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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 26.06.2007
Aktenzeichen: VII R 35/06
Rechtsgebiete: AO, EStG


Vorschriften:

AO § 5
AO § 130
AO § 218 Abs. 2
EStG § 36 Abs. 2
§ 130 Abs. 2 Nr. 4 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben (intendiertes Ermessen). Deshalb ist eine Anrechnungsverfügung im Allgemeinen im Interesse von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen, wenn der Begünstigte deren Rechtswidrigkeit erkannt oder lediglich infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Diese Regelfolge des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO ist grundsätzlich nicht begründungsbedürftig.
Gründe:

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wendet sich gegen einen Abrechnungsbescheid des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--), in dem entgegen den Anrechnungsverfügungen der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide 1990, 1991 und 1992 die Vorauszahlungen nur zur Hälfte angerechnet worden sind.

Die Vorauszahlungen waren in den Streitjahren gegen den Kläger und seine damalige Ehefrau festgesetzt. Durch Verrechnungsscheck bzw. Inkasso des Vollziehungsbeamten sind hierauf Leistungen erbracht worden. Der Kläger, der bis 1985 zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt worden war, hat für die Streitjahre 1990 und 1991 die getrennte Veranlagung, für das Streitjahr 1992 eine Einzelveranlagung beantragt und in seiner beim FA im Juli 1997 eingegangenen Einkommensteuererklärung für 1991 mitgeteilt, dass er von seiner Ehefrau getrennt lebe. Das FA hat den Kläger entsprechend veranlagt und die vorgenannten Vorauszahlungen in der Anrechnungsverfügung auf seine Einkommensteuerschuld bzw. den Solidaritätszuschlag in voller Höhe angerechnet. Nachdem die frühere Ehefrau des Klägers dagegen Einwendungen erhoben hatte, wurde die Angelegenheit mit dem Kläger an Amtsstelle besprochen, welcher dabei unter anderem die Auffassung vertrat, die Voraussetzungen des § 130 der Abgabenordnung (AO) für eine nachträglich abweichende Anrechnung lägen nicht vor. Ungeachtet dessen hat das FA eine hälftige Aufteilung der Vorauszahlungen 1990 bis 1992 vorgenommen und den Kläger hierüber durch Verfügung vom 15. November 2001 unterrichtet. Als der Kläger die von ihm entsprechend zu leistenden Steuerzahlungen nicht erbrachte, hat es einen Abrechnungsbescheid für die Jahre 1989 bis 1992 erlassen, in dem es die Vorauszahlungen nur zur Hälfte auf die Einkommensteuerschuld des Klägers angerechnet hat. Der hiergegen erhobene Einspruch hatte wegen der Vorauszahlungen 1990 bis 1992 keinen Erfolg. Das FA vertrat in der Einspruchsentscheidung die Auffassung, mangels Anhaltspunkten für eine andere Tilgungsabsicht seien die Zahlungen als für Rechnung beider Eheleute vorgenommen anzusehen. Eine Bindung an die Anrechnungsverfügungen bestehe nicht, weil § 218 Abs. 2 AO eine gegenüber §§ 130, 131 AO vorgreifliche Sonderregelung darstelle.

Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 394 veröffentlichten Gründen statt und hob den Abrechnungsbescheid vom 11. März 2002 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2002 auf. Es führt im Wesentlichen aus, dass das FA die Anrechnungsverfügung nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO habe zurücknehmen dürfen, die allerdings vorgelegen hätten. Denn der Kläger habe Kenntnis davon gehabt, dass die Anrechnung der Vorauszahlungen rechtswidrig gewesen sei. Das FA habe aber die erforderliche Ermessensausübung versäumt.

Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. In einem Abrechnungsbescheid könne ohne Bindung an frühere Anrechnungsverfügungen über die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis entschieden werden.

Der Kläger hält die Entscheidung des FG für zutreffend und beruft sich auf die Rechtsprechung des VII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH), die die Anwendung des § 130 Abs. 2 AO im Verfahren über den Abrechnungsbescheid nicht ausschließe.

II.

Die Revision des FA ist zulässig und begründet. Das Urteil des FG, das Bundesrecht verletzt (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), ist aufzuheben. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Der Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) ist rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Kläger ist hinsichtlich der geleisteten Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer nur zur Hälfte anrechnungsberechtigt.

Das FA durfte die vorgenommene Anrechnung der geleisteten Vorauszahlungen zur Hälfte zurücknehmen. Das FG hat zutreffend geurteilt, dass die Voraussetzungen für eine Teilrücknahme der Anrechnungsverfügungen nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO vorliegen. Danach darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet, zurückgenommen werden, wenn seine Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war.

