Verzicht auf die Steuerbefreiung der damit ausgeführten Umsätze berechtigt ist, also tatsächlich keine steuerpflichtigen Umsätze ausführen kann?

Bleibt in einem solchen Fall eines nachträglich eintretenden Umstands das Recht auf Vorsteuerabzug auch dann bestehen, wenn die Steuerfestsetzungen nach nationalem Recht zulässigerweise unter einem sog. Vorbehalt der Nachprüfung standen, der eine rasche Steuerfestsetzung allein aufgrund der Angaben des Steuerpflichtigen ermöglicht, aber andererseits der Finanzbehörde das Recht gibt, die Steuerfestsetzung allseitig in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu korrigieren?

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