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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 29.11.2006
Aktenzeichen: VI R 70/05
Rechtsgebiete: SGB V, AO 1977, EStG, FGO


Vorschriften:

SGB V § 41
AO 1977 § 110
AO 1977 § 110 Abs. 2
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2
FGO § 76 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die ledige Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erzielte im Streitjahr 1998 als beamtete Referendarin für das Lehramt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Im März 1999 brachte sie eine Tochter zur Welt. Am 21. August 2000 begab sie sich in ärztliche Behandlung. Die behandelnde Ärztin diagnostizierte nach Untersuchung und Erstellung eines großen Blutbildes sowie ergänzender Blutparameter der verschiedenen Organsysteme bei der Klägerin:

"Verdacht auf Schwermetallbelastung bei Zustand nach Amalgamsanierung; Verdacht auf allergische Reaktion auf Zahnmaterialien; Erschöpfungssyndrom; Lumbalgie; Beckenbodenschwäche nach Geburt; Mineralmangelsyndrom; Selenmangel; Quecksilberbelastung".

Bis zum Jahresende nahm die Ärztin bei der Klägerin elf Beratungen (auch telefonisch) vor, davon zwei umfangreichere mit einer Dauer von mindestens 20 Minuten. Im Oktober 2000 stellte sie der Klägerin ein Attest über die Notwendigkeit einer Mutter-Kind-Kur gemäß § 41 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) aus. In der Zeit vom 3. bis 31. Januar 2001 befand sich die Klägerin in einer Kur.

Am 5. April 2001 reichte die Klägerin die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ein. Am 30. April 2001 attestierte die Ärztin, dass die Klägerin von November 2000 bis Anfang 2001 aus krankheitsbedingten Gründen nicht in der Lage gewesen sei, ihre notwendigen organisatorischen Dinge (Steuererklärung etc.) durchzuführen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte es ab, eine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) wurde nicht gewährt.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, die Klägerin habe die Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) versäumt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Die Klägerin sei trotz ihrer Krankheit in der Lage gewesen, einen Vertreter mit der Erstellung und Einreichung der Steuererklärung zu beauftragen.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verfahrensmängel und die Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe gegen seine Sachaufklärungspflicht aus § 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verstoßen, indem es die zur Verfügung stehenden Beweismittel unzulässigerweise nicht ausgewertet habe. Insbesondere habe das FG das Beweisangebot der Klägerin übergangen und auf die Vernehmung der behandelnden Ärztin verzichtet.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des FG sowie den Bescheid des FA vom 1. November 2002 und die Einspruchsentscheidung vom 13. März 2002 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Klägerin zur Einkommensteuer 1998 zu veranlagen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Die von der Klägerin gegen die Vorentscheidung vorgebrachte Rüge der Verletzung formellen Rechts greift durch.

1. Das FG hat gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen. Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es hat dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären (Beschluss vom 12. November 2003 VII B 347/02, BFH/NV 2004, 511; Urteile vom 15. Dezember 1999 X R 151/97, BFH/NV 2000, 1097; vom 26. Juni 1996 X R 53/95, BFH/NV 1997, 293; vom 11. März 1988 III R 288/84, BFH/NV 1989, 507; vom 19. September 1985 VII R 164/84, BFH/NV 1986, 674).

a) Im Streitfall hat das FG die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht vollständig ermittelt, indem es insbesondere auf eine Beweiserhebung durch Vernehmung der behandelnden Ärztin verzichtet hat. Wie sich aus der Vorentscheidung ergibt, hatte die Klägerin die Vernehmung ihrer Ärztin zu der Frage beantragt, dass sie --die Klägerin-- daran gehindert gewesen sei, die Steuererklärung rechtzeitig einzureichen. Diesen Beweisantrag hat die Vorinstanz zu Unrecht als unerheblich behandelt.

Das FG darf auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt, es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder völlig ungeeignet ist, den Beweis zu erbringen (BFH-Urteil vom 16. November 2005 VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753; Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 76 Rz 26, m.w.N.).

b) Im Streitfall erweist sich der Verzicht des FG auf die beantragte Beweiserhebung als vorweggenommene Beweiswürdigung.

In dem beim FG eingereichten Attest vom 30. April 2001 bestätigt die Ärztin, dass die Klägerin aus krankheitsbedingten Gründen ihre notwendigen organisatorischen Dinge, zu denen auch die Steuererklärung für das Streitjahr gehörte, nicht rechtzeitig habe durchführen können. Zudem hat die Klägerin im Erörterungstermin am 1. April 2005 erklärt, sie sei aufgrund ihrer psychischen Situation bis zum Jahreswechsel 2000/2001 nicht in der Lage gewesen, sich um ihre Steuererklärung zu kümmern. Wie die Klägerin mit der Revision zu Recht vorträgt, hat sie damit --in rechtserheblicher Weise-- auch zum Ausdruck gebracht, dass sie aufgrund ihrer Krankheit weder durch eigenhändige Erstellung der Steuererklärung noch durch Beauftragung eines Vertreters im Stande gewesen sei, sich um ihre steuerlichen Angelegenheiten zu kümmern. Nicht zu Unrecht macht die Klägerin auch geltend, dass sie in beiden Fällen einen nicht unerheblichen zeitlichen Aufwand zur Vorbereitung der für die Erstellung der Steuererklärung erforderlichen Unterlagen hätte tätigen müssen. Dies ergibt sich insbesondere aus den bei der Abgabe der Steuererklärung am 5. April 2001 eingereichten umfangreichen Belegen für die von der Klägerin geltend gemachten Werbungskosten.

c) Da schon die Verletzung des § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsverstöße enthält.

2. Die Sache wird an das FG zurückverwiesen. Das FG wird im zweiten Rechtsgang durch Auswertung der von der Klägerin angebotenen Beweismittel zu ermitteln haben, ob die Klägerin trotz ihrer Krankheit und den von ihr vorgetragenen sonstigen Belastungen in der Lage war, sich rechtzeitig um ihre steuerlichen Angelegenheiten zu kümmern. Das FG wird im zweiten Rechtsgang gegebenenfalls ferner zu prüfen haben, wann das Hindernis i.S. des § 110 Abs. 2 AO 1977 weggefallen war und ob die Einreichung der Steuererklärung als versäumte Handlung fristgerecht nachgeholt worden ist.

3. Sollte der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden können, wird die Vorinstanz schließlich zu erwägen haben, ob das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in den Normenkontrollverfahren 2 BvL 55/06 und 2 BvL 56/06 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG auszusetzen ist.

Ende der Entscheidung

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