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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 24.08.2001
Aktenzeichen: VI R 83/99
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG
Vorschriften:
AO 1977 § 37 Abs. 2 | |
EStG § 74 Abs. 1 |
Gründe:
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog Kindergeld für zwei haushaltszugehörige Kinder. Ein drittes Kind (die Tochter), das zunächst bei der geschiedenen Ehefrau des Klägers lebte, wurde als Zählkind bei der Berechnung der Höhe des Kindergeldes für die beiden beim Kläger lebenden Kinder berücksichtigt. Der Zählkindervorteil betrug pro Monat 100 DM. Von diesem Betrag zweigte der Beklagte und Revisionskläger (das Arbeitsamt --Familienkasse--) durch Verfügung vom 12. Januar 1996 ab Januar 1996 bis Januar 1997 34 DM monatlich ab und zahlte diesen Betrag an die geschiedene Ehefrau. Die Abzweigung erfolgte, weil der Kläger als Sozialhilfeempfänger für die Tochter nicht unterhaltspflichtig war und keinen Unterhalt zahlte (§ 74 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Die geschiedene Ehefrau erhielt eine Durchschrift der Abzweigungsverfügung.
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass weder dem Kläger noch seiner geschiedenen Ehefrau für die Tochter ab August 1995 Kindergeld zugestanden hatte, änderte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG und forderte vom Kläger den zuviel gezahlten Betrag einschließlich des abgezweigten Betrages ab Januar 1996 bis Januar 1997 in Höhe von 1 280 DM zurück.
Die Klage gegen den Änderungs- und Rückforderungsbescheid hatte teilweise Erfolg, nämlich hinsichtlich des abgezweigten Betrages von 435 DM (vgl. Entscheidungsgründe des Urteils des Finanzgerichts --FG--, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1999, 613). Der Kläger sei zwar im Grundsatz zur Rückzahlung des zu viel gezahlten Kindergeldes verpflichtet. Soweit das Kindergeld aber an seine geschiedene Ehefrau abgezweigt sei --in Höhe von 435 DM--, sei diese Leistungsempfängerin i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977). § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 i.d.F. des Art. 26 Nr. 4 des Jahressteuergesetzes 1996 (JStG 1996) vom 11. Oktober 1995 (BGBl I, 1250), wonach sich im Fall der Abtretung, Verpfändung oder Pfändung der Rückzahlungsanspruch der Behörde auch gegen den Abtretenden, Verpfänder und Pfändungsschuldner richtet, gelte nicht für die Abzweigung von Kindergeld.
Dagegen wendet sich die Familienkasse mit ihrer Revision. Das FG habe zu Unrecht die geschiedene Ehefrau des Klägers als Leistungsempfängerin des abgezweigten Betrages angesehen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 50 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) --Verwaltungsverfahren--, der mit § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 vergleichbar sei, sei bei einer Abzweigung Leistungsempfänger nicht der Dritte, an den die Behörde den abgezweigten Betrag ausgezahlt hat, sondern der ursprünglich Anspruchsberechtigte (vgl. Urteile des BSG vom 17. Januar 1991 7 RAr 72/90, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 7, für Abzweigung von Arbeitslosengeld; vom 28. Juni 1991 11 RAr 47/90, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 10, für Abzweigung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe; vom 18. März 1999 B 14 KG 6/97, BSGE 84, 16, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 21, für die Abzweigung von Kindergeld). Das BSG gehe davon aus, dass der Abzweigungsbelastete mit der Abzweigung einverstanden sei, wenn er sich gegen sie nicht wehre; er stehe deshalb rechtlich so, als ob er in die Auszahlung eines Teils der ihm zustehenden Leistung an den Dritten eingewilligt oder sie jedenfalls genehmigt habe. Deshalb müsse der Abzweigungsbelastete sich den abgezweigten Betrag zurechnen lassen und ihn zurückzahlen. Diese zu § 50 SGB X ergangene Rechtsprechung sei auch im Rahmen des gleichgestalteten § 37 Abs. 2 AO 1977 anzuwenden.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger nicht zur Rückzahlung des an seine geschiedene Ehefrau abgezweigten Kindergelds verpflichtet ist.
Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten oder zurückgezahlten Betrages, wenn eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist oder der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt. Der Rückforderungsanspruch richtet sich gegen den Leistungsempfänger, der in den Fällen, in denen an dem Erstattungsvorgang mehrere Personen beteiligt sind, mit dem Empfänger der Zahlung (Überweisung) nicht identisch sein muss.
Leistungsempfänger ist grundsätzlich derjenige, an den die Behörde den Rückforderungsbetrag willentlich gezahlt hat, wenn dieser die Zahlung aus eigenem (erworbenem) Recht erhalten hat. Deshalb hat z.B. der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung den Abtretungsempfänger (Zessionar), den Pfandgläubiger und den Pfändungsgläubiger als Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 angesehen (BFH-Urteil vom 6. Dezember 1988 VII R 206/83, BFHE 155, 40, BStBl II 1989, 223; Beschlüsse vom 27. April 1998 VII B 296/97, BFHE 185, 364, BStBl II 1998, 499, für die Abtretung; vom 30. September 1997 VII B 120/97, BFH/NV 1998, 281, m.w.N., für die Verpfändung; vom 28. September 1999 VII B 35/99, BFH/NV 2000, 305, für die Pfändung). Andererseits ist nicht Leistungsempfänger, wer die Leistung nur als Bote, Treuhänder oder aufgrund einer Anweisung für einen anderen in Empfang nimmt. Denn in diesen Fällen erbringt die Behörde ihre Leistung mit dem Willen, eine Forderung des (ursprünglichen) Rechtsinhabers zu erfüllen; der Zahlungsempfänger hat lediglich die Funktion einer Zahlstelle (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Februar 2000 VII B 157/99, BFH/NV 2000, 941, und Senatsbeschluss vom 28. März 2001 VI B 256/00, BFH/NV 2001, 1117, m.w.N.).
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG ist der Abzweigungsempfänger als Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 anzusehen (ebenso Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 9. Januar 2001 2 K 1312/00, EFG 2001, 837; Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes --DA-FamEStG--, Stand Mai 2000, 74.1.1 Abs. 5 Satz 5, BStBl I 2000, 639, 725). Ähnlich wie bei der Pfändung und Überweisung einer Geldforderung nach §§ 829, 835 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zahlt die Familienkasse bei einer Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG willentlich an den Abzweigungsempfänger, und zwar zur Erfüllung des diesem zustehenden Auszahlungsanspruchs. Mit der Entscheidung über die Abzweigung --einem Verwaltungsakt-- stellt die Familienkasse fest, dass sich der Kindergeldberechtigte die abgezweigte Leistung als Erfüllung seines weiter bestehenden Kindergeldanspruchs zurechnen lassen muss und dass der Abzweigungsempfänger die Leistung gleichzeitig mit Erfüllungswirkung des ihm aufgrund der Abzweigung zustehenden Anspruchs auf Auszahlung in Empfang nehmen darf. Die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG hat damit eine ähnliche Wirkung wie die Pfändung und Überweisung einer Geldforderung nach §§ 829, 835 ZPO, allerdings verlagert in das Verwaltungsverfahren (BSG in BSGE 84, 16, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 21; vgl. Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 74 Rz. 9; Seewald/Felix in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 74 Rdnr. B 36).
Die Familienkasse erfüllt mit der Auszahlung des Kindergeldes an den Abzweigungsempfänger zwar zugleich auch den Kindergeldanspruch des Kindergeldberechtigten. Sie zahlt den abgezweigten Betrag an den Abzweigungsempfänger aber nicht wie an einen Angewiesenen oder einen Boten für einen anderen, sondern unmittelbar für den Abzweigungsempfänger. Durch die Zahlung wird nicht der Kindergeldberechtigte, sondern der Abzweigungsempfänger wirtschaftlich bereichert. Es ist deshalb gerechtfertigt, von ihm die Rückzahlung des abgezweigten Betrages zu fordern, wenn die Zahlung ohne Rechtsgrund erfolgt. Ob der Kindergeldberechtigte mit der Abzweigung einverstanden war, ist für die Bestimmung des Leistungsempfängers ebenso wie bei einer Pfändung unerheblich.
