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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 29.01.1999
Aktenzeichen: VI R 14/99
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977


Vorschriften:

EStG § 33c Abs. 1 bis 4
EStG § 32 Abs. 3
EStG § 32 Abs. 7
EStG § 32 Abs. 6
EStG § 54 Abs. 1
AO 1977 § 163
AO 1977 § 227
AO 1977 § 163 Satz 3
AO 1977 § 171 Abs. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

Der Senat ersucht das Bundesministerium der Finanzen (BMF), dem Verfahren beizutreten. Es wird gebeten, den Beitritt bis zum 28. Februar 1999 zu erklären und im Falle des Beitritts bis zum 30. März 1999 eine Stellungnahme zu den nachfolgenden Fragen bzw. Erörterungen abzugeben. Der Senat beabsichtigt, im vorliegenden Verfahren spätestens im Juni 1999 eine mündliche Verhandlung anzuberaumen; die Ladungen hierzu werden rechtzeitig ergehen.

A.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Beschluß vom 10. November 1998 2 BvR 1852/97 die Sache (Kinderfreibeträge im Veranlagungszeitraum 1987 für Eltern mit zwei Kindern) an den Bundesfinanzhof (BFH) zurückverwiesen und diesen aufgefordert zu prüfen, ob im vorliegenden Verfahren und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine Herabsetzung der Einkommensteuerschuld nach den in den Beschlüssen des BVerfG vom 10. November 1998 (2 BvL 42/93, 2 BvR 1220/93, 2 BvR 1852 und 1853/97) vorgegebenen Kriterien möglich ist, um den Klägern ihr verfassungsrechtlich gebotenes Kinderexistenzminimum zu gewähren und damit eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für die zurückliegenden Veranlagungszeiträume für "wenige Fälle" zu erübrigen. Sollte sich der Senat dazu nicht in der Lage sehen, so wäre der Gesetzgeber verpflichtet, "in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben". Dabei --so das BVerfG weiter-- stünde es dem Gesetzgeber frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerrechtlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen.

B.

Für den Senat stellt sich nach Prüfung sämtlicher Beschlüsse des BVerfG vom 10. November 1998 die Rechtslage dahingehend dar, daß der bisherige einkommensteuerrechtliche Familienlastenausgleich in mehrfacher Hinsicht mit dem Grundgesetz unvereinbar ist:

1. Durch Beschluß 2 BvR 1057, 1226, 980/91 (BFH-Az. neu: III R 4/99, III B 6/99, III B 7/99) hat das BVerfG zeitgleich mit den oben angeführten Beschlüssen entschieden, daß § 33c Abs. 1 bis 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) seit seiner Einführung durch Art. 3 Nr. 19 des Steuerbereinigungsgesetzes 1985 vom 14. Dezember 1984 (BGBl I, 1493, BStBl I, 659) einschließlich aller nachfolgenden Fassungen mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die in ehelicher Gemeinschaft lebenden, unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Eltern vom Abzug der Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sind.

Weiter ist § 32 Abs. 3 EStG seit der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des EStG vom 24. Januar 1984 (BGBl I, 113, BStBl I, 51) und die Nachfolgevorschrift des § 32 Abs. 7 EStG seit der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des EStG vom 15. April 1986 (BGBl I, 441, BStBl I, 172) einschließlich aller nachfolgenden Fassungen mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit die in ehelicher Gemeinschaft lebenden, unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Eltern von der Gewährung des Haushaltsfreibetrages ausgeschlossen sind.

Zu diesen Verfassungsverstößen hat das BVerfG ausdrücklich angeordnet, daß die Regelungen für die Vergangenheit weiter anwendbar sind, bis der Gesetzgeber zum 1. Januar 2000 (Kinderbetreuungskosten) bzw. zum 1. Januar 2002 (Haushaltsfreibetrag) der Verfassung gemäße Neuregelungen für die Zukunft getroffen hat. Dies bedeutet nach Ansicht des Senats, daß in ehelicher Gemeinschaft lebende Eltern bis dahin weder den Abzug von Kinderbetreuungskosten noch den Abzug eines Haushaltsfreibetrages begehren können. Der mit der Verfassung insoweit nicht im Einklang stehende Rechtszustand ist bis zu den angeführten Zeitpunkten hinzunehmen; dies gilt auch für noch nicht bestandskräftige Einkommensteuerbescheide der Veranlagungszeiträume bis einschließlich 1999 bzw. 2001.

2. Darüber hinaus erweisen sich auch die Regelungen über die Kinderfreibeträge, die in den beim Senat anhängigen Verfahren zur Entscheidung anstehen, als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Im Beschluß 2 BvL 42/93 (BFH-Az.: VI R 176/90, früher III R 206/90) hat das BVerfG ausgeführt, daß das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen ist; dabei ist das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die nicht zu unterschreitende Grenze für das einkommensteuerrechtliche Existenzminimum, welches unabhängig vom individuellen Steuersatz des Steuerpflichtigen in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen ist. Demgemäß hat das BVerfG § 32 Abs. 6 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (BGBl I, 1153, BStBl I, 391) in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1987 insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, als Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2 484 DM beanspruchen konnten.

