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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 16.02.2005
Aktenzeichen: VI R 37/01
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG


Vorschriften:

AO 1977 § 165
AO 1977 § 165 Abs. 1
EStG § 32 Abs. 6
EStG § 53
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Streitig ist, ob eine mit verfassungsrechtlichen Einwänden begründete Klage gegen einen in diesem Punkt nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) vorläufig ergangenen Einkommensteuerbescheid zulässig war.

Die verheirateten Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) haben einen im Jahr 1983 geborenen Sohn. Sie wurden im Streitjahr 1989 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für 1989 vom 8. Januar 1991 einen Kinderfreibetrag in Höhe von 2 484 DM nach § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der damals gültigen Fassung. Der Bescheid war hinsichtlich der Höhe des Kinderfreibetrages wegen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Juni 1990 gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufig.

Die Kläger legten u.a. wegen des Kinderfreibetrages Einspruch ein und erklärten sich insoweit mit einem Ruhen des Verfahrens einverstanden. Mit Einspruchsentscheidung vom 8. März 1999, die aus anderen Gründen zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer führte, wies das FA den Einspruch hinsichtlich des Kinderfreibetrages als unbegründet zurück. Mit der dagegen erhobenen Klage machten die Kläger die Verfassungswidrigkeit der Familienbesteuerung ab dem Jahr 1983 geltend und beantragten unter Hinweis auf die Beschlüsse des BVerfG vom 10. November 1998 2 BvL 42/93, 2 BvR 1852/97, 2 BvR 1853/97, BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194, das Verfahren auszusetzen bzw. ruhen zu lassen, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung der Familienbesteuerung vorgenommen habe.

Am 19. Oktober 2000 erließ das FA einen aufgrund des § 53 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Familienförderung --FamFöG-- vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552) geänderten Einkommensteuerbescheid und berücksichtigte einen Abzugsbetrag für das Kind in Höhe von 4 752 DM.

Die Kläger erklärten daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Dem trat das FA entgegen. Die Klage sei wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, da es den Klägern darum gegangen sei, den Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen und nach einer günstigeren Neuregelung wegen der Entscheidungen des BVerfG in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194 höhere Freibeträge in Anspruch nehmen zu können. Diesem Zweck habe die Vorläufigkeit in vollem Umfang genügt. Die Klage könne deshalb auch nicht in der Hauptsache erledigt sein.

Mit Gerichtsbescheid vom 25. Januar 2001 entschied das Finanzgericht (FG), dass der Rechtsstreit sich in der Hauptsache erledigt habe, und legte dem FA die Kosten auf. Die Kläger hätten "aus heutiger Sicht" ein Rechtsschutzbedürfnis gehabt. Das BVerfG habe zwar in den Beschlüssen in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194 die Vorschrift des § 32 Abs. 6 EStG u.a. für das jeweilige Streitjahr und die jeweilige Kinderzahl als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, dem Bundesfinanzhof (BFH) aber aufgegeben, in den entschiedenen Verfahren und den Parallelverfahren die Möglichkeit einer verfassungsrechtlich veranlassten Herabsetzung der Einkommensteuerschuld auch ohne Durchführung eines gesonderten Billigkeitsverfahrens zu prüfen und damit ggf. eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre und für "wenige Fälle" überflüssig zu machen. Deshalb sei unsicher gewesen, ob ein bloßer Vorläufigkeitsvermerk in jedem Fall dieselbe Rechtsposition wie ein Rechtsbehelf vermitteln könne.

Dagegen wendet sich das FA mit der Revision. Unter Berufung auf BFH-Rechtsprechung macht es geltend, die Klage sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzuweisen. Zwar resultierten aus den Beschlüssen des BVerfG in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194 Zweifel, ob den Unvereinbarkeitserklärungen auch hinsichtlich der wegen eines Vorläufigkeitsvermerks materiell nicht bestandskräftigen Bescheide Wirkung für die Vergangenheit beizumessen sei (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Januar 1999 VI R 176/90, BFHE 188, 48, BStBl II 1999, 233). Das FG verkenne aber, dass es auf die retrospektive Betrachtungsweise nicht ankommen könne. Maßgeblich müsse nämlich der Zeitpunkt des Ergehens der Sachentscheidung sein, wie der BFH herausgestellt habe (Urteil vom 13. April 2000 XI R 3, 4/99, BFH/NV 2001, 41, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2001, 31). Die Kläger hätten im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses, also dem Datum des Abhilfebescheides vom 19. Oktober 2000, kein rechtlich schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung des Gerichts mehr gehabt. Spätestens ab dem In-Kraft-Treten des FamFöG vom 22. Dezember 1999 hätte der prozesswirtschaftliche Effekt des § 165 Abs. 1 AO 1977 wieder in Rechnung gestellt werden müssen, so dass ein zuvor etwa bestehendes Rechtsschutzbedürfnis entfallen sei.

