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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 22.05.2006
Aktenzeichen: VI R 51/04
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG
Vorschriften:
AO 1977 § 110 | |
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8 |
Gründe:
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes tätiger Rechtsanwalt. Er war im Streitjahr 1997 bei einer Sozietät angestellt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) veranlagte den Kläger für die Jahre 1994 bis 1996 zur Einkommensteuer. Dabei berücksichtigte es neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch negative Einkünfte aus Kapitalvermögen und in den Jahren 1994 und 1995 Verluste aus selbständiger Arbeit. Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für 1996 kam es zu einem Schriftwechsel zwischen den Beteiligten. Auf Anfrage des FA erklärte der Kläger mit Schreiben vom 23. Februar 1999, er habe weder im Streitjahr 1997 noch im Jahr 1998 Einkünfte aus selbständiger Arbeit bezogen.
Dem Kläger wurden im Rahmen der allgemeinen Versendung von Erklärungsvordrucken für das Streitjahr die Vordrucke für die Einkommensteuererklärung übersandt. Das FA forderte den Kläger zur Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr auf. Mit Schreiben vom 23. März 1999 drohte das FA die Festsetzung eines Zwangsgelds an, sollte der Kläger die Steuererklärung nicht bis zum 22. April 1999 einreichen. Der Kläger gab die Steuererklärung am 6. März 2000 ab. Das FA lehnte den Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer ab, da er nicht innerhalb der Antragsfrist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eingegangen sei. Der Kläger legte hiergegen Einspruch ein und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, er habe die Ausschlussfrist für den Antrag auf Veranlagung nicht gekannt. Er habe aufgrund des vorangegangenen Verhaltens des FA auch keinen Anlass gehabt, sich über den Lauf irgendwelcher von der Finanzbehörde nicht erwähnter Fristen zu informieren. Nach den Hinweisen in der Zwangsgeldandrohung habe der Kläger nur davon ausgehen können, dass ihm die Verhängung eines Zwangsgeldes und im schlimmsten Fall die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen drohe.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Der Kläger habe die am 31. Dezember 1999 abgelaufene Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG schuldlos versäumt, so dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Der Kläger habe glaubhaft versichert, die Ausschlussfrist nicht gekannt zu haben. Es gereiche dem Kläger nicht zum Nachteil, dass er Volljurist sei. Denn er gehöre nicht zu den auf dem Gebiet des Steuerrechts tätigen berufsmäßigen Vertretern. Für die Frage des Verschuldens komme dem Verhalten des FA bis zum Ablauf der Ausschlussfrist entscheidende Bedeutung zu. Nach dem Schreiben des Klägers vom 23. Februar 1999 habe festgestanden, dass kein Grund mehr für eine Amtsveranlagung gegeben sei. Dennoch habe das FA später ein Zwangsgeld zur Abgabe der Einkommensteuererklärung angedroht. In dieser Verfügung sei die Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung ausdrücklich hervorgehoben worden. Als Sanktion sei nur die Festsetzung eines Zwangsgeldes und die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, nicht aber ein Ausschluss vom Veranlagungsverfahren angedroht worden. Selbst wenn der Kläger die Anleitung zur Steuererklärung zur Kenntnis genommen hätte, so wären die dortigen, allgemein gehaltenen Ausführungen aus der Sicht des Klägers überlagert worden durch das Verhalten des FA im Einzelfall.
Mit der Revision trägt das FA vor, im Zeitpunkt der mit der Zwangsgeldandrohung verbundenen Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung sei für das FA nicht erkennbar gewesen, dass die Veranlagung nur auf Antrag durchzuführen sei. Dies habe erst nach Eingang und Prüfung der Einkommensteuererklärung sicher festgestanden. Der Aufforderung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung und der Zwangsgeldandrohung sei nur zu entnehmen, dass das FA prüfen wolle, ob eine Pflicht zur Durchführung einer Veranlagung bestehe. Dem FA könne auch der unterbliebene Hinweis auf den drohenden Ablauf der Antragsfrist nicht zum Nachteil gereichen. Es liege in der Sphäre des Steuerpflichtigen, wenn ihm durch Unterlassen eines fristgerechten Antrags Vorteile in Form einer Steuererstattung entgehen würden. Den Kläger treffe hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden, da er den in der "Anleitung zur Einkommensteuererklärung" enthaltenen Hinweis auf die Fristgebundenheit der Antragsveranlagung nicht hinreichend zur Kenntnis genommen habe. Die Antragsfrist existiere seit mehr als 30 Jahren. Auch vor diesem Hintergrund sei ein Irrtum darüber, dass Antragsveranlagungen fristgebunden seien, nicht entschuldbar.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat das FA zu Recht verpflichtet, den Kläger für das Streitjahr zur Einkommensteuer zu veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG wird die Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Der Antrag ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen.
