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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 06.12.2005
Aktenzeichen: VII R 31/04
Rechtsgebiete: VO (EWG) Nr. 719/91, VO (EWG) Nr. 2454/93 (ZKDVO), ZPO


Vorschriften:

VO (EWG) Nr. 719/91 Art. 10
VO (EWG) Nr. 2454/93 (ZKDVO) a.F. Art. 454 Abs. 3
ZPO § 240
Hat im Fall von Zuwiderhandlungen im Versandverfahren Carnet TIR die Zollbehörde des Mitgliedstaats, in dem die Zuwiderhandlung festgestellt wurde, aufgrund falscher Tatsachenwürdigung angenommen, dass der Ort der Zuwiderhandlung ungewiss sei, und hat sie deshalb die entstandenen Eingangsabgaben in der irrigen Annahme ihrer Zuständigkeit erhoben, ist der Abgabenbescheid gleichwohl nicht aufzuheben, wenn später der Ort der Zuwiderhandlung als nachgewiesen angesehen wird. In diesem Fall findet ein interner Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten statt.
Gründe:

I.

Die ungarische Fa. T ließ im Januar 1993 beim Hauptzollamt W, dessen Zuständigkeit auf den Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt --HZA--) übergegangen ist, zwei Sendungen mit jeweils 1 000 Kartons Zigaretten zum externen Versandverfahren mit Carnet TIR abfertigen. Die Sendungen wurden weder bei der vorgesehenen Bestimmungszollstelle noch bei einer anderen Zollstelle gestellt, weshalb das Hauptzollamt W im Januar 1996 die Eingangsabgaben gegen die Fa. T festsetzte. Weitere Ermittlungen ergaben, dass die Auflieger in Frankreich mit Zoll-, Fracht- und Fahrzeugpapieren an unbekannte Dritte übergeben worden waren und dass der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), um den ungarischen Fahrern die Identifizierung der übernehmenden Fahrer und ihrer Zugmaschinen zum Zweck der Übergabe zu ermöglichen, die Kennzeichen der französischen Zugmaschinen zuvor telefonisch an die Fa. T übermittelt hatte. Die französische Zollverwaltung übernahm das Besteuerungsverfahren gleichwohl nicht. Das Hauptzollamt W setzte daraufhin im Januar 2001 mit zwei Steuerbescheiden Zoll, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer gegen den Kläger (als Gesamtschuldner neben der Fa. T) mit der Begründung fest, dass der Kläger als Hauptverantwortlicher an der Entziehung der Zigaretten aus der zollamtlichen Überwachung beteiligt gewesen sei.

Auf die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hob das Finanzgericht (FG) die angefochtenen Steuerbescheide aus den in der Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 2004, 382 veröffentlichten Gründen auf.

Mit der Revision rügt das HZA die Verletzung des materiellen Rechts. Zu Unrecht habe das FG angenommen, dass die im Versandverfahren beförderten Zigaretten bereits mit ihrer Übergabe in Frankreich und dem Austausch der Auflieger-Kennzeichen der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien; dies sei vielmehr erst zu einem späteren Zeitpunkt an einem unbekannten Ort geschehen. Da die Zigaretten unverändert auf den Aufliegern geblieben und die Raumverschlüsse nicht entfernt worden seien, hätte das Versandverfahren auch nach der Übergabe in Frankreich noch ordnungsgemäß beendet werden können. Bei einer zollamtlichen Kontrolle der LKW hätte jederzeit festgestellt werden können, dass die beförderten Waren die nämlichen wie die im Carnet TIR aufgeführten seien. Aber selbst wenn man von einem in Frankreich liegenden Ort der Zuwiderhandlung ausgehen wollte, wäre die angefochtene Abgabenfestsetzung des Hauptzollamts W gegenüber dem Kläger rechtmäßig. Dies folge zum einen daraus, dass die Eingangsabgaben gegen die Fa. T aufgrund der Zuständigkeitsfiktion des Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 719/91 (VO Nr. 719/91) des Rates vom 21. März 1991 über die Verwendung der Carnets TIR und der Carnets ATA als Versandpapiere in der Gemeinschaft (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 78/6) zu Recht vom Hauptzollamt W festgesetzt worden seien und dass die maßgebenden Vorschriften eine gesamtschuldnerische Inanspruchnahme mehrerer Zollschuldner durch Behörden verschiedener Mitgliedstaaten nicht vorsähen. Zum anderen greife nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) die Ausgleichsregelung des Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 auch dann ein, wenn der Mitgliedstaat, welcher die Abgaben erhoben habe, wegen der in einem anderen Mitgliedstaat begangenen Zuwiderhandlung unzuständig gehandelt habe.