II. Die Revision ist nicht begründet. Der Rechtsstreit ist --wie das FG zutreffend entschieden hat-- in der Hauptsache erledigt, nachdem der angefochtene Einkommensteuerbescheid nach In-Kraft-Treten des FamFöG vom 22. Dezember 1999 geändert wurde.

1. Die Klage wurde zulässig erhoben. Die Kläger hatten trotz des Vorläufigkeitsvermerks (§ 165 AO 1977) ein Rechtsschutzbedürfnis.

a) Zwar fehlt --wie das FA vorgetragen hat-- nach der ständigen Rechtsprechung des BFH das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, diese Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (BFH-Beschlüsse vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803; vom 10. November 1993 X B 83/93, BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119, und vom 18. Februar 1994 VI B 123/93, BFH/NV 1994, 548). Denn dann kann ein Steuerpflichtiger im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden (BFH-Beschluss in BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119). Etwas anderes kann ausnahmsweise aber dann gelten, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. März 1996 III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, und vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/92, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408).

b) Im Streitfall hatte das BVerfG die Musterverfahren schon vor Erlass der Einspruchsentscheidung entschieden (Beschlüsse vom 10. November 1998 in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194). In diesen Verfahren hatte es die auch von den Klägern geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der Familienbesteuerung festgestellt. Das FA hatte die Einsprüche zurückgewiesen, nachdem diese Beschlüsse ergangen waren und bevor die Auswirkungen auf den Streitfall --durch das FamFöG vom 22. Dezember 1999-- geklärt waren.

c) Im Zeitpunkt der Klageerhebung war deshalb offen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Kläger eine verfassungsgemäße Steuerentlastung beanspruchen konnten. Denn auf Grund der Beschlüsse des BVerfG in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194 war unsicher, ob auch die wegen eines Vorläufigkeitsvermerks materiell nicht bestandskräftigen Bescheide wegen der Verfassungswidrigkeit der Familienbesteuerung geändert würden. Das FamFöG vom 22. Dezember 1999, das nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten die Rechte der Kläger gewahrt hat, wurde erst später --nachdem die Kläger bereits Klage erhoben hatten-- erlassen. Daher fehlte den Klägern im Zeitpunkt der Klageerhebung das Rechtsschutzbedürfnis nicht. Davon ist offenbar auch die Revision ausgegangen.

2. Entgegen der Auffassung des FA steht der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache ein Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses infolge des FamFöG vom 22. Dezember 1999 nicht entgegen. Denn eine wirksame Erledigungserklärung kann (erst) nach Rechtshängigkeit der Hauptsache bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung oder --wenn eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet-- bis zur Entscheidung des Rechtsstreits abgegeben werden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 138 Rz. 15).

Vorliegend wurde das FamFöG --ebenso wie der darauf beruhende Änderungsbescheid-- erlassen, nachdem die Klage zulässig erhoben worden war. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob bereits der Erlass des FamFöG --wie das FA meint-- oder erst der folgende Änderungsbescheid zu einer Erledigung des Rechtsstreits und damit zu einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses geführt hat. Denn die Kläger haben ihren Klageantrag nach Erlass des FamFöG und des Änderungsbescheides, aber noch vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung und damit rechtzeitig umgestellt.

3. Weder der Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit noch der Zweck des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 AO 1977 rechtfertigen angesichts der besonderen Ausgangslage im Streitfall eine andere Beurteilung. Denn das Rechtsschutzbedürfnis der Kläger ergab sich aus der Unsicherheit, ob nach den Beschlüssen des BVerfG in BVerfGE 1999, 246, 273, BStBl II 1999, 174, 194 und vor Verabschiedung des FamFöG der Vorläufigkeitsvermerk ausreichte, um ihrem Rechtsschutzbegehren zu genügen. Im Übrigen hätte sich das Klageverfahren vermeiden lassen, wäre der Einspruch der Kläger nicht abgewiesen worden, bevor diese Unsicherheit beseitigt war.

Ende der Entscheidung

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