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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.12.2006
Aktenzeichen: VI R 59/02
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO, EStG
Vorschriften:
AO 1977 § 110 Abs. 1 Satz 1 | |
AO 1977 § 129 | |
AO 1977 § 150 Abs. 2 Satz 1 | |
AO 1977 §§ 172 ff. | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 | |
FGO § 96 Abs. 1 Satz 1 | |
FGO § 96 Abs. 2 | |
FGO § 118 Abs. 2 | |
FGO § 119 Nr. 3 | |
FGO § 126 Abs. 2 | |
EStG § 10 Abs. 1 Nr. 7 |
Gründe:
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) studierte von 1993 bis 1997 Betriebswirtschaft. Die Entfernung von seinem Wohnort zur Universität betrug 120 Kilometer. Im Streitjahr 1996 erzielte er Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, Gewerbebetrieb und nichtselbständiger Arbeit. In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte er wie in den Vorjahren Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung als Sonderausgaben geltend, indem er auf dem Mantelbogen in der hierfür vorgesehenen Zeile "BWL-Studium, Miet- und Fahrtkosten, Fachliteratur, maximal 1.200" eintrug. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid vom 5. Mai 1998 den geltend gemachten Betrag von 1 200 DM als Sonderausgaben.
Am 26. Mai 1999 beantragte der Kläger die Änderung des Einkommensteuerbescheides dahingehend, Sonderausgaben in Höhe von 2 400 DM anzusetzen. Nähere Angaben zu den höheren Aufwendungen machte er nicht. Der Antrag wurde vom FA abgelehnt.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1344 veröffentlichten Gründen ab. Für die Anwendung der Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) sei es bereits zweifelhaft, ob ein nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen vorliege, da der Kläger nicht vorgetragen habe, dass ihm tatsächlich höhere Aufwendungen als die vom FA berücksichtigten 1 200 DM entstanden seien. Den Kläger treffe jedenfalls ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der höheren Aufwendungen.
Mit der vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuer 1996 auf einen Betrag von 238 DM festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
1. Die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt nicht vor. Der Senat hat die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge geprüft. Er erachtet sie nicht für durchgreifend und sieht insoweit von einer Begründung ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).
b) Für die vom Kläger vorgetragene Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus § 96 Abs. 2 FGO fehlt es an einer schlüssigen Rüge. Bei der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist zwar wegen der unwiderleglichen Vermutung des § 119 Nr. 3 FGO grundsätzlich keine schlüssige Darlegung erforderlich, inwieweit das angefochtene Urteil auf dem behaupteten Verfahrensmangel beruhen kann. Betrifft der Verstoß jedoch --wie im Streitfall-- nur einzelne Feststellungen, ist abweichend davon darzulegen, dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des FG eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 2001 VIII B 79/00, BFH/NV 2001, 1553; vom 10. Januar 2000 VIII B 71/99, BFH/NV 2000, 854; vom 8. April 1998 VIII R 32/95, BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676; Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 119 Rz. 14). An einer solchen Darlegung fehlt es im Streitfall. Denn das Vorbringen des Klägers, dass die Ausbildungskosten auch in den Vorjahren ohne Einzelangabe im Rahmen der Höchstbeträge berücksichtigt worden seien, ist schon nach dessen eigenem Vortrag nicht entscheidungserheblich.
2. Das FG hat die Änderung des Einkommensteuerbescheides vom 5. Mai 1998 zu Recht abgelehnt. Es hat zutreffend angenommen, dass die Korrekturvorschriften der §§ 129, 172 ff. AO 1977 nicht eingreifen.
a) Der Einkommensteuerbescheid ist nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern. Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Das FG hat es zutreffend dahinstehen lassen, ob dem FA durch das Schreiben des Klägers vom 26. Mai 1999 Tatsachen in Gestalt höherer Aufwendungen für dessen Berufsausbildung nachträglich bekannt geworden sind. Denn den Kläger trifft jedenfalls ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden dieser Aufwendungen.
Als grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (Beschluss vom 2. März 2005 IX B 176/03, BFH/NV 2005, 1577; Urteil vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65, jeweils m.w.N.).
Ob der Kläger im Streitfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteile vom 6. Oktober 2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156; vom 8. Dezember 1998 IX R 14/97, BFH/NV 1999, 743, jeweils m.w.N.).