Der Kläger schließt sich der Ansicht des FG an, dass die Waren durch die Übergabe in Frankreich an Unbekannte und durch den Austausch der Kennzeichen der Auflieger der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien; jedenfalls liege in diesen Handlungen ein Pflichtenverstoß. Im Übrigen sei die Zuwiderhandlung nicht erstmals in Deutschland, sondern zuerst in Frankreich festgestellt worden. Die Ausgleichsregelung des Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 greife nicht ein, weil die Annahme der eigenen Abgabenerhebungszuständigkeit durch die deutschen Zollbehörden willkürlich gewesen sei, denn im Zeitpunkt der Abgabenfestsetzung sei dem Hauptzollamt W der in Frankreich liegende Ort der Zuwiderhandlung seit bereits fünf Jahren bekannt gewesen. Im Übrigen gebe es in Frankreich keine verlängerte, sondern nur die reguläre dreijährige Verjährungsfrist, weshalb im Zeitpunkt der Abgabenfestsetzung durch das Hauptzollamt W die Abgaben in Frankreich bereits verjährt gewesen seien. Im Rahmen des sog. Ausgleichsmechanismus müsse daher der festgesetzte Abgabenbetrag ohnehin auf Null festgesetzt werden.

II.

Der Senat kann entscheiden, da das Verfahren nicht gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 240 der Zivilprozessordnung (ZPO) unterbrochen ist. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers ist nicht eröffnet, sondern es ist lediglich ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden. In einem solchen Fall tritt nach § 240 Satz 2 ZPO die Unterbrechung des Verfahrens nur ein, wenn gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative, § 22 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht, also nicht, wenn --wie im Streitfall-- gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative InsO angeordnet wird, dass Verfügungen des Schuldners nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 74 Rz. 36; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozessordnung, 63. Aufl., § 240 Rz. 2; Zöller/ Greger, Zivilprozessordnung, 25. Aufl., § 240 Rn. 5; Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. Dezember 1999 I B 113/99, BFH/NV 2000, 734).

Die Revision des HZA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage, weil der Kläger durch die angefochtenen Steuerbescheide nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

1. Die für den Streitfall maßgebenden Vorschriften über das Entstehen der Zollschuld und den Zollschuldner ergeben sich --wovon das FG zutreffend ausgegangen ist-- aus der Verordnung (EWG) Nr. 2144/87 (ZollschuldVO) des Rates vom 13. Juli 1987 über die Zollschuld (ABlEG Nr. L 201/15) bzw. der Verordnung (EWG) Nr. 1031/88 (ZollschuldnerVO) des Rates vom 18. April 1988 über die zur Erfüllung einer Zollschuld verpflichteten Personen (ABlEG Nr. L 102/5); für die Tabaksteuer und die Einfuhrumsatzsteuer gelten diese Vorschriften sinngemäß (§ 21 des Tabaksteuergesetzes, § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes).

