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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 05.06.2007
Aktenzeichen: VII R 30/06
Rechtsgebiete: AO, InsO, EStG, GmbHG, FGO, BGB, RAO, StGB
Vorschriften:
AO § 34 | |
AO § 35 | |
AO § 69 | |
InsO § 17 | |
InsO § 26 Abs. 1 | |
InsO §§ 129 ff. | |
InsO §§ 130 ff. | |
InsO § 130 Abs. 1 | |
InsO § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 | |
InsO § 130 Abs. 2 | |
InsO § 133 Abs. 1 | |
InsO § 142 | |
EStG § 41a | |
GmbHG § 64 Abs. 2 | |
FGO § 68 | |
FGO § 69 | |
FGO § 118 Abs. 2 | |
BGB § 254 | |
BGB § 823 | |
BGB § 823 Abs. 2 | |
BGB § 826 | |
RAO § 109 | |
StGB § 266a |
Gründe:
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Mehrheitsgesellschafter und alleiniger Geschäftsführer einer GmbH. Für die Monate Mai bis Dezember 2000 gab der Kläger zwar Lohnsteueranmeldungen ab, abgeführt wurden die angemeldeten Beträge jedoch nicht. Am 9. März 2001 stellte der Kläger einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH, den das Insolvenzgericht zum Anlass nahm, sofort einen vorläufigen Insolvenzverwalter zu bestellen. Am 1. Mai 2001 wurde über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet. Am 14. Juli 2004 ist das Insolvenzverfahren, ohne dass es auch nur zu einer teilweisen Befriedigung der Insolvenzgläubiger gekommen ist, mangels Masse eingestellt worden.
Aufgrund der rückständigen Lohnsteuer nebst steuerlichen Nebenleistungen nahm der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) den Kläger gemäß § 69 i.V.m. § 34 der Abgabenordnung (AO) als Haftungsschuldner in Anspruch. Im Einspruchsverfahren hob das FA den angefochtenen Haftungsbescheid insoweit auf, als er den Monat Dezember 1998 betraf. Zudem setzte es die Haftungsschuld für die Monate Oktober bis Dezember 2000 nach Maßgabe der am 12. April 2001 eingegangenen Lohnsteueranmeldung und die Haftungssumme für den Monat August 2000 aufgrund einer Verrechnung dieser Steuerschuld mit einem Umsatzsteuerguthaben entsprechend herab. Die Haftung für Säumniszuschläge wurde auf die Hälfte der bis zum 9. März 2001 entstandenen Säumniszuschläge begrenzt.
Die vom Kläger daraufhin erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid insoweit auf, als das FA den Kläger als Haftungsschuldner für die Lohnsteuer und den Solidaritätszuschlag nebst Säumniszuschlägen für die Monate November und Dezember 2000 und für einen Säumniszuschlag zum Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer für den Monat Oktober 2000 in Anspruch genommen hat. Zwar habe der Kläger seine steuerlichen Pflichten durch Nichtabführung der angemeldeten Abzugsbeträge zumindest grob fahrlässig verletzt, jedoch könne dieses Verhalten nicht als adäquat kausal für den dem FA entstandenen Schaden angesehen werden. Hätte nämlich der Kläger die für die Monate November und Dezember 2000 geschuldeten Beträge fristgerecht entrichtet, hätten diese Zahlungen nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 der Insolvenzordnung (InsO) vom Insolvenzverwalter angefochten werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs --BGH-- (Urteil vom 22. Januar 2004 IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350) wirke sich die Abführung von Lohnsteuer in der Insolvenz des Arbeitgebers regelmäßig gläubigerbenachteiligend aus. Von einem nahezu anfechtungsfesten Bargeschäft i.S. von § 142 InsO könne nicht ausgegangen werden, denn die GmbH habe mit dem FA weder eine Vereinbarung getroffen, noch von ihm eine Gegenleistung erhalten. Es könne dahinstehen, ob die Kausalität der Pflichtverletzung auch dann entfallen würde, wenn feststünde oder mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen wäre, dass es nicht zu einer erfolgreichen Anfechtung durch den Insolvenzverwalter gekommen wäre.