Das FG hat seiner Entscheidung den richtigen Verschuldensmaßstab zugrunde gelegt. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass grob fahrlässiges Handeln vorliegen kann, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt (BFH-Urteile vom 16. September 2004 IV R 62/02, BFHE 207, 269, BStBl II 2005, 75; vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161). Beruht die unvollständige Steuererklärung dagegen allein auf einem Rechtsirrtum infolge mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212; Urteile vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978; vom 10. August 1988 IX R 219/84, BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131, m.w.N.). Der Vorwurf grober Fahrlässigkeit entfällt jedoch nur dann, wenn der Rechtsirrtum subjektiv entschuldbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 23. November 2001 VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II 2002, 296; vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379, m.w.N.).
Auch auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige in den Fällen nicht berufen, in denen er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (BFH-Urteil vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441; Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 173 Rz. 115, jeweils m.w.N.). Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 müssen die Angaben in den Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen gemacht werden. Um eine Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muss ein Steuerpflichtiger das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Auch ein steuerrechtlich nicht ausgebildeter Laie handelt daher grob fahrlässig, wenn er eine im Erklärungsformular ausdrücklich gestellte und auch verstandene Frage nur deshalb nicht oder nur unvollständig beantwortet, weil er infolge eines Rechtsirrtums der Ansicht ist, die unterlassenen Angaben hätten in seinem Einzelfall keine Auswirkung (vgl. BFH-Urteil in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz. 99; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Tz. 76; Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz. 73, m.w.N.).
Auf der Grundlage der vorstehenden Rechtsgrundsätze ist die Würdigung des FG, den Kläger treffe im Hinblick auf das nachträgliche Bekanntwerden höherer Ausbildungskosten ein grobes Verschulden, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, so dass der Senat hieran mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist. Das FG hat grob fahrlässiges Handeln des Klägers insbesondere daraus abgeleitet, dass der Kläger in der Steuererklärung nur pauschal den Betrag von 1 200 DM geltend gemacht und keine vollständige Aufstellung über die ihm entstandenen Aufwendungen für seine Berufsausbildung beigefügt habe. Es hat zutreffend angenommen, dass die grobe Fahrlässigkeit nicht durch den Irrtum des Klägers darüber, dass es sich bei dem in § 10 Abs. 1 Nr. 7 des Einkommensteuergesetzes (EStG) genannten Betrag um einen Freibetrag handele, dessen Höhe sich auf 1 200 DM belaufe, ausgeschlossen wird. Nach den Feststellungen des FG hätte dieser zweifache Rechtsirrtum des Klägers bei gehöriger Sorgfalt vermieden werden können. Aus dem Vordruck sei für den Kläger eindeutig ersichtlich gewesen, dass in Zeile 79 des Mantelbogens der genaue Betrag der dem Kläger tatsächlich für die Berufsausbildung entstandenen Aufwendungen anzugeben war. Zusätzlich sei in der amtlichen Anleitung zur Einkommensteuererklärung auf die Vorlage von Einzelaufstellungen und Belegen hingewiesen worden. Dort werde zudem der Charakter des in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG genannten Betrags als Höchstbetrag verständlich erläutert und durch eine auffällige Markierung am Rand auf dessen geänderte Höhe hingewiesen. Auch diese tatrichterliche Würdigung begegnet revisionsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken.
b) Weitere Änderungsvorschriften greifen im Streitfall nicht ein.
3. Dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren. Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 setzt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht (zuletzt Urteil vom 22. Mai 2006 VI R 51/04, BFH/NV 2006, 1982, m.w.N.). Irrtümer über das materielle Recht begründen dagegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich nicht (BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 1982; vom 14. September 1999 III R 78/97, BFHE 189, 273, BStBl II 2000, 37; vom 3. Juli 1986 IV R 133/84, BFH/NV 1986, 717, m.w.N.).
Im Streitfall beruhte die Versäumung der Einspruchsfrist auf dem Rechtsirrtum des Klägers über Art und Umfang des Sonderausgabenabzugs bei Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung. Der Kläger unterlag damit einem Irrtum über das materielle Recht, der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließt.
Ende der Entscheidung
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