Aufgrund der in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen für den Senat bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), hat das FG auch zu Recht angenommen, dass die Eingangsabgabenschuld für die streitgegenständlichen Zigaretten nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c ZollschuldVO durch Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstanden ist und dass der Kläger als derjenige, der die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen hat, nach Art. 4 Abs. 1 ZollschuldnerVO Abgabenschuldner ist. Täter der Entziehungshandlung ist nicht nur derjenige, der die Entziehungshandlung selbst ausführt, sondern auch, wer die Tatherrschaft innehat und wie ein mittelbarer Täter bewirkt oder veranlasst, dass die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird (Senatsurteil vom 8. Mai 1990 VII R 130-131/87, BFHE 161, 266, 270, m.w.N.). Diese Rechtsprechung des Senats ist zwar noch zu § 57 des Zollgesetzes ergangen, der durch Art. 2 Abs. 1 Buchst. c ZollschuldVO i.V.m. Art. 4 Abs. 1 ZollschuldnerVO abgelöst worden ist; das Gemeinschaftsrecht verwendet aber insoweit die gleichen Begriffe wie das nationale Zollrecht, so dass die dazu ergangene Rechtsprechung auch für das im maßgebenden Zeitpunkt anwendbare Gemeinschaftsrecht von Bedeutung ist (Senatsbeschluss vom 13. Juli 2000 VII B 78/00, BFH/NV 2001, 74). Da der Kläger nach den Feststellungen des FG Mitorganisator der illegalen Zigaretteneinfuhren war und die Tatherrschaft innehatte, hat das FG ihn zu Recht als Entzieher und somit als Schuldner der entstandenen Eingangsabgaben angesehen.

2. Das FG hat allerdings die angefochtenen Steuerbescheide zu Unrecht mit der Begründung aufgehoben, dass die deutsche Zollverwaltung für die Festsetzung der Eingangsabgaben gegenüber dem Kläger nicht zuständig sei.

a) Wird im Zusammenhang mit einem TIR-Verfahren eine Zuwiderhandlung in einem Mitgliedstaat festgestellt, erhebt nach dem im Streitfall anzuwendenden Art. 10 Abs. 2 VO Nr. 719/91 dieser Mitgliedstaat die Zölle und anderen möglicherweise zu entrichtenden Abgaben gemäß den gemeinschaftsrechtlichen oder innerstaatlichen Vorschriften. Kann nicht festgestellt werden, in welchem Gebiet die Zuwiderhandlung begangen wurde, so gilt sie nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 1 VO Nr. 719/91 als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt wurde, es sei denn, die Rechtmäßigkeit der Handlung oder der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, wird den Zollbehörden innerhalb einer bestimmten Frist nachgewiesen. Erfolgt dieser Nachweis nicht und gilt deshalb die Zuwiderhandlung als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt wurde, so werden nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 VO Nr. 719/91 die für die betreffenden Waren geltenden Zölle und anderen Abgaben von diesem Mitgliedstaat nach den gemeinschaftsrechtlichen oder innerstaatlichen Vorschriften erhoben.

Die Zuständigkeit der deutschen Zollbehörden für die Abgabenfestsetzung war im Streitfall nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 1 und 2 VO Nr. 719/91 zunächst gegeben, weil in dem Zeitpunkt, als von Seiten der deutschen Zollverwaltung die Zuwiderhandlung --das Entziehen der Zigaretten aus der zollamtlichen Überwachung-- festgestellt wurde, der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden konnte und weil dieser Ort auch innerhalb der vorgesehenen Nachweisfrist nicht festgestellt worden ist. Den Feststellungen des FG lässt sich nicht entnehmen, dass --wie es der Kläger behauptet-- die Zuwiderhandlung zuerst in Frankreich von den dortigen Zollbehörden festgestellt worden ist. Dies bedarf auch keiner Klärung, weil es sich im Streitfall jedenfalls nicht so verhält, dass die Zollbehörden mehrerer Mitgliedstaaten die Durchführung desselben Besteuerungsverfahrens jeweils für sich beanspruchen; vielmehr hat die französische Zollverwaltung die Übernahme des Besteuerungsverfahrens abgelehnt.

Ist der Ort der Zuwiderhandlung nicht bekannt, entfällt die Erhebungszuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Zuwiderhandlung festgestellt hat, nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 1 VO Nr. 719/91 nur dann ("es sei denn"), wenn den Zollbehörden der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, innerhalb der gemäß Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1593/91 der Kommission vom 12. Juni 1991 zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 719/91 des Rates über die Verwendung von Carnets TIR und Carnets ATA als Versandpapiere in der Gemeinschaft (ABlEG Nr. L 148/11) vorgeschriebenen Frist nachgewiesen wird. Erfolgt der Nachweis nicht innerhalb dieser Frist, greift die Fiktion des Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 VO Nr. 719/91 ein; in diesem Fall gilt die Zuwiderhandlung als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist. Seinerzeit belief sich diese Nachweisfrist auf zwei Jahre nach dem Tag der Mitteilung an den Verband über die Nichterledigung des Carnet TIR (Art. 11 Abs. 2 des TIR-Übereinkommens vom 14. November 1975, BGBl II 1979, 445).