Im Streitfall werde durch die Entwicklung ab März 2001 hinreichend belegt, dass die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorgelegen hätten, eine Anfechtung somit möglich gewesen sei. Ausweislich seines Schlussberichts habe der Insolvenzverwalter alle Anfechtungsmöglichkeiten geprüft und wahrgenommen. Obwohl die GmbH zumindest ab dem 9. Dezember 2000 --auch für das FA erkennbar-- zahlungsunfähig gewesen sei, bedeute dies nicht notwendigerweise, dass die angemeldeten Lohnsteuerbeträge nicht hätten fristgerecht entrichtet werden können. Im Streitfall sei vielmehr entscheidend, ob Bar- oder Buchgeld in ausreichender Höhe vorhanden gewesen sei. Hätte der Kläger vor dem 9. Dezember 2000 zur Befriedigung des FA führende Rechtshandlungen vorgenommen, so wären diese in den Drei-Monats-Zeitraum des § 130 Abs. 1 InsO gefallen und infolgedessen anfechtbar gewesen. Eine Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem beim Fiskus eingetretenen Vermögensschaden bestehe insoweit nicht, weshalb der Haftungsbescheid keinen Bestand haben könne.
Hinsichtlich der Säumniszuschläge habe das FA unberücksichtigt gelassen, dass für Verspätungs- und Säumniszuschläge auch bei pflichtwidrig verspäteter Abgabe von Lohnsteuer-Anmeldungen und unterlassener Abführung der einzubehaltenden Steuerbeträge der Grundsatz der anteiligen Tilgung gelte (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. August 2000 VII R 110/99, BFHE 192, 249, BStBl II 2001, 271). Für die Monate Mai bis Oktober 2000 seien die in die Haftung einbezogenen steuerlichen Nebenleistungen auf 10 v.H. zu ermäßigen. Denn der Kläger habe zum Zeitpunkt der Fälligkeit dieser Nebenleistungen seine gesamten Verbindlichkeiten maximal zu einem Zehntel allen Gläubigern gegenüber tilgen können. Die in die Haftungssumme einbezogenen steuerlichen Nebenleistungen für die Monate Mai bis Oktober seien daher um 90 v.H. herabzusetzen.
Am 15. März 2006 hat das FA einen geänderten Haftungsbescheid erlassen, in dem die Feststellungen des FG hinsichtlich der Säumniszuschläge für die Monate Mai bis Oktober 2000 haftungsmindernd berücksichtigt worden sind.
Zur Begründung seiner Revision führt das FA aus, dass die Unterlassung der fristgerechten Abführung der Steuerabzugsbeträge durch den Kläger für den Steuerausfall und somit für den eingetretenen Schaden kausal gewesen sei. Denn hypothetische Kausalverläufe könnten bei der Haftung nach § 69 AO keine Berücksichtigung finden. Der Schutzzweck des § 69 AO und des § 41a des Einkommensteuergesetzes (EStG) geböten es lediglich potenzielle Anfechtungsmöglichkeiten außer Betracht zu lassen. Die Haftung nach § 69 AO stelle eine Schadensersatzhaftung dar. Im Schadensersatzrecht seien hypothetische Kausalverläufe jedoch keine Frage der Kausalität, sondern der Schadenszurechnung. Mit der Revision nicht angegriffen würden die Feststellungen des FG hinsichtlich der Säumniszuschläge für die Monate Mai bis Oktober 2000, insoweit sei der Haftungsbescheid durch Erlass eines neuen Haftungsbescheides am 15. März 2006 bereits zugunsten des Klägers geändert worden.
Das FA beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er schließt sich im Wesentlichen der Auffassung des FG an und verweist auf die Rechtsprechung des BGH zur Pflichtenstellung eines GmbH-Geschäftsführers und zur Berücksichtigung eines möglichen Anfechtungsrechts nach §§ 130 ff. InsO. Von Bedeutung sei lediglich die Frage, ob nach den insolvenzrechtlichen Vorschriften für den Insolvenzverwalter ein Anfechtungsrecht bestanden habe. Im Streitfall sei von einem solchen Anfechtungsrecht auszugehen. Nach der Neuregelung der InsO seien Forderungen des Fiskus nicht mehr privilegiert. In engem Zusammenhang damit stehe die Massesicherungspflicht des Geschäftsführers nach § 64 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG). Insbesondere Steuerzahlungen genössen im Rahmen von § 64 Abs. 2 GmbHG keine Privilegierung. Verhalte sich ein Geschäftsführer, wie dies von einem ordentlichen Kaufmann i.S. von § 64 Abs. 2 GmbHG verlangt werden könne, fehle es nicht nur an der Kausalität zwischen Pflichtverletzung und eingetretenem Schaden, sondern bereits am Verschulden.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist schon aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben. Da während des Revisionsverfahrens ein geänderter Haftungsbescheid ergangen ist, ist das erstinstanzliche Urteil gegenstandslos geworden (vgl. BFH-Urteile vom 28. August 2003 IV R 20/02, BFHE 203, 143, BStBl II 2004, 10, und vom 10. November 2004 XI R 30/04, BFHE 208, 194, BStBl II 2005, 274). Aufgrund des unveränderten Streitstoffes bedarf es aber keiner Zurückverweisung an das FG. Der Senat entscheidet über den gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gewordenen Haftungsbescheid vom 15. März 2006.
