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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 14.12.2001
Aktenzeichen: VI B 178/01 (1)
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
1. Die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt kann grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (Anschluss an BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BStBl II 2001, 832).

2. Für ein behindertes Kind, dessen Einkünfte und Bezüge --nach Abzug des behinderungsbedingten Mehrbedarfs-- den Jahresgrenzbetrag nicht übersteigen, kann Kindergeld nicht mit der Begründung versagt werden, die Behinderung stehe einer normalen Berufsausbildung nicht im Wege.


Die Entscheidung ist nachträglich zur Veröffentlichung bestimmt worden.

Gründe:

Der im Jahre 1978 geborene Sohn (S) des Klägers und Beschwerdegegners (Kläger) ist seit 1984 behindert. Der Grad der Behinderung beträgt 50 v.H.; in seinem Schwerbehindertenausweis ist u.a. das Merkmal H (hilflos) eingetragen.

Nach Erlangen der Fachoberschulreife (Sekundarabschluss I) befand sich S in der Zeit vom 1. August 1996 bis 15. September 1997 in einem Ausbildungsverhältnis als Tischler. Nachdem S die Ausbildung abgebrochen hatte, war er ab 22. September 1997 zunächst als Hilfsarbeiter bei der Firma X tätig und dort ab Januar 1998 in einem Ausbildungsverhältnis. Die Bruttoarbeitslöhne des S beliefen sich im Kalenderjahr 1997 auf 16 574 DM und in 1998 auf 21 475 DM.

Nachdem der Beklagte und Beschwerdeführer (das Arbeitsamt --Familienkasse--) hiervon Kenntnis erlangt hatte, hob er die Festsetzung des Kindergeldes für S in zwei Bescheiden ab Januar 1997 bzw. ab Januar 1998 auf und forderte das von Januar 1997 bis Juli 1998 gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 4 180 DM (2 640 DM + 1 540 DM) zurück. Zur Begründung führte die Familienkasse im Wesentlichen aus, S habe im Jahre 1997 Einkünfte in Höhe von 14 574 DM und 1998 in Höhe von 17 347 DM erzielt; damit seien die maßgeblichen Jahresgrenzbeträge in Höhe von 12 000 DM (1997) und 12 360 DM (1998) überschritten worden. S sei im Übrigen für einen Beruf ausgebildet worden und daher in der Lage, durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Mit seiner Klage brachte der Kläger u.a. vor, bei der Bemessung des gesamten Lebensbedarfs des S sei nicht nur der allgemeine Lebensbedarf (Grundbedarf), sondern auch der individuelle behinderungsbedingte Mehrbedarf zu berücksichtigen. Die Familienkasse habe zu Unrecht den Behinderten-Pauschbetrag für Hilflose in Höhe von 7 200 DM (§ 33b Abs. 3 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) als Anhalt für den behinderungsbedingten Mehrbedarf außer Betracht gelassen.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte unter Berufung auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteile jeweils vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75; VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79) im Wesentlichen aus, S sei in den Jahren 1997 und 1998 außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die Einkünfte des S hätten zwar jeweils die maßgeblichen Jahresgrenzbeträge überschritten; die Beträge in Höhe von 12 000 DM und 12 360 DM seien jedoch um den behinderungsbedingten Mehrbedarf in Form des Behinderten-Pauschbetrags in Höhe von je 7 200 DM zu erhöhen.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde bringt die Familienkasse vor, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu. Entscheidungserheblich sei die Rechtsfrage, ob das Tatbestandsmerkmal "außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG voraussetze, dass Art und Schwere der Behinderung der Absolvierung einer "normalen", d.h. nicht behindertengerechten Berufsausbildung generell entgegenstehe oder ob auch bei erfolgreicher Absolvierung einer "normalen" Berufsausbildung die Vergleichsberechnung der zufließenden Mittel und des Bedarfs des Kindes allein über die Erfüllung bzw. Nichterfüllung des Tatbestandsmerkmals entscheide. In den Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) in BStBl II 2000, 72; BStBl II 2000, 75, und BStBl II 2000, 79 sei die erforderliche Kausalität zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit, eine "normale" Berufsausbildung zu absolvieren, bedeutungslos gewesen, weil es sich um Kinder gehandelt habe, die voll- bzw. teilstationär in Heimen untergebracht waren und die ganz offensichtlich keinen Zugang zu einer regulären Berufsausbildung gehabt hätten.

Die Beschwerde ist unbegründet. Die Beantwortung der von der Familienkasse herausgestellten Rechtsfragen ergibt sich aus dem Gesetz. Im Übrigen ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auch aufgrund der Rechtsprechung des Senats nicht (mehr) gegeben.

1. Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht ein Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Nach der Rechtsprechung des Senats in seinen Grundsatzentscheidungen vom 15. Oktober 1999 in BStBl II 2000, 72; BStBl II 2000, 75, und BStBl II 2000, 79 ist ein behindertes Kind --positiv ausgedrückt-- erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit eines Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich seines gesamten Lebensbedarfs einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich hieraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf in Höhe von 12 000 DM für 1997 bzw. von 12 360 DM für 1998) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.

2. Entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG führt eine Behinderung nur dann zu einer Berücksichtigung, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit); d.h. dem Kind muss es objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (vgl. BFH-Urteil in BStBl II 2000, 72, 73, rechte Spalte). Ist folglich ein Kind trotz seiner (ggf. erheblichen) Behinderung etwa aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (ebenso: Felix in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 63 Rdnr. F 13; R 180d der Einkommensteuer-Richtlinien 2000).

Die Ursächlichkeit der Behinderung kann grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.6.3.1. Abs. 2, BStBl I 2000, 636, 668; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 57). Mit Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98 (BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 1654) hat der Senat die Auffassung der Finanzverwaltung hinsichtlich der Behinderung von mindestens 50 v.H. für zutreffend erachtet (vgl. auch BFH-Beschluss vom 29. Juni 2001 XI B 143/00, BFH/NV 2001, 1401).

Nichts anderes kann --wie hier-- für den Fall gelten, wenn im Schwerbehindertenausweis des behinderten Kindes (überdies) das Kennzeichen "H" eingetragen ist (vgl. auch § 65 Abs. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung; Berlebach, Familienleistungsausgleich, Fach A, § 32 EStG Tz. 121; Schmidt/ Glanegger, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl., § 32 Rz. 50). Dieser Auffassung der Finanzverwaltung liegt erkennbar die zutreffende Annahme zugrunde, dass eine Beschäftigung der angeführten Behinderten unter den normalen Bedingungen des Arbeitsmarktes regelmäßig nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist (vgl. auch FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Januar 1999 II 370/98, Entscheidungen der Finanzgerichte 1999, 476).

Entgegen der Auffassung der Familienkasse kann demnach für ein behindertes Kind, dessen Einkünfte und Bezüge nach Abzug des behinderungsbedingten Mehrbedarfs den Jahresgrenzbetrag nicht übersteigen, Kindergeld nicht mit der Begründung versagt werden, die Behinderung stehe einer normalen Berufsausbildung nicht im Wege. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 22. Februar 2001 VI B 307/00 (BFH/NV 2001, 781) wiederholt betont, dass die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen Kindergeld zusteht, für jede Alternative (u.a. Kind in Berufsausbildung, behindertes Kind) nach den jeweiligen Tatbestandmerkmalen zu beurteilen ist.

Aufgrund der geklärten Rechtslage ist folglich die Durchführung eines Revisionsverfahrens nicht geboten.

Ende der Entscheidung

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