Im Streitfall ist nach den Feststellungen des FG der Ort der Zuwiderhandlung nicht innerhalb dieser Frist nachgewiesen worden. Das FG hat vielmehr festgestellt, dass sich die Tatsachen, die seiner Ansicht nach einen Ort in Frankreich als Ort der Zuwiderhandlung belegen, erst aus dem Schlussbericht des Zollfahndungsamts (ZFA) F vom 20. Mai 1996 ergaben sowie aus den vom FG in Bezug genommenen Ermittlungsergebnissen der französischen Zollbehörden, die allerdings dem ZFA F auch erst am 20. Februar 1996 übergeben worden sind.

b) Hinsichtlich der Frage, ob die Zuständigkeit der deutschen Zollbehörden auch für die Abgabenfestsetzung gegenüber dem Kläger gegeben war, ist maßgeblich auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das Hauptzollamt W diese Abgaben festsetzte. Die streitige Zuständigkeit des Hauptzollamts W hängt daher davon ab, ob in einem Fall, in dem --wie vom FG vorliegend angenommen-- der Ort der Zuwiderhandlung später, d.h. nach dem Ablauf der insoweit vorgeschriebenen Frist, nachgewiesen wird, die bereits wirksam gewordene Zuständigkeitsfiktion des Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 1 VO Nr. 719/91 gleichwohl fortgilt oder ob diese Fiktion durch die spätere Feststellung des Ortes der Zuwiderhandlung entkräftet werden kann mit der Folge, dass dann die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 10 Abs. 2 VO Nr. 719/91 wieder auflebt (so offenbar: EuGH-Urteil vom 23. März 2000 Rs. C-310/98 und C-406/98, EuGHE 2000, I-1797 Rz. 37).

Der Senat kann diese Frage jedoch offen lassen, da die vom FG vertretene Ansicht, dass nach den Ermittlungsergebnissen der Zollbehörden ein in Frankreich liegender Ort der Zuwiderhandlung als nachgewiesen anzusehen sei und dass daraus gemäß Art. 10 Abs. 2 VO Nr. 719/91 die Zuständigkeit der französischen Zollbehörden für die Abgabenerhebung folge, jedenfalls nicht die Aufhebung der angefochtenen Steuerbescheide rechtfertigt.

aa) Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 enthält für den Fall, in dem der Ort der Zuwiderhandlung "später festgestellt" wird eine Sonderregelung; in diesem Fall greift der dort vorgesehene Ausgleichsmechanismus ein. Nach der Rechtsprechung des EuGH und --ihr folgend-- des erkennenden Senats zu der fast wörtlich übereinstimmenden (Nachfolge-)Vorschrift des Art. 454 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 (ZKDVO) der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 253/1) in der Fassung vor In-Kraft-Treten der Verordnung (EG) Nr. 2787/2000 der Kommission vom 15. Dezember 2000 (ABlEG Nr. L 330/1) besagt diese Ausgleichsregelung, dass eine zu Unrecht angenommene Ungewissheit hinsichtlich des Ortes der Zuwiderhandlung und eine dementsprechend zu Unrecht angenommene Erhebungszuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Zuwiderhandlung festgestellt hat, nicht zu der Rechtsfolge führt, dass dessen Abgabenfestsetzung als rechtswidrig aufzuheben ist (EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797; Senatsurteile vom 18. Juli 2000 VII R 108/97, BFH/NV 2000, 1514; vom 5. Oktober 2000 VII R 107/97, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2001, 322; Senatsbeschluss vom 16. November 2005 VII B 299/04, zur Veröffentlichung in BFH/NV vorgesehen). Vielmehr lässt Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 die Abgabenfestsetzung durch den nunmehr als nicht zuständig erkannten Mitgliedstaat unberührt und sieht lediglich hinsichtlich der Abgaben, die nicht Einnahmen der Gemeinschaft sind, einen Abgabenausgleich zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten vor. Diese Ausgleichsregelung bildet einen Mechanismus zur administrativ vereinfachten Erhebung der Zölle und anderen Abgaben für diejenigen Fälle, in denen die Ungewissheit bezüglich des Ortes, an dem gegen die Zollvorschriften verstoßen wurde, zum völligen Verlust der geschuldeten Beträge führen könnte (EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797 Rz. 37). Mit dieser Ausgleichsregelung wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass die Mitgliedstaaten ein einheitliches Zollgebiet darstellen und dass die Bestimmung des für die Abgabenerhebung zuständigen Mitgliedstaats eine gemeinschaftsinterne Frage ist, die die Verpflichtung des Abgabenschuldners, die Abgaben zu entrichten, nicht berührt (EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797 Rz. 38). Dies entspricht im Übrigen auch dem im deutschen Verfahrensrecht geltenden Grundsatz, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsakts nicht deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (vgl. § 127 der Abgabenordnung --AO 1977--, § 46 des Verwaltungsverfahrensgesetzes); der Verwaltungsakt ist zwar in Fällen dieser Art rechtswidrig, jedoch ist der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Mai 1982 6 C 60.79, BVerwGE 65, 287).

