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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.10.1999
Aktenzeichen: VI R 182/98
Rechtsgebiete: EStG, GG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2
BUNDESFINANZHOF

1. Ein volljähriges behindertes und vollstationär untergebrachtes Kind ist dann nicht i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1996 außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es mit seinen eigenen Mitteln den gesamten Lebensbedarf decken kann.

2. Dieser Lebensbedarf bemißt sich im Jahr 1997 typischerweise nach einem Grundbedarf in Höhe von 12 000 DM und einem zusätzlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf (gegen R 180d Abs. 4 Satz 5 EStR 1996 bis 1998 und DA-FamEStG 63.3.6.3 Abs. 5).

3. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören die Kosten der vollstationären Unterbringung mit Ausnahme des nach der Sachbezugsverordnung ermittelten Wertes der Verpflegung. Daneben kann ein pauschaler behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe der Behinderten-Pauschbeträge nach § 33b Abs. 3 EStG nicht zusätzlich angesetzt werden.

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2

Urteil vom 15. Oktober 1999 - VI R 182/98 -

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg, Außensenate Stuttgart (EFG 1999, 75)


Gründe

I.

Die im Jahre 1971 geborene Tochter der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erlitt 1975 einen schweren Kindergartenunfall. Seit dieser Zeit ist sie schwerbehindert und zu 100 v.H. erwerbsgemindert. In ihrem Schwerbehindertenausweis sind u.a. die Merkmale aG (außergewöhnlich gehbehindert) und H (hilflos) eingetragen. Die Tochter ist seit 1992 in einem Behindertenwohnheim untergebracht und in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt. Die anfallenden Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge werden vom Kostenträger der Werkstatt übernommen.

Vom zuständigen Gemeindeunfallversicherungsverband (Unfallversicherung) erhält die Tochter Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 26 ff. des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung --SGB VII--). Für die Unterbringung im Wohnverbund werden 123,70 DM und für die Unterbringung im Arbeitsbereich der Werkstatt 51,40 DM jeweils täglich als Pflegegeld (§ 44 Abs. 5 SGB VII) bezahlt.

Die Tochter erhielt 1997 von der Unfallversicherung ferner eine Unfallrente in Höhe von 9 642 DM. Dieser Betrag ergab sich nach einer Kürzung der Rente um 1/3 wegen der Heimunterbringung (§ 60 SGB VII). Davon wurden rd. 1 900 DM als Taschengeld ausgezahlt.

Die Unfallversicherung erstattet der Klägerin ferner nach Einzelabrechnung die Kosten für Fahrten, insbesondere Besuchsfahrten der Klägerin zu ihrer Tochter. Die Klägerin erhält von der Unfallversicherung ferner Pflegegeld, wenn die Tochter zu Hause versorgt wird.

Das Arbeitsamt -Familienkasse- (der Beklagte und Revisionsbeklagte --Beklagter--) hob die Bewilligung des Kindergeldes ab Januar 1997 auf, da der notwendige Lebensunterhalt der Tochter durch die Leistungen der Unfallversicherung voll gedeckt sei.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 75 veröffentlichten Gründen ab.

Die Klägerin stützt ihre Revision auf eine Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Sie rügt ferner eine mangelnde Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--); das FG habe nicht zwischen Grund- und Mehrbedarf der behinderten Tochter differenziert. Die Einkünfte und Bezüge der Tochter würden den Grenzbetrag von 12 000 DM (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) nicht überschreiten. Die Vorinstanz habe sich zu Unrecht der Entscheidung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteil vom 14. Juni 1996 III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173) angeschlossen. Die Tochter erhalte jedoch keine Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, sondern Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Grenzbetrag von 12 000 DM sei um den maßgeblichen Behinderten-Pauschbetrag in Höhe von 7 200 DM zu erhöhen (vgl. § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG). Der Unterhaltsbedarf der Tochter bemesse sich nicht nur nach den im Zusammenhang mit der Unterbringung anfallenden Kosten (R 180d Abs. 4 Satz 5 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 1996). Bei dem Rentenbezug sei ferner eine Kostenpauschale von 360 DM zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG und den Aufhebungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und ihr ab 1. Januar 1997 weiterhin Kindergeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach dem Systemwechsel durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) solle das Kindergeld die geminderte steuerliche Leistungsfähigkeit von Familien berücksichtigen. Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung stellten das Existenzminimum der Tochter sicher; für eine steuerliche Entlastung der Klägerin bestehe deshalb kein Anlaß. Entgegen der Ansicht der Klägerin sei die bisherige Rechtsprechung des BFH zu den Vorschriften der §§ 32, 33a EStG auch für die Rechtslage ab 1996 weiterhin anwendbar. Es sei ohne Bedeutung, ob ein Kind Eingliederungshilfe oder Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung erhalte. Unerheblich sei auch, ob die Eltern darüber hinaus noch Leistungen erbringen; es sei nicht darauf abzustellen, ob die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung den angemessenen Unterhalt abdecken.

