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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 30.08.2005
Aktenzeichen: VII R 61/04
Rechtsgebiete: AO 1977, GesO, FGO, BGB


Vorschriften:

AO 1977 § 34 Abs. 1
AO 1977 § 69
AO 1977 § 191
AO 1977 § 249 Abs. 1
GesO § 10
FGO § 96 Abs. 1
BGB § 254
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war Geschäftsführerin einer GmbH, über deren Vermögen inzwischen das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet worden ist. Im Zeitpunkt der Übernahme der Geschäftsführertätigkeit waren bei der GmbH bereits erhebliche Verluste aufgelaufen; Löhne waren nicht mehr regelmäßig ausbezahlt worden. Im Zuge der in das Vermögen der GmbH betriebenen Vollstreckung ließ sich der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) von der GmbH einen Kaufpreisanspruch für die Veräußerung zweier Immobilien abtreten. Wenige Monate später wurde zu Lasten eines Grundstückes der GmbH auf Antrag des FA eine Sicherungshypothek eingetragen. Nachdem die Klägerin mit der Begründung, mit dem Verkaufserlös Lohngelder finanzieren zu wollen, in einem an das FA gerichteten Schreiben um "Aufhebung" der Forderungsabtretung gebeten hatte, wurde die Abtretung wieder rückgängig gemacht. Hinsichtlich der eingetragenen Zwangssicherungshypothek kam das FA später zu dem Schluss, dass diese im Gesamtvollstreckungsverfahren keinen Bestand haben würde, und erteilte eine Löschungsbewilligung. Schließlich nahm das FA die Klägerin aufgrund der für die Monate Juli 1994 bis März 1995 nicht entrichteten Lohnsteuern sowie der nicht entrichteten steuerlichen Nebenleistungen gemäß § 69 i.V.m. § 34 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldnerin in Anspruch.

Nachdem das FA über den von der Klägerin eingelegten Einspruch über 15 Monate nicht entschieden hatte, erhob die Klägerin Untätigkeitsklage. Im Klageverfahren erließ das FA der Klägerin den größten Teil der Haftungssumme. In Höhe des Teilerlasses erklärten beide Parteien den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Den Haftungsbescheid über die verbliebene Haftungssumme sowie die Einspruchsentscheidung hob das Finanzgericht (FG) mit der Begründung auf, das FA treffe ein überwiegendes Mitverschulden, weil die Beitreibung der Steuerschulden infolge vorsätzlicher oder besonders grober Pflichtverletzung des FA fehlgeschlagen und deshalb die Haftungsschuld entstanden sei. Das Mitverschulden des FA sei entweder auf der Ebene der Ermessensentscheidung oder bereits auf der Ebene der Feststellung des Tatbestandes des § 69 AO 1977 zu prüfen. Das erhebliche Mitverschulden des FA folge im Streitfall daraus, dass das FA eine ihm gegenüber erklärte Abtretung eines Kaufpreisanspruches wieder rückgängig gemacht habe. Dass das FA von einer Erfolg versprechenden Vollstreckungsmöglichkeit ausgegangen sei, ergebe sich bereits daraus, dass es im Klageverfahren eingewandt habe, eine Freigabe der Forderung sei zur Vermeidung einer Übersicherung notwendig gewesen. Das FA verkenne, dass auch ein teilweiser Verzicht auf die aus der Abtretung erworbenen Rechte möglich gewesen wäre. Dagegen stelle ein völliger Verzicht auf die Abtretung, die vom Gesamtvollstreckungsverwalter nicht nach § 10 der Gesamtvollstreckungsordnung hätte angefochten werden können, eine grobe Außerachtlassung einer Erfolg versprechenden Vollstreckungsmöglichkeit dar.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht das FA einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Das FG habe schriftsätzlich unterbreiteten Vortrag unberücksichtigt gelassen und infolgedessen seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt. Bereits in der Einspruchsentscheidung und einem späteren Schriftsatz sei dargelegt worden, dass die Klägerin aufgrund der ungekürzten Auszahlung der Gehälter und der unterlassenen Abführung der Lohnsteuer an das FA ihre Pflichten als Geschäftsführerin zumindest grob fahrlässig verletzt habe. Von einem geringen Verschulden, das nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) der Annahme eines Mitverschuldens des FA grundsätzlich nicht entgegenstehen würde, könne daher nicht ausgegangen werden. Darüber hinaus sei das FG von der ständigen Rechtsprechung des BFH abgewichen, nach der ein etwaiges Mitverschulden des FA nur dann im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden könnte, wenn dem FA eine besonders grobe oder sogar vorsätzliche Pflichtverletzung zur Last falle und demgegenüber das Verschulden des Vertreters als gering einzustufen sei. Jedenfalls begründe das bloße Unterlassen von Überwachungs- und Beitreibungsmaßnahmen kein Mitverschulden des FA, das geeignet sei, eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme des Vertreters nach § 69 AO 1977 auszuschließen.