1. Die Anrechnung der Vorauszahlungen gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf die Einkommensteuerschuld des Klägers für die Veranlagungszeiträume 1990 bis 1992 war nur zur Hälfte berechtigt.

Nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG ist anrechnungsberechtigt derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nicht derjenige, auf dessen Kosten die Zahlung erfolgt ist. Es kommt also nicht darauf an, von wem und mit wessen Mitteln gezahlt worden ist (Senatsurteile vom 15. November 2005 VII R 16/05, BFHE 211, 396, BStBl II 2006, 453; vom 25. Juli 1989 VII R 118/87, BFHE 157, 326, BStBl II 1990, 41, 43), sondern nur darauf, wessen Steuerschuld nach dem Willen des Zah-lenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem FA erkennbar ist, getilgt werden sollte.

Die Ansicht des FG, dass der Wille des Klägers von dem FA als Zahlungsempfänger nur so ausgelegt werden konnte, dass der Kläger auch auf die Einkommensteuerschuld seiner damaligen Ehefrau eine Vorauszahlung hat leisten wollen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn das FA als Zahlungsempfänger kann, solange eine Ehe besteht und die Eheleute nicht dauernd voneinander getrennt leben, was nach § 26 EStG die Voraussetzung für die Zusammenveranlagung ist, davon ausgehen, dass derjenige Ehegatte, der die Zahlung auf die gemeinsame Steuerschuld bewirkt, in Ermangelung entgegenstehender Absichtsbekundungen, mit seiner Zahlung auch die Tilgung der Steuerschuld des anderen Ehegatten bewirken will (Senatsurteil in BFHE 211, 396, BStBl II 2006, 453).

Ob die Eheleute sich später trennen oder einer der Ehegatten nachträglich die getrennte Veranlagung beantragt, ist für die Beurteilung der Tilgungsabsicht nicht maßgeblich, denn es kommt nur darauf an, wie sich die Umstände dem FA zum Zeitpunkt der Vorauszahlung darstellten.

Es handelt sich demnach im Streitfall um einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt.

2. Eine rechtswidrige Anrechnungsverfügung kann aufgrund ihrer Bindungswirkung für einen späteren Abrechnungsbescheid nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen werden. Über das Verhältnis der Anrechnung von Steuern im Zusammenhang mit der Festsetzung der Jahressteuerschuld und deren Rücknahme (Änderbarkeit) --auch durch einen nachfolgenden Abrechnungsbescheid-- hat der erkennende Senat im Urteil vom 16. Oktober 1986 VII R 159/83 (BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405) und dem Urteil vom 15. April 1997 VII R 100/96 (BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787) wie folgt entschieden:

a) Der erkennende Senat hat in der Entscheidung in BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787 dargelegt, dass die Anrechnungsverfügung einen Verwaltungsakt mit Bindungswirkung darstellt, der als begünstigender Verwaltungsakt aufgrund des durch ihn begründeten Vertrauens durch einen nachfolgenden Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO geändert werden kann. Die Anrechnungsverfügung wirkt zwar nicht rechtsbegründend (konstitutiv), da sie keine Rechte und Pflichten zur Entstehung bringt, die der Steuerpflichtige nicht auch ohne sie hätte. Es handelt sich aber um einen deklaratorischen (bestätigenden) Verwaltungsakt, dessen Außenwirkung (§ 118 AO) sich je nach dem Ergebnis der Anrechnung in einem Leistungsgebot oder in einer Erstattungsverfügung äußert. Aus der rechtlichen Einordnung der Anrechnungsverfügung als deklaratorischer Verwaltungsakt folgt, dass diese, wenn sie einen Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen enthält und es sich somit um einen begünstigenden Verwaltungsakt handelt, nur zurückgenommen bzw. geändert werden kann, wenn eine der Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO gegeben ist. Denn die Definition des begünstigenden Verwaltungsaktes im Sinne dieser Vorschrift umfasst auch Verwaltungsakte, die ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil nur bestätigen, nicht aber begründen.