II.

Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

1. Die Verfahrensrüge ist nicht ordnungsgemäß erhoben; von einer Begründung wird nach Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs abgesehen.

2. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (i.d.F. des JStG 1996) besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber indessen klargestellt, daß der vorgenannte Begriff seit der Systemumstellung zum 1. Januar 1996 auch im Kindergeldrecht anzuwenden und eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung sowohl hinsichtlich der Gewährung des Kindergeldes als auch des Kinderfreibetrages erforderlich ist. Eine solche Interpretation gebietet auch der innere Zusammenhang von Kinderfreibetrag und Kindergeld. Das im laufenden Kalenderjahr als Steuervergütung gezahlte Kindergeld ist als einkommensteuerrechtliche Vorausleistung aufzufassen (§ 31 Satz 3 EStG; vgl. Schmidt/Glanegger, Einkommensteuergesetz, 18. Aufl., 1999, § 31 Rz. 20). Wird die gebotene steuerrechtliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt, ist bei der Veranlagung zur Einkommensteuer der Kinderfreibetrag abzuziehen (§ 31 Satz 4 EStG) und das Kindergeld zu verrechnen (§ 31 Satz 5 EStG).

b) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (BFH-Urteile vom 12. November 1996 III R 53/95, BFH/NV 1997, 343; in BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, daß ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muß es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist folglich das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (Seewald/Felix, in Kirchhof/ Söhn, Einkommensteuergesetz, § 63 Rdnr. F 11). Nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.

Demnach kann für das Steuerrecht auch nicht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum wortgleichen § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Bundeskindergeldgesetzes in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung (BKGG a.F.) zurückgegriffen werden (vgl. BSG-Urteile vom 14. August 1984 10 RKg 6/83, BSGE 57, 108; vom 3. Dezember 1996 10 RKg 12/95, Sozialrecht 3. Folge --SozR 3-- 5870 § 11a BKGG Nr. 10). Danach reichte es für einen Anspruch auf Kindergeld bereits aus, daß das behinderte Kind dauernd erwerbsunfähig war.

c) Ein behindertes Kind ist --positiv ausgedrückt-- erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, daß den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.

Der gesamte existentielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.

Der Grundbedarf kann für das Jahr 1997 mit dem am Existenzminimum eines Alleinstehenden orientierten Betrag von 12 000 DM beziffert werden (vgl. BTDrucks 13/381; 13/1558, S. 2, 7, 139 zu § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG 1996; § 33a Abs. 1 Satz 1 EStG und § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG). Maßgröße für diesen am Existenzminimum orientierten Betrag ist der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf. Dieser umfaßt neben Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Heizung auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesem Minimum gehören in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt, die auch die Kontakte zur Familie einschließen, und eine Teilnahme am kulturellen Leben (vgl. BVerfG-Beschluß vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.). Da es gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG darauf ankommt, ob sich das behinderte Kind "selbst unterhalten" kann, muß auch bei ihm zunächst ein am Existenzminimum orientierter Betrag als allgemeiner Unterhaltsbedarf anerkannt werden.

Bei vollstationär zu Lasten von Sozialleistungsträgern untergebrachten Kindern sind aber die Kosten der Verpflegung abzuziehen, da diese bereits im Grundbedarf enthalten sind. Diese Verpflegungskosten können mangels anderer Anhaltspunkte und aus Gründen der Vereinfachung anhand der Sachbezugsverordnung mit monatlich 351 DM bewertet werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 der Sachbezugsverordnung --SachBezV-- 1997; vgl. Bundesministerium der Finanzen --BMF-- Schreiben vom 9. März 1998 IV B 5 -S 2280- 45/98, Tz. 18, BStBl I 1998, 347, 349, Tz. 18; Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes --DA-FamEStG-- 63.4.2.9); dies ergibt einen Jahresbetrag in Höhe von 4 212 DM.