Das FA beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Ihre Pflichten als Geschäftsführerin habe sie entgegen der Auffassung des FA nicht schuldhaft verletzt, denn das FA habe die Nichtabführung der Abzugsbeträge über einen längeren Zeitraum geduldet und sie lediglich zur Begleichung von Altrückständen angehalten, die nicht Gegenstand der Haftung seien. Auch der Steuerberater der GmbH habe sie nicht auf eine etwaige Unzulässigkeit ihres Verhaltens oder auf haftungsrechtliche Konsequenzen hingewiesen. Das FA trage aufgrund der Freigabe von Sicherheiten ein erhebliches und überwiegendes Mitverschulden am Eintritt des Steuerausfalls. Im Rahmen der Revisionsentscheidung sei die vom FA in Bezug genommene Rechtsprechung des BFH zu relativieren.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).

Entgegen der Auffassung des FG führt die Freigabe bzw. der Austausch einer Sicherheit nicht zu einem besonders schwerwiegenden Mitverschulden des FA, das die haftungsrechtliche Inanspruchnahme eines GmbH-Geschäftsführers aufgrund nicht einbehaltener und abgeführter Lohnsteuer als rechtswidrig erscheinen lässt.

a) Die Erfüllung des haftungsrechtlichen Tatbestandes des § 69 AO 1977 setzt in der 1. Tatbestandsalternative voraus, dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis aufgrund einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verletzung steuerlicher Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ist der Eintritt eines Vermögensschadens in Form eines Steuerausfalls. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, begründet die Haftung nach § 69 AO 1977 einen Schadensersatzanspruch des Fiskus gegen den Haftungsschuldner. Denn Ziel der Haftung nach dieser Vorschrift ist es, Steuerausfälle auszugleichen, die durch ein schuldhaftes Fehlverhalten der in § 69 AO 1977 benannten Personen verursacht worden sind (Senatsentscheidungen vom 28. November 2002 VII R 41/01, BFH/NV 2003, 537; vom 5. März 1991 VII R 93/88, BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678, m.w.N.). Aus dem Schadensersatzcharakter folgt zugleich eine Begrenzung der Haftung in den Fällen, in denen die schuldhafte Pflichtverletzung für den Eintritt des Schadens nicht adäquat kausal gewesen ist. Die Geltendmachung eines weiter gehenden Haftungsanspruchs würde zu einer nicht gerechtfertigten Privilegierung des Fiskus gegenüber anderen Gläubigern und zu einer mit Sinn und Zweck der Haftungsvorschrift nicht zu vereinbarenden zusätzlichen Sanktion gegenüber dem Haftungsschuldner führen (BFH-Urteil vom 26. August 1992 VII R 50/91, BFHE 169, 13, BStBl II 1993, 8).