Wird die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kindergeldberechtigten aufgehoben, so wird damit gleichzeitig die Abzweigung gegenstandslos bzw. wirkungslos, ohne dass es insoweit eines weiteren aufhebenden Verwaltungsakts bedarf (ebenso BSG in SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 7, und in BSGE 84, 16, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 21, für die Abzweigung nach § 48 SGB I). Mit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung steht fest, dass die Familienkasse auch an den Abzweigungsempfänger ohne Rechtsgrund gezahlt hat, sodass dieser zur Rückzahlung nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 verpflichtet ist.
Allerdings hat das BSG --worauf die Familienkasse zutreffend hinweist-- für Abzweigungen nach § 48 Abs. 1 SGB I, der § 74 Abs. 1 EStG entspricht, entschieden, dass regelmäßig Erstattungsverpflichteter nach § 50 Abs. 1 und 2 SGB X (entsprechend § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977) nicht der Abzweigungsempfänger, sondern der Abzweigungsbelastete ist. Der Senat sieht sich nicht veranlasst, gemäß § 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes wegen Abweichung von dieser Rechtsprechung des BSG anzurufen. Denn § 37 Abs. 2 AO 1977 enthält jedenfalls seit der Einfügung des Satzes 3 durch das JStG 1996 eine gegenüber § 50 Abs. 1 und 2 SGB X eigenständige und abweichende Regelung (vgl. zu § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 die BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1998, 281, und vom 9. Juli 1998 V B 142/97, BFH/NV 1999, 151). Es kommt hinzu, dass das BSG gerade für die Abzweigung von Kindergeld in dem Urteil in BSGE 84, 16, SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr. 21 den Abzweigungsempfänger --im entschiedenen Fall einen Sozialhilfeträger-- als Leistungsempfänger angesehen hat. Es handelte sich dort zwar um einen Sonderfall, in dem der Kindergeldberechtigte verstorben war; die Entscheidung zeigt indes, dass auch das BSG den Abzweigungsempfänger als Leistungsempfänger im Kindergeldrecht jedenfalls nicht ausschließt.
Das FG hat auch zutreffend entschieden, dass § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 bei der Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG nicht entsprechend anwendbar ist. Dabei kann dahinstehen, ob § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 insoweit planwidrig lückenhaft ist. Eine Analogie verbietet sich jedenfalls deshalb, weil die Fallgestaltungen nicht vergleichbar sind. Nach § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 richtet sich im Fall der Abtretung, Verpfändung oder Pfändung der Rückforderungsanspruch auch gegen den Abtretenden, Verpfänder oder Pfändungsgläubiger. Die Behörde kann sich in diesen Fällen außer an den Leistungsempfängern i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 auch an die in Satz 3 genannten Beteiligten wenden. Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des § 37 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 verfahrensrechtliche und organisatorische Schwierigkeiten bei den Finanzämtern vermeiden, die sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Leistungsempfänger in diesen Fällen ergeben hatten. Ferner wollte der Gesetzgeber den Abtretenden davor schützen, dass der Abtretungsempfänger von der Rückforderung Kenntnis erhält. Schließlich wollte er missbräuchlichen Abtretungen entgegenwirken (Begründung zum Entwurf des JStG 1996, BTDrucks 13/901 S. 160).
Bei einer Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG spielen diese Gesichtspunkte keine Rolle, weil die Abzweigung durch Verwaltungsakt erfolgt. Missbräuchliche Gestaltungen sind ebenso ausgeschlossen wie organisatorische oder verfahrensmäßige Schwierigkeiten bei der Familienkasse. Der Kindergeldberechtigte braucht auch nicht davor geschützt zu werden, dass der Abzweigungsempfänger von der Rückforderung des Kindergeldes Kenntnis erhält, weil die Kindergeldfestsetzung vor der Rückforderung ihm gegenüber aufgehoben werden muss. Es ist zudem auch nicht erforderlich, der Familienkasse den Kindergeldberechtigten als zweiten Schuldner neben dem Abzweigungsempfänger zur Verfügung zu stellen, weil der Abzweigungsempfänger bei einer Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG zur Rückzahlung des abgezweigten Betrages regelmäßig eher in der Lage sein wird als der Kindergeldberechtigte.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann die Revision keinen Erfolg haben. Der Kläger ist hinsichtlich des abgezweigten Betrages von 435 DM nicht Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 und deshalb nicht zur Rückzahlung dieses Betrages verpflichtet.
Ende der Entscheidung
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