Die Klage gegen diesen Bescheid ist als unbegründet abzuweisen. Das FA hat den Kläger zu Recht gemäß § 69 i.V.m. § 34 AO als Haftungsschuldner in Anspruch genommen.
1. Als Geschäftsführer hatte der Kläger in seiner Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter der GmbH i.S. von § 34 AO die Pflicht zur Einbehaltung und fristgerechten Abführung der im Haftungszeitraum von der GmbH angemeldeten Lohnsteuerabzugsbeträge (§ 38 Abs. 3 Satz 1 und § 41a EStG). Nach den Feststellungen des FG, denen die Revision nicht entgegengetreten ist und die daher nach § 118 Abs. 2 FGO für den Senat bindend sind, hat der Kläger für die Monate Mai bis Dezember 2000 zwar Lohnsteueranmeldungen abgegeben, jedoch die Entrichtung der geschuldeten Lohnsteuer unterlassen. Es ist daher von einer zumindest grob fahrlässigen Verletzung der dem Kläger obliegenden steuerlichen Pflichten auszugehen.
2. Zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung des Klägers und dem Eintritt des durch die Nichtentrichtung der Lohnsteuer entstandenen Vermögensschadens besteht auch ein adäquater Kausalzusammenhang, der nicht dadurch entfällt, dass der Insolvenzverwalter Zahlungen, wenn diese vom Kläger innerhalb von drei Monaten vor Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet worden wären, nach § 130 InsO hätte anfechten können.
a) Den zivilrechtlichen Schadensersatznormen, vor allem § 823 und § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), ist § 69 AO zwar angenähert, dennoch bestehen zwischen den Schadensersatznormen des Zivilrechts und der steuerrechtlichen Haftungsvorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Unterschiede (vgl. BFH-Urteil vom 21. Januar 1972 VI R 187/68 zu § 109 der Reichsabgabenordnung --RAO--, BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364), die eine uneingeschränkte Übertragung der zum Schadensersatzrecht, insbesondere zur Berücksichtigung von hypothetischen Kausalverläufen und zur Schadenszurechnung bei Anfechtungsmöglichkeiten hinsichtlich gedachter Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen, ergangenen BGH-Rechtsprechung nicht geboten erscheinen lassen.
aa) Gemeinsam ist den angesprochenen Vorschriften des Zivil- und Steuerrechts, dass eine Ausgleichspflicht nur dann in Betracht kommt, wenn zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung und dem dadurch herbeigeführten Schaden ein schadensersatz- bzw. haftungsbegründender Kausalzusammenhang besteht. Der nach der BFH-Rechtsprechung erforderliche Kausalzusammenhang ist nicht mehr gegeben, wenn der Steuerausfall als Vermögensschaden des Fiskus mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens des Steuerpflichtigen unabhängig davon eingetreten ist, ob Steueranmeldungen fristgerecht eingereicht und die geschuldeten Steuerbeträge innerhalb der gesetzlich hierfür bestimmten Fristen entrichtet worden sind (Senatsurteil vom 6. März 2001 VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100, m.w.N.).