Aus der Berechnung unter Ziffer C. I. 7. ergibt sich, daß Eltern mit einem Kind und mit einem Grenzsteuersatz von bis zu rd. 30 v.H. im Veranlagungszeitraum 1987 durch die gesetzliche Regelung nicht in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt sind. Erst ab einem Grenzsteuersatz von mehr als ca. 30 v.H. wächst die Vorschrift in die verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit hinein.

Demgemäß hat das BVerfG im Beschluß 2 BvR 1852, 1853/97 (BFH-Az.: VI R 14/99 und VI R 15/99, früher VI R 121/90 und VI R 147/90) § 32 Abs. 6 EStG in seiner Anwendung auf die Veranlagungszeiträume 1987 und 1988 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit er die Aufwendungen für den Kinderunterhalt für zwei Kinder regelt. Aus den Berechnungen unter Ziffer B. I. 2. folgt, daß die Vorschrift ab einem Grenzsteuersatz zwischen 30 und 40 v.H. in die Verfassungswidrigkeit hineinwächst.

Im Beschluß 2 BvR 1220/93 (BFH-Az.: VI B 131/92) hat das BVerfG § 54 Abs. 1 EStG i.d.F. des Art. 1 des Steueränderungsgesetzes 1991 (BGBl I, 1322, BStBl I, 665) in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1985 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, als Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2 432 DM beanspruchen konnten. Aus der Berechnung unter B. I. dieses Beschlusses ist zu entnehmen, daß Eltern mit einem Kind und mit einem Grenzsteuersatz von bis zu 40 v.H. durch die gesetzliche Regelung nicht in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt werden. Erst bei Eltern mit einem Grenzsteuersatz von mehr als 40 v.H. wächst die Vorschrift in die verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit hinein.

Aus den vorgenannten Beschlüssen zu den Kinderfreibeträgen ergibt sich zudem, daß jeweils im Einzelfall unter Beachtung der Kinderzahl ermittelt werden muß, ab welchem Grenzsteuersatz die verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit beginnt. Aus den Vorgaben des BVerfG ist ferner zu schließen, daß bei niedrigeren als den oben genannten Grenzsteuersätzen kein Verfassungsverstoß vorliegen dürfte.

C.

Das BVerfG hat den Senat aufgefordert zu prüfen, ob er die Einkommensteuer der Kläger im Ausgangsverfahren und in allen bei ihm anhängigen, die Kinderfreibeträge betreffenden Parallelverfahren auch ohne gesetzliche Änderung der für mit der Verfassung unvereinbar erklärten Normen entsprechend dem Grundgedanken der §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO 1977) --ohne Durchführung eines getrennten Billigkeitsverfahrens-- in bestimmter Höhe erlassen kann. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben.

In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen:

1. Der Senat wird zu erwägen haben, ob die in § 163 Satz 3 AO 1977 verankerte Zweigleisigkeit von Steuerfestsetzungs- und Billigkeitsverfahren dem vom BVerfG angeführten Lösungsweg entgegensteht. Sofern der Senat den beschriebenen Weg für gangbar ansehen sollte, würde der Senat --gebunden durch die zahlenmäßigen Vorgaben der Beschlüsse des BVerfG-- in den bei ihm anhängigen Verfahren den verfassungsrechtlichen Mindeststandard gewähren. Ebenso müßten die Finanzgerichte in den bei ihnen anhängigen Klageverfahren und die Finanzämter in allen noch offenen Einkommensteuerfällen verfahren.

Denn anders als im Beschluß 2 BvR 1057, 1226, 980/91 betreffend Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfreibetrag hat das BVerfG in den Entscheidungen zu den Kinderfreibeträgen nicht ausgesprochen, daß die mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Regelungen --bis zu einer für die Zukunft geltenden gesetzlichen Neuregelung-- weiter anzuwenden sind. Dieser Unvereinbarkeitserklärung ohne Übergangsregelung ist folglich Wirkung für die Vergangenheit beizumessen.