d) Die Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt setzt des weiteren voraus, daß ein behinderungsbedingter Mehrbedarf anerkannt wird, den gesunde Kinder nicht haben. Davon geht im Grundsatz auch die Verwaltung aus (vgl. R 180d Abs. 4 EStR 1996 bis 1998, ferner DA-FamEStG 63.3.6.3 Abs. 2). Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden Belastungen, z.B. Wäsche, allgemeine Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/Glanegger, a.a.O., § 33b Rz. 5). Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen. Dies gilt jedoch regelmäßig nicht bei vollstationärer Unterbringung des Kindes. Denn in den Heimkosten sind verschiedene Bestandteile enthalten, die von dem Pauschbetrag des § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG typisierend mit erfaßt werden. Der Ansatz der Heimkosten entspricht deshalb einem Einzelnachweis, so daß daneben für diesen Pauschbetrag kein Raum ist (zu einem rechtsähnlichen Problem: vgl. BFH-Urteil vom 10. Mai 1968 VI R 291/67, BFHE 92, 553, BStBl II 1968, 647).

Bei der Ermittlung des Mehrbedarfs des in einem Heim untergebrachten behinderten Kindes können ferner ergänzende persönliche Betreuungsleistungen der Eltern einzubeziehen sein. Dies gilt ggf. auch für --eventuell pauschal zu ermittelnde-- Fahrtkosten (vgl. hierzu H 186 bis 189 des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs --EStH-- 1996 bis 1998 - Stichwort: Fahrtkosten Behinderter). Auch diese Kosten sind neben den Pauschbeträgen des § 33b EStG zu erfassen (vgl. Schmidt/Drenseck, a.a.O., § 33 Rz. 35, Stichwort: Fahrtkosten Behinderter).

Was die Berücksichtigung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs betrifft, können die Eltern eines behinderten Kindes jedoch nicht auf die Geltendmachung außergewöhnlicher Belastungen (§ 33 EStG) oder die Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags (§ 33b Abs. 1 bis 3 i.V.m. Abs. 5 EStG) verwiesen werden (vgl. aber Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 32 EStG Anm. 118). Denn bei der Ermittlung des notwendigen Unterhaltsbedarfs des behinderten Kindes selbst bzw. seiner Fähigkeit zum Selbstunterhalt können anderweitige steuerliche Entlastungsmöglichkeiten der Eltern keine Berücksichtigung finden. Außerdem dienen die genannten Entlastungen nicht der Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern, sondern anderen Zwecken, und können daher nicht in die Bemessung des Grundbedarfs eines behinderten Kindes einbezogen werden (vgl. BVerfG-Beschluß in BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653, 658). Im übrigen setzt die Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags auf die Eltern gerade einen Kindergeldanspruch voraus (vgl. § 33b Abs. 5 EStG).

e) Ist in dieser Weise der gesamte Unterhaltsbedarf des behinderten Kindes ermittelt, so ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob das Kind über eine hinreichende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts ausreicht.

3. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze verfügt die Tochter über ausreichende Mittel, um ihren gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken.

a) Neben den Kosten für die Heimunterbringung ist wegen der persönlichen Betreuung durch die Klägerin u.a. an Wochenenden ein zusätzlicher Bedarf in Höhe des gewährten Pflegegeldes von 1 074 DM sowie der behinderungsbedingten Fahrtkosten von 883 DM anzuerkennen. Angesichts der Heimunterbringung und mangels anderen Vortrags besteht kein Anlaß, die Pauschalierungsregelung in H 186 bis 189 (Fahrtkosten Behinderter) EStH 1996 bis 1998 anzuwenden.

Der Gesamtbedarf der Tochter berechnet sich somit wie folgt:

Grundbedarf 12 000 DM Heimunterbringung 63 036 DM ./. Verpflegung 4 212 DM 58 824 DM Pflegebedarf 1 074 DM Fahrtbedarf 883 DM Gesamtbedarf 72 781 DM

b) Die Tochter erhielt im Jahre 1997 folgende Mittel in Form von Sozialleistungen:

Heimunterbringung 63 036 DM Rente (einschl. Taschengeld) 9 642 DM Pflegegeld 1 074 DM Fahrtkostenersatz 883 DM Summe 74 635 DM

c) Die Tochter verfügt demnach über mehr Mittel, als sie für ihren existentiellen Lebensunterhalt benötigt. Es braucht daher nicht entschieden zu werden, ob von den Kosten für die Heimunterbringung noch solche für die Unterkunft abzuziehen sind.