bb) Von den Fällen des tatsächlichen Unvermögens zur fristgerechten Entrichtung der geschuldeten Steuerbeträge zu unterscheiden sind die Fälle der sonstigen Reserveursachen. Bei der sog. hypothetischen Kausalität handelt es sich um die Frage, ob eine Ausgleichspflicht des Schädigers bzw. Haftenden allein deshalb entfällt, weil der verursachte Schaden aufgrund eines anderen Ereignisses ohnehin eingetreten bzw. nicht zu vermeiden gewesen wäre. Die überwiegende Literatur und die Rechtsprechung gehen davon aus, dass es sich dabei nicht um ein Problem der Kausalität sondern um eine Frage der Schadenszurechnung handelt (Schiemann in Staudinger/Eckpfeiler (2005), BGB, § 249 Rz 93; MünchKommBGB/Oetker, 5. Aufl., § 249 Rz 201; Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 66. Aufl., Vorbem. zu § 249 Rz 96; BGH-Urteil vom 7. Juni 1988 IX ZR 144/87, BGHZ 104, 355). Denn ein nur gedachter Geschehensablauf kann die Kausalität einer realen Ursache nicht beseitigen. Nach der BGH-Rechtsprechung ist es daher eine für verschiedene Fallgruppen durchaus unterschiedlich zu beantwortende Wertungsfrage, inwieweit hypothetische Kausalverläufe geeignet sind, eine an sich gegebene Haftung zu beeinflussen (BGH-Urteil in BGHZ 104, 355, 360). Auszugehen ist vom Schutzzweck der jeweils verletzten Norm (Schiemann in Staudinger/Eckpfeiler, a.a.O., § 249 Rz 94; im Ergebnis auch MünchKommBGB/Oetker, a.a.O., § 249 Rz 214).
cc) Durch die pflichtwidrige Nichtabführung fällig gewordener Steuerbeträge wird eine reale Ursache für den Eintritt eines Vermögensschadens in Form eines Steuerausfalls gesetzt, so dass die Kausalität dieser Ursache für den Schadenseintritt durch eine gedachte Anfechtung des Insolvenzverwalters nicht rückwirkend beseitigt werden kann. Es bleibt dabei, dass durch die Pflichtverletzung des Haftungsschuldners dem Fiskus ein diesem geschuldeter Abgabenbetrag vorenthalten worden ist.
Der vom Gesetzgeber § 69 AO beigemessene Schutzzweck und die vom BGH geforderte wertende Beurteilung lassen es nicht geboten erscheinen, den hypothetischen Kausalverlauf im Falle einer gedachten Anfechtung nach §§ 129 ff. InsO im Rahmen der Schadenszurechnung zu berücksichtigen und infolgedessen die Haftung des von § 69 AO erfassten Personenkreises (vgl. § 34 und § 35 AO) entfallen zu lassen (im Ergebnis ebenso Urteile des Sächsischen FG vom 24. Mai 2005 1 K 2361/04, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2005, 1238; des FG Köln vom 12. September 2005 8 K 5677/01, EFG 2006, 86 und 8 K 5395/01, EFG 2006, 241, und des Schleswig-Holsteinischen FG vom 1. Dezember 2005 2 K 174/04, EFG 2006, 321; a.A. Entscheidungen des FG Baden-Württemberg vom 28. Juli 2004 1 V 30/04, EFG 2004, 1425, und vom 30. August 2004 1 V 49/03, EFG 2005, 2; des FG des Saarlandes vom 20. Dezember 2004 2 V 385/04, EFG 2005, 680; des FG Münster vom 23. Juni 2004 7 K 5031/00, EFG 2006, 13; des FG Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 2005 6 K 2803/04, EFG 2006, 83, und des FG Düsseldorf vom 10. Januar 2006 10 K 4216/02 H (L), EFG 2006, 618).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH besitzt § 69 AO Schadensersatzcharakter (Senatsentscheidungen vom 1. August 2000 VII R 110/99, BFHE 192, 249, BStBl II 2001, 271; vom 5. März 1991 VII R 93/88, BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678; vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859; vgl. auch Begründung des Entwurfs für eine Reichsabgabenordnung zu § 83 Abs. 2 bis § 86 RAO, in Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 338 Nr. 759). Ziel der Haftung ist es, Steuerausfälle auszugleichen, die durch grob fahrlässige oder vorsätzliche Pflichtverletzungen der in § 34 und § 35 AO bezeichneten Personen verursacht worden sind. Die auf § 69 AO gestützte Haftung begründet eine Sonderverbindlichkeit gegenüber dem Fiskus, die den Individualansprüchen aus rechtsgeschäftlicher Haftung, Vertrauenshaftung und unerlaubter Handlung vergleichbar ist (Senatsbeschluss vom 2. November 2001 VII B 155/01, BFHE 197, 1, BStBl II 2002, 73).