Die Ausgleichsregelung gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 greift in allen Fällen ein, in denen ein Mitgliedstaat Abgaben erhoben hat, obwohl seine Zuständigkeit gemäß Art. 10 Abs. 2 VO Nr. 719/91 fehlte, weil er nicht der Mitgliedstaat war, in dem der später festgestellte Ort der Zuwiderhandlung lag. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Tatsachen, die den Ort der Zuwiderhandlung belegen, erst später bekannt geworden sind oder ob diese Tatsachen --wie vom FG im Streitfall angenommen-- im Zeitpunkt der Abgabenerhebung durch die Behörden des eigentlich unzuständigen Mitgliedstaats bereits bekannt waren, jedoch von diesen unzutreffend gewürdigt worden sind (vgl. EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797 Rz. 39; Senatsurteile in BFH/NV 2000, 1514, und in HFR 2001, 322; Senatsbeschluss vom 16. November 2005 VII B 299/04, a.a.O.).

bb) Ob in gleicher Weise zu entscheiden wäre, wenn die Behörde eines unzuständigen Mitgliedstaats die Zuständigkeit für die Abgabenerhebung ohne vertretbaren Grund, gleichsam willkürlich, an sich zieht, bedarf keiner Entscheidung, da es sich im Streitfall nicht so verhält. Anders als der Kläger meint, lässt sich den Feststellungen des FG nicht entnehmen, dass dem Hauptzollamt W im Zeitpunkt der Abgabenfestsetzung der in Frankreich liegende Ort der Zuwiderhandlung bereits bekannt war. Das Hauptzollamt W kannte zwar den Schlussbericht des ZFA F sowie die Ermittlungsergebnisse der französischen Zollbehörden, hat jedoch die sich daraus ergebenden Tatsachen --insbesondere den Austausch der Kennzeichen der Auflieger-- anders gewürdigt, als es das FG später getan hat, und hat den Ort der Zuwiderhandlung weiterhin als ungewiss angesehen. Diese Würdigung war möglich und musste dem Hauptzollamt W nicht etwa als völlig unhaltbar erscheinen. Der daraus (nach Ansicht des FG) folgende Irrtum des Hauptzollamts W hinsichtlich des Ortes der Zuwiderhandlung führt daher nicht zur Aufhebung seiner Abgabenfestsetzung, sondern zum sog. Ausgleichsmechanismus gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91.

cc) Es mag zwar der Sinn und Zweck des sog. Ausgleichsmechanismus sein, einer aufgrund der Ungewissheit über die Behördenzuständigkeit drohenden Verjährung der zu erhebenden Abgaben entgegenzuwirken (vgl. EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797 Rz. 37). Anders als der Kläger meint, steht aber dieser Sinn und Zweck des Ausgleichsmechanismus der Abgabenerhebung im Streitfall nicht entgegen, denn den Vorschriften kann gleichwohl nicht entnommen werden, dass die Ausgleichsregelung nur in solchen Fällen eingreift, in denen mit der Abgabenerhebung durch den Mitgliedstaat, in dem die Zuwiderhandlung festgestellt wurde, der Eintritt der Verjährung der Abgaben in dem (eigentlich) zuständigen Mitgliedstaat verhindert wird. In den Fällen der Zuständigkeitsfiktion gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 VO Nr. 719/91 liegen Erkenntnisse über den Ort der Zuwiderhandlung und damit über einen zuständigen anderen Mitgliedstaat, in dem --wie es der Kläger für Frankreich behauptet-- kürzere Verjährungsfristen gelten, gerade nicht vor.