b) Auch in seinem Beschluss vom 13. Januar 2005 VII B 147/04 (BFHE 208, 404, BStBl II 2005, 457) ist der erkennende Senat nicht etwa --wie das FA ausführt-- von seiner ständigen Rechtsprechung zur Bindungswirkung einer Anrechnungsverfügung gegenüber einem später erlassenen Abrechnungsbescheid abgewichen. In dem Beschluss hat der Senat im Gegenteil seine ständige Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt, dass die in einem Einkommensteuerbescheid vorgenommene Anrechnung von Steuern wie der Lohnsteuer, der Kapitalertragsteuer und der Körperschaftsteuer eine bestandskräftige Regelung darstellt und eine Bindungswirkung für den späteren Abrechnungsbescheid entfaltet. Lediglich einschränkend hat der Senat ausgeführt, dass nicht alles, was das FA in den Abrechnungsteil eines Einkommensteuerbescheides aufnimmt, eine bestandskräftige Regelung darstellt, für die die Bindungswirkung des § 130 Abs. 2 AO gilt. Der Senat differenziert die auf dem Gesetz beruhende Anrechnung von Steuerzahlungen auf die Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 2 EStG, die bei Bestandskraft Bindungswirkung auch für einen späteren Abrechnungsbescheid entfaltet, von den sonstigen Entscheidungen des FA --inwiefern Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch bestimmte Zahlungen bereits getilgt sind und Erstattungsansprüche aus solchen Buchungen resultieren--, die eben gerade keine Bindungswirkung für einen späteren Abrechnungsbescheid begründen.

c) Zu Unrecht meint das FA, die Frage der Zuordnungsentscheidung, bei wem also die Vorauszahlungen anzurechnen seien, betreffe nicht die auf dem Gesetz beruhende Anrechnung von Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer. Von dieser Entscheidung solle demnach keine Bindungswirkung ausgehen.

Diese Rechtsauffassung der Revision steht mit der Rechtsprechung des Senats in seiner Entscheidung in BFHE 208, 404, BStBl II 2005, 457 nicht in Einklang. Ob die Vorauszahlung auf die Einkommensteuer dem Ehemann oder der Ehefrau gutgeschrieben wird, stellt eine Vorfrage zu der Entscheidung über die Anrechnung der Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 2 EStG dar. Ohne Beantwortung dieser Frage wäre eine Entscheidung über die Anrechnung nicht zu treffen.

Geht nun von der auf dem Gesetz beruhenden Anrechnung von Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 2 EStG bei Bestandskraft eine Bindungswirkung aus, so muss diese sich auch auf die Vorfrage erstrecken, ohne die über die Anrechnung selbst nicht entschieden werden kann.

d) Mit dieser Rechtsprechung weicht der Senat nicht in entscheidungserheblicher Weise von den Urteilen des I. Senats ab (vgl. BFH-Urteile vom 28. April 1993 I R 100/92, BFHE 171, 397, BStBl II 1993, 836; vom 28. April 1993 I R 123/91, BFHE 170, 573, BStBl II 1994, 147), so dass eine Anrufung des Großen Senats des BFH nach § 11 Abs. 2 FGO nicht geboten ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787; ebenso: Völlmeke, Probleme bei der Anrechnung von Lohnsteuer, Der Betrieb 1994, 1746, 1751).

3. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Anrechnungsverfügung nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO liegen im Streitfall vor. Der Kläger hatte, wie das FG festgestellt hat, Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Anrechnungsverfügungen. Denn ihm war der Inhalt des an seine damalige Ehefrau gerichteten Schreibens seiner Rechtsanwälte bekannt, in dem die Vertreter die nur hälftige Anrechnung der geleisteten Vorauszahlungen auf die Einkommensteuerschuld des Klägers als gerechtfertigt erachteten.

4. Zu Unrecht hat das FG angenommen, die Teilrücknahme der Anrechnungsverfügungen sei aufgrund Ermessensunterschreitung rechtswidrig. Denn die Teilrücknahme der Anrechnungsverfügungen war die einzig rechtmäßige Entscheidung, die das FA hat treffen können, so dass sein Ermessen auf Null reduziert war.

§ 130 Abs. 1 und 2 AO enthält keine Grundsätze für die Ausübung des Ermessens. Die Behörde muss sich deshalb bei ihrer Ermessensausübung gemäß der in § 5 AO für alle Ermessensvorschriften getroffenen Regelung an dem Zweck der Ermächtigung orientieren. Da der Gesetzgeber die Zurücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nicht für obligatorisch erklärt hat, kann der Zweck der Ermessensermächtigung nur darin gesehen werden, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem insbesondere bei Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits als dem äußeren Rahmen für die Ausübung des durch § 130 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessens eine Abwägung zu treffen, wobei letzterer nach Bestandskraft besonderes Gewicht erhalten muss.