Im Streitfall hat der Kläger innerhalb der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG, die mit Ablauf des Jahres 1999 endete, keinen Antrag auf Veranlagung gestellt. Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ging dem FA erst am 6. März 2000 zu.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) führt auch weder die Übersendung von Erklärungsvordrucken noch die Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen oder die Festsetzung eines Zwangsgelds zur Erzwingung der Einkommensteuererklärung zu einer Verlängerung der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG (vgl. BFH-Urteile vom 8. Mai 1979 VIII R 78/77, BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676, und vom 14. März 1989 I R 77/85, BFH/NV 1991, 311).
2. Dem Kläger ist wegen Versäumung der Antragsfrist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wie das FG zutreffend erkannt hat.
a) Die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ist eine Ausschlussfrist, bei deren Versäumung nach § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann (vgl. zu § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG 1977 und 1979 bereits BFH-Urteile vom 29. September 1988 IV R 217/85, BFHE 155, 94, BStBl II 1989, 196, und in BFH/NV 1991, 311, sowie zu § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG: BFH-Beschluss vom 4. November 2004 VI B 104/04, BFH/NV 2005, 326).
Gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. "Ohne Verschulden" verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand dann, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat (vgl. BFH-Urteile vom 9. August 2000 I R 33/99, BFH/NV 2001, 410; vom 4. März 1998 XI R 44/97, BFH/NV 1998, 1056, und vom 11. August 1993 II R 6/91, BFH/NV 1994, 440). Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht (BFH-Urteile vom 29. Juli 1954 V 50/54 U, BFHE 59, 212, BStBl III 1954, 290; vom 8. März 1957 VI 117/55 U, BFHE 64, 509, BStBl III 1957, 190; vom 9. März 1961, V 76/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1961, 160; vom 28. April/1. September 1961 III 77/59 U, BFHE 74, 120, BStBl III 1962, 45; vom 3. Juli 1986 IV R 133/84, BFH/NV 1986, 717, und vom 14. September 1999 III R 78/97, BFHE 189, 273, BStBl II 2000, 37). Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist oder über materielles Recht begründen dagegen eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen Fällen kann dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zugemutet werden, von den Verfahrensrechten in der gebotenen Weise Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren (BFH-Urteile in BFH/NV 1986, 717, und in BFHE 189, 273, BStBl II 2000, 37). Zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes dürfen die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglicht und nicht erschwert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835, m.w.N.).
b) Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung der Vorinstanz, der Kläger sei ohne Verschulden an der Einhaltung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG gehindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat zur Überzeugung des FG glaubhaft versichert, die Frist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG nicht gekannt zu haben. Damit befand sich der Kläger in einem Irrtum über die Frist selbst, wie das FG zutreffend entschieden hat.
Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die Würdigung des FG, den Kläger treffe hinsichtlich des Irrtums über die Antragsfrist kein Verschulden, ist möglich. Sie verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, so dass der Senat hieran mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist. Entgegen der Auffassung des FA hat die Vorinstanz die Frage, ob der Kläger die Antragsfrist ohne Verschulden versäumt hat, nicht offen gelassen. Vielmehr hat das FG die Fristversäumnis ausdrücklich als unverschuldet bewertet. Zur Begründung hat das FG im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der Kläger auf Grund der Androhung des Zwangsgelds zur Erzwingung der Einkommensteuererklärung schuldlos angenommen habe, er sei zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet. Ein Verschulden des Klägers hat das FG insbesondere deshalb verneint, weil in der Zwangsgeldandrohung als Sanktion im Falle der Nichtabgabe der Steuererklärung neben der Festsetzung des Zwangsgelds nur auf die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen hingewiesen worden war, nicht aber auf den Ausschluss vom Veranlagungsverfahren. Diese Würdigung des FG ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Sie kann revisionsrechtlich nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass das FA seine eigene, abweichende Würdigung an die Stelle der Würdigung des FG setzt. Mit dem Einwand des FA, der Kläger habe die Antragsfrist aus der Anleitung zur Einkommensteuererklärung kennen müssen, hat sich das FG auseinander gesetzt. Es hat insoweit darauf abgestellt, dass die allgemein gehaltenen Ausführungen in der Anleitung aus der Sicht des Klägers durch das Verhalten des FA im Einzelfall überlagert worden seien. Auch diese tatrichterliche Würdigung begegnet revisionsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken.
Auf die Frage, ob das FA im Zeitpunkt der Zwangsgeldandrohung wusste, dass kein Fall der Amtsveranlagung vorlag, kommt es nicht an. Ebenso ist es unerheblich, ob die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung und die Zwangsgeldandrohung ermessensfehlerfrei waren. Bei dieser Sachlage kann im Streitfall auch dahin stehen, ob die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar ist.
Ende der Entscheidung
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