Die Regelung der steuerlichen Haftung geht auf § 109 RAO zurück, mit dem das zivilrechtliche Vertretungsrecht in der RAO berücksichtigt und den steuerlichen Bedürfnissen angepasst werden sollte (Beermann, Haftungsbescheid nach der AO und Entschließungsermessen, in Festschrift für Franz Klein, S. 953, 961). Der haftungsrechtliche Zugriff auf gesetzliche Vertreter und Verfügungsberechtigte kann damit legitimiert werden, dass ihnen die Erfüllung steuerlicher Pflichten obliegt, die der Steuerpflichtige mangels eigener Handlungs- und Geschäftsfähigkeit nicht selbst erfüllen kann. Andererseits kommt in der Haftungsvorschrift auch das Bemühen des Gesetzgebers zum Ausdruck, der steuerrechtlichen Stellvertretung Schranken zu setzen und der Gefahr entgegenzuwirken, dass der Steuerpflichtige durch die Stellvertretung das Steueraufkommen gefährdende Vorteile erlangt (Tipke in Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 109 Rz 1, m.w.N.). Durch den in § 69 AO normierten Haftungsanspruch soll der Vertreter zur ordnungsgemäßen Erfüllung der ihm obliegenden steuerlichen Pflichten angehalten und das Steueraufkommen durch Schaffung einer Rückgriffsmöglichkeit gesichert werden.
Das Erreichen dieser Ziele würde durch die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe gefährdet. Denn ein gesetzlicher Vertreter könnte innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Erfüllung der ihm als Vertreter obliegenden steuerlichen Pflichten mit dem Hinweis vernachlässigen, dass, wenn er Steuerzahlungen vornähme, diese ohnehin der Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO ausgesetzt seien und er infolgedessen auch nicht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden könne. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Zeitpunkt der pflichtwidrigen Nichtzahlung des geschuldeten Abgabenbetrages keine zuverlässige Feststellung darüber getroffen werden kann, ob es tatsächlich zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommen wird und ob im Falle der Eröffnung eines solchen Verfahrens eine Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO überhaupt erfolgen und auch erfolgreich sein würde. Denn zum einen ist es nicht auszuschließen, dass ein Insolvenzverwalter im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens von bestehenden Anfechtungsmöglichkeiten keinen Gebrauch macht; zum anderen kann eine Anfechtung daran scheitern, dass das FA die Umstände nicht kannte, die zwingend auf eine Zahlungsunfähigkeit des Schuldners hätten schließen lassen (§ 130 Abs. 2 InsO).
Bei einer Berücksichtigung von insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbeständen wäre die Durchsetzung des Haftungsanspruchs mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Denn das FA müsste beim Erlass des Haftungsbescheides und der Ausübung des ihm zustehenden Ermessens eine Prognoseentscheidung treffen und die Möglichkeit und die Erfolgsaussichten einer Ausübung von Anfechtungsrechten nach §§ 130 ff. InsO prüfen. Eine solche Überprüfung wäre nur dann entbehrlich, wenn es zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens überhaupt nicht kommt. Denn wie der Senat bereits entschieden hat (Senatsbeschluss vom 23. April 2007 VII B 92/06), kommt die Berücksichtigung von hypothetischen Kausalverläufen ohnehin nicht in Betracht, wenn das Insolvenzgericht den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 26 Abs. 1 InsO mangels Masse ablehnt. Zwischen Antragstellung und Bescheidung des Antrags kann jedoch ein längerer Zeitraum verstreichen, wenn z.B. ein vom Insolvenzgericht eingesetzter vorläufiger Insolvenzverwalter mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt worden ist (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO). Die zur Durchsetzung des Haftungsanspruchs erforderliche Handlungsfähigkeit des FA wäre in unzumutbarer Weise eingeschränkt, wenn es verpflichtet wäre, die Beendigung des Eröffnungsverfahrens abzuwarten, bevor gegen den Vertreter ein Haftungsbescheid erlassen werden könnte. Aber auch das Erfordernis einer Prognoseentscheidung über das Vorliegen der in §§ 130 ff. InsO normierten Anfechtungsvoraussetzungen, insbesondere über das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners i.S. von § 17 InsO, würde die Durchführung des Haftungsverfahrens erheblich erschweren und die Funktion der Haftungsvorschrift für diesen Zeitraum in Frage stellen. Neben dem Sicherungszweck sprechen somit auch Effektivitätsgesichtspunkte und Praktikabilitätserwägungen dafür, bei der Anwendung von § 69 AO hypothetische Kausalverläufe im Rahmen der Schadenszurechung unberücksichtigt zu lassen.