dd) Der Senatsbeschluss vom 5. Juni 2002 VII B 181/01 (BFH/NV 2002, 1325), auf den das FG seine Auffassung meint stützen zu können, betraf eine Vorschrift des gemeinschaftlichen Versandverfahrens, die keine mit Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 vergleichbare Ausgleichsregelung enthielt. Anders als das FG angenommen hat, hängt die Anwendung der Ausgleichsregelung auch nicht davon ab, dass der in Anspruch genommene Schuldner die Abgaben bereits entrichtet hat. Zwar regelt Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 Satz 2 VO Nr. 719/91 den Fall der Erstattung bereits entrichteter Abgaben an den Schuldner, wenn sich die Abgaben in dem Mitgliedstaat, in dem der nunmehr festgestellte Ort der Zuwiderhandlung liegt, als niedriger erweisen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die gesamte Ausgleichsregelung gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 zur Voraussetzung hat, dass die Abgaben im ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat bereits entrichtet worden sind. Anderenfalls würde der Zweck dieser Vorschrift, in Fällen der Ungewissheit hinsichtlich des Ortes der Zuwiderhandlung eine vereinfachte Erhebung der Zölle und anderen Abgaben zu schaffen und den Verlust der geschuldeten Beträge aus Verjährungsgründen zu verhindern (EuGH-Urteil in EuGHE 2000, I-1797 Rz. 37), weitgehend verfehlt.

ee) Ein solcher sich aus dem Vergleich der deutschen und der französischen Abgaben ergebender Mehrbetrag, um den der festgesetzte Betrag im Streitfall zu ermäßigen oder dem Kläger gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 Satz 2 VO Nr. 719/91 zu erstatten wäre, falls er die Abgaben --was allerdings nicht festgestellt worden ist-- bereits entrichtet haben sollte, ergibt sich weder aus den Feststellungen des FG noch aus dem Vorbringen des Klägers. Insoweit beruft sich der Kläger zu Unrecht darauf, dass die Abgaben in Frankreich schon nach Ablauf der regulären dreijährigen Frist verjährt gewesen seien. Gilt die Zuwiderhandlung als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt wurde, werden nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 VO Nr. 719/91 die Zölle und anderen Abgaben nach den gemeinschaftsrechtlichen oder den innerstaatlichen Vorschriften dieses Mitgliedstaats erhoben. Wie ausgeführt, lässt Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 VO Nr. 719/91 die Abgabenfestsetzung durch diesen --später als nicht zuständig erkannten-- Mitgliedstaat unberührt. Ergibt sich zu einem späteren Zeitpunkt die Erhebungszuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats, richtet sich daher die bereits erfolgte Abgabenerhebung nicht nachträglich nach dessen innerstaatlichen Verfahrensvorschriften.

c) Im Übrigen kann nach Ansicht des Senats nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Fa. T als weiterer Gesamtschuldner zu einem Zeitpunkt in Anspruch genommen wurde, als --offenbar auch nach Ansicht des Klägers-- sich der Ort der Zuwiderhandlung noch nicht aus den zollamtlichen Ermittlungen ergab. Diese seinerzeit bestehende Erhebungszuständigkeit des Hauptzollamts W musste auch dann fortbestehen, als zu einem späteren Zeitpunkt ein weiterer Schuldner bekannt wurde, da Erhebungskompetenzen eindeutig zu sein haben und dieselben, aus einem bestimmten Lebenssachverhalt herrührenden und von mehreren Gesamtschuldnern geschuldeten Abgaben nicht --je nach Gesamtschuldner-- von unterschiedlichen Behörden verschiedener Mitgliedstaaten erhoben werden können.

Ende der Entscheidung

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