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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 29.03.2000
Aktenzeichen: VII B 144/99
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO, ZPO
Vorschriften:
AO 1977 § 130 | |
AO 1977 § 191 | |
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 2 | |
FGO § 51 Abs. 1 Satz 1 | |
ZPO § 42 Abs. 2 |
Gründe
Die Klägerin, Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) begehrt die Rücknahme eines Haftungsbescheides. Das Klageverfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat das klageabweisende Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil er die Auffassung des Finanzgerichts (FG), dass ein Haftungsbescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr zugunsten des Haftungsschuldners geändert werden könne, nicht geteilt hat. Dem FG wurde aufgegeben, über den Rücknahmetatbestand des § 130 der Abgabenordnung (AO 1977) insgesamt zu entscheiden. Im zweiten Rechtsgang lehnte die Antragstellerin den Vorsitzenden Richter am FG X wegen Besorgnis der Befangenheit ab, weil dieser im ersten Rechtszug eindeutig die vom BFH korrigierte, offensichtlich falsche Auffassung, dass Haftungsbescheide nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr geändert werden könnten, vertreten habe und sogar einen Antrag auf Vertagung mit dem Bemerken, die Rechtslage sei eindeutig, abgelehnt habe. Daher sei zu befürchten, dass er den Argumenten der Antragstellerin im zweiten Rechtszuge nicht mehr unbefangen gegenüberstehe. In seiner dienstlichen Äußerung zu dem Befangenheitsantrag hat der abgelehnte Vorsitzende Richter erklärt, er habe diese Rechtsauffassung in der mündlichen Verhandlung aufgrund einer Kommentierung bei Tipke/Kruse (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung zu § 130 AO 1977 Rz. 12, Lieferung 79, Juli 1996) vertreten, ohne zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis von der in der Kommentierung bei Tipke/Kruse (a.a.O., zu § 191 AO 1977) vertretenen gegenteiligen Auffassung gehabt zu haben. Wäre ihm dieser Widerspruch in der mündlichen Verhandlung schon bewusst gewesen, hätte er mit Sicherheit in dem Rechtsgespräch mit der Antragstellerin darauf hingewiesen.
In seiner Stellungnahme zu der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden Richters X hält der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin an dem Ablehnungsgesuch fest und lehnt darüber hinaus auch die Richterin Y, die an dem FG-Urteil im ersten Rechtszug mitgewirkt hat, wegen Befangenheit ab, weil sie die gleiche Auffassung wie der Vorsitzende Richter X vertreten habe und zu befürchten sei, dass sie sich mit den Besonderheiten des Falles nicht auseinander setzen werde. Auch die Richterin Y hält sich in ihrer dienstlichen Äußerung nicht für befangen und verweist auf den Stil des Senats, nach dem sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Fragen, die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einer Klärung bedurft hätten oder umstritten seien, in der Sitzung angesprochen würden. Überdies sei sie aufgrund der Geschäftsverteilung des Senats voraussichtlich an der Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit nicht beteiligt.
Das FG hielt die Ablehnungsgesuche der Antragstellerin ohne Mitwirkung der abgelehnten Richter für nicht begründet. Die Befangenheitsregelung solle den Rechtssuchenden allein vor der Parteilichkeit des Richters schützen. Daher sei selbst ein fehlerhaftes Urteil kein Befangenheitsgrund, sofern bei vernünftiger Betrachtung der Schluss auf eine unsachliche oder willkürliche Einstellung des Richters ausscheide. Dass die widersprüchlichen Meinungen zur Bedeutung der Festsetzungsfrist für die Rücknahme eines Haftungsbescheides in der Kommentierung bei Tipke/Kruse (a.a.O., zu § 130 und § 191 AO 1977) zunächst nicht erkannt und deshalb in der mündlichen Verhandlung nicht angesprochen worden seien, lasse weder Voreingenommenheit noch Willkür erkennen. Befangenheit liege auch nicht darin begründet, dass der Senat dem Vertagungsantrag nicht stattgegeben habe und sich in der mündlichen Verhandlung mit den weiteren materiell-rechtlichen Argumenten der Antragstellerin gegen den Haftungsbescheid nicht auseinander gesetzt habe, weil dieser Vortrag nach der in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsansicht des Gerichts nicht mehr entscheidungserheblich gewesen wäre. Wegen des Beratungsgeheimnisses sei auch nicht zu belegen, wie die abgelehnten Richter abgestimmt hätten. Schließlich zeige die Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Meinungen in den Urteilsgründen, dass der Senat seine zunächst vertretene Rechtsauffassung während der abschließenden Beratung überprüft habe. Der Senat habe auch das rechtliche Gehör nicht verletzt, denn er habe seine Rechtsansicht in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt. Aus der Tatsache, dass der BFH der Nichtzulassungsbeschwerde stattgegeben und die Rechtsansicht des FG verworfen habe, lasse sich ein willkürliches und voreingenommenes Verhalten nicht ableiten.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin. Sie trägt vor, nach dem Verhalten der abgelehnten Richter des FG, die im ersten Rechtsgang die gravierenden, im Einzelnen angegebenen Mängel des Haftungsbescheides und der Vorgehensweise des Beklagten, Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) nicht zur Kenntnis genommen und sich mit dem Inhalt der Steuerakte nicht auseinander gesetzt hätten, sei zu befürchten, dass sie auch im zweiten Rechtsgang ihre Rechtsauffassung nicht am konkreten Einzelfall, sondern an nicht einschlägigen Entscheidungen des BFH orientieren würden.