Soweit das FG aus dem Fehlen von Ermessenserwägungen in dem Abrechnungsbescheid folgert, dieser sei wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig, verkennt es die Besonderheiten, die sich im vorliegenden Fall aus der Anwendbarkeit der Grundsätze über das gelenkte bzw. intendierte Ermessen ergeben. Ist danach eine ermessenseinräumende Vorschrift dahin auszulegen, dass sie für den Regelfall von einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinne ausgeht, so müssen besondere Gründe vorliegen, um eine gegenteilige Entscheidung zu rechtfertigen. Liegt ein vom Regelfall abweichender Sachverhalt nicht vor, versteht sich das Ergebnis der Abwägung von selbst; dann bedarf es insoweit auch keiner das Selbstverständliche darstellenden Begründung (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 5. Juli 1985 8 C 22.83, BVerwGE 72, 1).

Als ermessenslenkende Norm wird die Vorschrift des § 48 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) angesehen, die ihrem Inhalt nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO entspricht, wonach Verwaltungsakte bei Vorliegen bestimmter, in der Person des von ihnen Begünstigten liegender Umstände "in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit" (§ 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG) zurückzunehmen sind (BVerwG-Urteil vom 23. Mai 1996 3 C 13.94, Entscheidungssammlung zum Landwirtschaftsrecht --ESLR-- 4, ÖR 45). Nur dann, wenn der Behörde außergewöhnliche Umstände des Falls bekannt geworden oder erkennbar sind, die eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen, liegt ein rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens vor, wenn diese Umstände von der Behörde nicht erwogen worden sind (BVerwG-Urteil in ESLR 04, ÖR 45).

Ermessenslenkende Vorgaben im dargelegten Sinne sind ebenso § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zu entnehmen. Besteht kein Grund, das Vertrauen des Begünstigten zu schützen, so wird im Allgemeinen nur in Betracht kommen, einen rechtswidrigen Verwaltungsakt im Interesse von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen. Im Allgemeinen überwiegen das Interesse des Fiskus an der Erhaltung der Steuereinnahmen und das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung das Interesse des Begünstigten, einen ihm zu Unrecht gewährten Vorteil behalten zu dürfen, dessen Rechtswidrigkeit er kannte oder grob fahrlässig nicht erkannt hat.

Da in diesem Falle die Rücknahme der rechtswidrigen Anrechnungsverfügung die nicht begründungsbedürftige Regelfolge des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO ist, ist eine abwägende Stellungnahme der Behörde zur Rücknahme des Verwaltungsaktes grundsätzlich nicht erforderlich. So verhält es sich auch im Streitfall.

5. Die Frist für die Rücknahme hat das FA eingehalten. Erhält die Behörde nach § 130 Abs. 3 Satz 1 AO von Tatsachen Kenntnis, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes rechtfertigen, so ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig. Nicht die Erkenntnis der Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, setzt die Frist in Lauf, sondern erst die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit. Andernfalls wäre bei Verwaltungsakten, die die Finanzbehörde aus bloßer Rechtsunkenntnis erlässt, die Rücknahmefrist in den meisten Fällen bereits abgelaufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit ihres Verwaltungsaktes erkennt. Hat die Behörde beim Erlass eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes den ihr vollständig bekannten Sachverhalt unrichtig gewürdigt oder den Inhalt des anzuwendenden Rechts verkannt, so beginnt die Ausschlussfrist für die Rücknahme des Verwaltungsaktes also erst, wenn der zur Entscheidung berufene Sachbearbeiter der zuständigen Behörde die Rücknehmbarkeit des rechtswidrigen Verwaltungsaktes erkannt hat (BFH-Urteil vom 28. September 1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751).

Im Streitfall ist davon auszugehen, dass der zur Entscheidung berufene Sachbearbeiter des FA am 15. November 2001 die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Anrechnungsverfügungen erkannt hat; er hat gegenüber dem Kläger an diesem Tag verfügt, dass er nunmehr nur noch eine hälftige Anrechnung der auf die Einkommensteuerschuld geleisteten Vorauszahlungen als gerechtfertigt erachte. Am 11. März 2002 hat das FA dann gegenüber dem Kläger die hälftige Rücknahme der ursprünglichen Anrechnungsverfügungen durch einen formellen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO erklärt, mit dem die geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger nur noch zur Hälfte angerechnet worden sind. Die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 Satz 1 AO, die mit der Kenntnis der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Anrechnungsverfügungen am 15. November 2001 begonnen hat, war demnach am 11. März 2002 noch nicht abgelaufen.

Ende der Entscheidung

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