b) Mit diesem Ergebnis setzt sich der erkennende Senat nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH. Die zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen getroffenen Entscheidungen (Urteile vom 18. April 2005 II ZR 61/03, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --ZIP-- 2005, 1026, Deutsches Steuerrecht 2005, 978, und vom 14. November 2000 VI ZR 149/99, ZIP 2001, 80) betreffen eine mögliche Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a des Strafgesetzbuchs und damit einen deliktischen Schadensersatzanspruch. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich um einen solchen bei § 69 AO jedoch nicht. Vielmehr normiert § 69 AO einen öffentlich-rechtlichen --und zivilrechtlich nicht abdingbaren-- Haftungsanspruch, der eine Sonderverbindlichkeit gegenüber dem Fiskus begründet. Der Haftung kommt eine Ausgleichsfunktion und lediglich der Charakter eines Schadensersatzanspruchs zu (Jatzke in Beermann/Gosch, AO, § 69 Rz 3, m.w.N.). Daneben verfolgt § 69 AO den Zweck, das bei steuerrechtlich nicht geschäfts- und handlungsfähigen Steuerpflichtigen auftretende Erfordernis der Stellvertretung an die besonderen Bedürfnisse des Steuerrechts anzupassen und damit zur Aufkommenssicherung beizutragen. Aus diesen Gründen kann die zum Deliktsrecht entwickelte Rechtsprechung des BGH nicht ohne weiteres auf die Haftung nach den Vorschriften der AO übertragen werden.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass bei einem mitwirkenden Verschulden der Finanzbehörde eine unmittelbare Anwendung der Regelung in § 254 BGB ebenfalls nicht in Betracht kommt. Nach der Rechtsprechung des Senats ist ein solches Mitverschulden allenfalls bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (BFH-Entscheidungen vom 2. November 2001 VII B 75/01, BFH/NV 2002, 310, und vom 11. Mai 2000 VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442, m.w.N.). Dies unterstützt den Befund, dass es sich bei § 69 AO nicht um eine Schadensersatznorm handelt, auf die sich Schadensersatzregelungen des BGB und die hierzu ergangene Rechtsprechung des BGH ohne weiteres übertragen lassen.
3. Da die Berücksichtigung einer hypothetischen Anfechtungsmöglichkeit nach § 130 Abs. 1 InsO im Rahmen einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme nach § 69 AO nicht in Betracht kommt, kann es der Senat dahingestellt sein lassen, ob die Abführung von Lohnsteuern in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine anfechtbare Rechtshandlung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO darstellt, oder ob ein Bargeschäft nach § 142 InsO vorliegt, so dass eine Anfechtung nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO möglich wäre (vgl. zur Problemstellung Senatsbeschluss vom 11. August 2005 VII B 244/04, BFHE 210, 410, BStBl II 2006, 201, und Kayser, Insolvenzrechtliche Bargeschäfte (§ 142 InsO) bei der Erfüllung gesetzlicher Ansprüche?, ZIP 2007, 49).
4. Soweit sich der Kläger unter Hinweis auf die Regelung in § 64 Abs. 2 GmbHG auf eine Pflichtenkollision beruft, die die Nichtabführung des Lohnsteuerabzugsbetrages innerhalb eines Zeitraumes von drei Wochen ab Eintritt der Zahlungsunfähigkeit entschuldigt erscheinen lassen könnte, ist zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen des FG die GmbH jedenfalls ab dem 9. Dezember 2000 zahlungsunfähig gewesen ist. Da der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedoch erst am 9. März 2001 gestellt worden ist, d.h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die dreiwöchige Frist längst verstrichen war, kann sich der Kläger zur Vermeidung seiner Haftung nicht auf eine in diesem Zeitraum bestandene Pflichtenkollision berufen. Zur Vermeidung der haftungsrechtlichen Folgen hätte er innerhalb dieser Frist einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen müssen (vgl. hierzu Senatsurteil vom 27. Februar 2007 VII R 67/05).
Ende der Entscheidung
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