Das FA hat sich zu der Beschwerde nicht geäußert.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das FG hat das Befangenheitsgesuch zu Recht abgelehnt. Der Ablehnungsgrund der Besorgnis der Befangenheit (§ 51 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--, § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung --ZPO--) ist gegeben, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen, ein Beteiligter also bei vernünftiger, objektiver Betrachtung davon ausgehen kann, dass der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde (vgl. BFH-Beschluss vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555). Solche Gründe liegen hier nicht vor. Sie können nicht darin gesehen werden, dass sich der Vorsitzende oder ein anderer an der Entscheidung beteiligter Richter eine --vorläufige-- Meinung über die Sach- und Rechtslage gebildet hat und diese in dem Rechtsgespräch während der mündlichen Verhandlung äußert. Eine Besorgnis der Befangenheit könnte sich allenfalls aus der Art und Weise ergeben, wie ein Richter seine (vorläufige) Meinung, die er sich abschließend erst aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens bilden darf, vorträgt. So könnte sich ein Grund zur Besorgnis der Befangenheit dann ergeben, wenn der Richter eine ungewöhnliche, nach der Prozesslage nicht verständliche subjektive Festlegung erkennen ließe, so dass die Beteiligten Anlass haben könnten zu befürchten, er ziehe nicht mehr in Betracht, dass die Sach- oder Rechtslage anders sein kann als er annimmt, und sei diesbezüglichen Argumenten gegenüber daher nicht mehr aufgeschlossen (vgl. Beschlüsse des BFH vom 27. September 1994 VIII B 64-76/94, BFH/NV 1995, 526, 528, und vom 12. Dezember 1997 XI B 34/96, BFH/NV 1998, 861, m.w.N.).
Solche Umstände, die den Eindruck der Voreingenommenheit der beiden abgelehnten Richter begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Dass die Richter im ersten Rechtszug das Rechtsgespräch nicht auf Fragen und einen Sachvortrag der Antragstellerin ausgedehnt haben, der für die --nach Auffassung des FG zum damaligen Zeitpunkt-- entscheidungserhebliche Frage der Wirkung der Festsetzungsverjährung auf die Möglichkeit der Änderung eines Haftungsbescheides nicht von Bedeutung war, begründet die Annahme einer sachlichen Voreingenommenheit ebenso wenig wie die Verwerfung der hierzu vom FG vertretenen Rechtsauffassung durch den BFH und die von der Antragstellerin gerügte fehlende Auseinandersetzung des FG mit den materiell-rechtlichen Einwänden gegen den Haftungsbescheid, auf die es aus der Sicht des FG wegen der aus formellen Gründen nicht mehr möglichen materiell-rechtlichen Überprüfbarkeit des bestandskräftigen Haftungsbescheides nicht ankam. Damit ergibt sich auch aus der "Gesamtschau" kein Gesichtspunkt, der bei objektiver verständiger Würdigung die Besorgnis der Befangenheit begründen könnte (vgl. dazu den Senatsbeschluss vom 21. November 1991 VII B 53-54/91, BFH/NV 1992, 526).
Das gilt auch, wenn das FG, wie im vorliegenden Fall, vor Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses über das Ablehnungsgesuch Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und zur Sache entschieden hat. Denn auch in diesem Falle bleibt es der Antragstellerin unbenommen, das Ablehnungsgesuch im Beschwerdeverfahren weiter zu verfolgen und nach einem Erfolg vor dem Beschwerdegericht gegen die Sachentscheidung des FG nach § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO --ggf. unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Revisionsfrist-- die zulassungsfreie Verfahrensrevision einzulegen, die die FGO für Fälle dieser Art vorgeschrieben hat (s. dazu Senatsbeschluss vom 23. Juli 1998 VII B 100/98, BFH/NV 1999, 70). Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten, weil der Antragstellerin im Streitfall diese Möglichkeit wegen der hier zu treffenden ablehnenden Beschwerdeentscheidung nicht mehr zur Verfügung steht.
Ende der Entscheidung
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