4. Das gleiche Ergebnis ergibt sich, wenn man --wie die Verwaltung-- in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darauf abstellt, ob das behinderte Kind über eigene Einkünfte oder zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmte oder geeignete Bezüge von mehr als 12 000 DM verfügt (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 1998, 347, 349 Tz. 16 ff.; DA-FamEStG 63.3.6.3 Abs. 2 und 63.4.2.3 Abs. 1 Sätze 2 und 3).

a) Bei nicht behinderten Kindern hat der Gesetzgeber in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit dem Betrag von 12 000 DM ausdrücklich einen Grenzwert bestimmt, bei dessen Überschreitung die Anspruchsberechtigung der Eltern entfällt. Dieser Regelung liegt die Wertung zugrunde, daß nicht behinderte Kinder in einem solchen Fall über eine hinreichende Leistungsfähigkeit verfügen, die es ihnen erlaubt, finanziell für sich selbst zu sorgen, und folglich eine steuerrechtliche Entlastung bei den Eltern nicht mehr geboten ist.

Für behinderte Kinder hat der Gesetzgeber zwar keinen festen Grenzbetrag bestimmt. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hebt jedoch ausdrücklich hervor, daß ein behindertes Kind die Fähigkeit besitzen muß, sich selbst zu unterhalten. Auch hierin kommt zum Ausdruck, daß der Anspruch auf Kindergeld bzw. der Ansatz eines Kinderfreibetrags dann entfällt, wenn das behinderte Kind auf elterliche Unterstützung nicht mehr angewiesen ist.

Wird den Auswirkungen der Behinderung des Kindes zusätzlich dadurch Rechnung getragen, daß behinderungsbedingte Bezüge außer Betracht bleiben und ein etwa verbleibender behinderungsbedingter Mehraufwand darüber hinaus bei den Einkünften und Bezügen berücksichtigt wird, dann ist kein hinreichender Grund mehr ersichtlich, den Grenzbetrag von 12 000 DM nicht auch bei behinderten Kindern anzuwenden. Dies erscheint auch aus Gründen der Gleichbehandlung geboten (vgl. auch Schmidt/Glanegger, a.a.O., § 32 Rz. 51; Kanzler, a.a.O., § 32 EStG Anm. 118).

Der auf dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit beruhende Rechtsgedanke, daß nur solche Bezüge zu berücksichtigen sind, die zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind, kommt auch in § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG zum Ausdruck; danach bleiben Bezüge, die für besondere Ausbildungszwecke bestimmt sind, außer Ansatz (Schmidt/Glanegger, a.a.O., § 32 Rz. 51). Es entspricht im übrigen ständiger Rechtsprechung zu § 33a Abs. 1 EStG, Bezüge, die einer unterstützten Person zweckgebunden zufließen, nicht anzurechnen bzw. außer Ansatz zu lassen (vgl. BFH-Urteile vom 22. Juli 1988 III R 253/83, BFHE 154, 111, BStBl II 1988, 830; vom 22. Juli 1988 III R 175/86, BFHE 154, 115, BStBl II 1988, 939). Entsprechendes gilt für Einkünfte, soweit sie nicht zur Bestreitung des Unterhalts zur Verfügung stehen (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 EStG).

b) Zwar stellt das der Tochter für die Unterbringung im Wohnverbund und im Arbeitsbereich gewährte Pflegegeld (§ 44 Abs. 5 SGB VII) einen solchen behinderungsbedingten Bezug dar. Das gleiche gilt für das Pflegegeld, wenn die Tochter zu Hause versorgt wird. Dieses wird gleichfalls wegen eines besonderen, über das Übliche hinausgehenden (Betreuungs-)Bedarfs gezahlt (vgl. DA-FamEStG 63.4.2.3 Abs. 3 Nr. 8). Entsprechendes gilt für den Fahrtkostenersatz. Diese Leistungen sind zweckgebunden; sie stellen keinen Bezüge dar, die zur Bestreitung des üblichen Unterhalts bestimmt oder geeignet sind.

c) Anzusetzen ist jedoch die Unfallrente als Bezug (vgl. § 3 Nr. 1 a EStG; vgl. DA-FamEStG 63.4.2.4 Abs. 4); insoweit handelt es sich um eine Leistung mit Lohnersatzfunktion. Selbst wenn die gewährte Unterkunft nicht zusätzlich als Bezug berücksichtigt wird, ergeben bereits die Rentenzahlung von 9 642 DM und die Verpflegung im Wert von 4 212 DM eine Summe, die --auch nach Abzug der Kostenpauschale von 360 DM (DA-FamEStG 63.4.2.3 Abs. 4)-- deutlich über dem Grenzbetrag von 12 000 DM liegt.

5. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet die Benachteiligung Behinderter. Dadurch wird zwar ein subjektives Recht behinderter Menschen normiert (Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 4. Aufl., Art. 3 Rn. 383). Die Klägerin ist aber nicht Trägerin dieses Grundrechts (vgl. im übrigen BVerfG-Beschluß vom 19. Januar 1999 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341).

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