2. Für die Frage, ob der Senat die Anregung des BVerfG zum Erlaß der Einkommensteuer aufgreift, kann von Bedeutung sein, daß die Finanzämter die Einkommensteuerbescheide vergangener Veranlagungszeiträume hinsichtlich der Kinderfreibeträge allgemein mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen haben (vgl. z.B. BMF-Schreiben vom 10. April 1995 IV A 4 -S 0338- 13/95 und IV A 5 -S 0622 - 23/95, BStBl I 1995, 264 und vom 10. Juli 1992 IV A 5 -S 0338- 42/92 und IV A 6 -S 0622- 45/92, BStBl I 1992, 402). Die Vorläufigkeitsvermerke erfolgten "wegen der großen Zahl von Rechtsbehelfen, die im Hinblick auf anhängige Musterverfahren eingelegt wurden". Zur Begründung wurde in den Text der insoweit nicht bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide unter anderem ergänzend aufgenommen, daß "Änderungen dieser Regelungen von Amts wegen berücksichtigt werden; ein Einspruch ist insoweit nicht erforderlich". Im Vertrauen hierauf haben zahlreiche Betroffene über viele Veranlagungszeiträume hinweg darauf verzichtet, Einsprüche wegen zu niedriger Kinderfreibeträge einzulegen.

Die vermutlich große Zahl der noch offenen Einkommensteuerfälle könnte dafür sprechen, daß es in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, den aufgezeigten Verfassungsverstoß zu beseitigen. Dies könnte auch aus Gründen des Gewaltenteilungs- und Gleichbehandlungsgrundsatzes geboten sein. Dafür könnte auch sprechen, daß nur dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum für eine Neuregelung zusteht (vgl. Beschluß 2 BvL 42/93 unter C. III. am Ende). Wie oben unter A. angeführt, steht es dem Gesetzgeber frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen.

3. Die Finanzgerichte haben zahlreiche Klagen mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen, weil Einkommensteuerbescheide wegen der Kinderfreibeträge mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen waren. Diese Rechtsauffassung hat der Senat in einer Vielzahl von Fällen bestätigt. Wäre die Auffassung zutreffend, daß die Entscheidungen des BVerfG hinsichtlich der Kinderfreibeträge keine Wirkung für sämtliche noch nicht bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide früherer Veranlagungszeiträume, sondern nur für die beim BFH anhängigen Revisionsverfahren haben sollten, so würde sich die zuvor beschriebene Handhabung als unzutreffend erweisen. Zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes könnte es Steuerpflichtigen in Zukunft nicht mehr verwehrt werden, trotz eines Vorläufigkeitsvermerks den Instanzenzug bis zum BFH zu beschreiten. Auch dies könnte für ein Tätigwerden des Gesetzgebers sprechen.

D.

Beim Senat sind zahlreiche Revisionsverfahren betreffend die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1995 anhängig. Gleiches gilt für Klageverfahren bei den Finanzgerichten. Zwar hat das BVerfG nur zu den Veranlagungszeiträumen 1985, 1987 und 1988 entschieden. Aus den Gründen der vorerwähnten Beschlüsse ergeben sich jedoch die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Freistellung des Kinderexistenzminimums, die nach Ansicht des Senats nicht nur bei den anhängigen Verfahren, sondern auch bei den für vorläufig erklärten Steuerbescheiden der übrigen Veranlagungszeiträume zu beachten sein dürften.

Um auch in diesen Fällen entscheiden zu können, ob der Senat den vom BVerfG angeregten Entscheidungsweg beschreitet, wird zusätzlich um Beantwortung nachstehender Fragen gebeten:

1. Wieviele noch nicht bestandskräftige (angefochtene bzw. für vorläufig erklärte) Einkommensteuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1995 sind von den Entscheidungen des BVerfG betroffen?

2. Wie müssen die in den Beschlüssen des BVerfG aufgeführten Tabellen für diese Veranlagungszeiträume fortgeschrieben werden und ab welchem Grenzsteuersatz wächst die Vorschrift des § 32 Abs. 6 EStG bei einem Kind sowie bei zwei und drei Kindern jeweils in die Verfassungswidrigkeit hinein?

3. Zusätzlich wird gebeten, den jährlichen existenznotwendigen Mindestbedarf im einzelnen (Sozialhilferegelsatz, einmalige Leistungen, Mietmehrbedarf, Heizkosten) aufzuschlüsseln.

4. Letztlich wird angefragt, ob der Gesetzgeber eine rückwirkende Neuregelung beabsichtigt oder ob die Finanzverwaltung von sich aus den Vorgaben des BVerfG zugunsten aller materiell Betroffenen Rechnung tragen wird. Steuerpflichtigen kann kaum verwehrt werden, zur Durchsetzung des verfassungsrechtlich geschützten kindbedingten Mindeststandards (Kinderfreibeträge) bei ihren Finanzämtern Anträge auf Änderungen der vorläufigen Steuerfestsetzungen innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist (vgl. § 171 Abs. 8 AO 1977) zu stellen. Die anhängigen Klage- bzw. Revisionsverfahren könnten sich in der Hauptsache dadurch erledigen, daß die Finanzämter (im Festsetzungs- oder Billig-keitswege) entsprechende Einkommensteueränderungsbescheide erlassen.

Ende der Entscheidung

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