b) Aus dem Schadensersatzcharakter der Haftungsnorm folgt auch die Anwendung des in § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zum Ausdruck kommenden und auch im Steuerrecht entsprechend anzuwendenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass ein Schadensersatzanspruch gemindert sein oder ganz entfallen kann, wenn der Gläubiger für den Eintritt des Schadens mitverantwortlich ist (BFH-Urteil vom 11. August 1978 VI R 169/75, BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683). Die Nichterfüllung von Obliegenheiten des FA kann zwar an der Erfüllung des Haftungstatbestandes durch den Haftungsschuldner nichts ändern, doch nach dem aus dem Grundsatz von Treu und Glauben entwickelten Rechtsgedanken des § 254 BGB oder im Rahmen der Ermessensausübung nach § 191 AO 1977 bei der Bemessung der Haftungsquote Berücksichtigung finden (vgl. Senatsentscheidung vom 2. November 2001 VII B 75/01, BFH/NV 2002, 310).

Eine im Schrifttum im Vordringen befindliche Meinung zieht aufgrund des Schadensersatzcharakters der Haftungsvorschrift eine Berücksichtigung des finanzbehördlichen Mitverschuldens auf der Tatbestandsebene in Erwägung (vgl. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 69 AO 1977 Rz. 28; Ehlers in Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 69 AO 1977 Rz. 35; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 69 Rz. 103; Kanzler, Der Einwand finanzbehördlichen Mitverschuldens gegenüber Haftungsansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1985, 339, sowie Buciek, Mitwirkendes Verschulden durch Unterlassen von Vollstreckungsmaßnahmen?, DStR 1987, 190), während die Rechtsprechung des BFH daran festhält, dass ein etwaiges Mitverschulden des FA im Rahmen der Ausübung des Entschließungsermessens zu berücksichtigen sei. Diese Frage kann im Streitfall jedoch auf sich beruhen, denn die Berücksichtigung eines etwaigen finanzbehördlichen Fehlverhaltens kann nach ständiger BFH-Rechtsprechung nur in den Fällen überhaupt in Betracht kommen, in denen das finanzbehördliche Fehlverhalten ein solch erhebliches Ausmaß annimmt, dass demgegenüber das Verschulden des Haftungsschuldners nicht entscheidend ins Gewicht fällt (Senatsentscheidungen vom 11. Mai 2000 VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442; vom 28. August 1990 VII S 9/90, BFH/NV 1991, 290, und vom 2. Oktober 1986 VII R 28/83, BFH/NV 1987, 349, jeweils unter Hinweis auf die zu § 109 der Reichsabgabenordnung ergangene BFH-Entscheidung vom 26. Januar 1961 IV 140/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung, 1961, 109).

c) Nach den Feststellungen des FG hat die GmbH über einen Zeitraum von neun Monaten, in dem die Klägerin alleinige Geschäftsführerin der GmbH gewesen ist, keine Lohnsteuer und keine steuerlichen Nebenleistungen an das FA abgeführt. Soweit in diesen Monaten tatsächlich Nettogehälter ausbezahlt worden sein sollten --was die Klägerin bestritten und das FG nicht festgestellt hat--, ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Klägerin die ihr als Geschäftsführerin obliegenden steuerlichen Pflichten schuldhaft unerfüllt gelassen hat. Denn bei dieser Sachlage erscheint es nach allgemeiner Lebenserfahrung nahezu ausgeschlossen, dass in den Abrechnungsmonaten Zahlungsmittel gerade nur noch in Höhe der ausgezahlten Nettolöhne zur Verfügung gestanden haben und andere Verbindlichkeiten auch nicht teilweise getilgt worden sein sollen. Sind Löhne über einen längeren Zeitraum ohne entsprechende Abführung von Lohnsteuern in voller Höhe ausbezahlt worden, rechtfertigt dies die Annahme, dass ausreichende Mittel zur Begleichung der Steuerschuld zur Verfügung gestanden hätten (Senatsentscheidungen vom 17. Januar 1989 VII B 96-97/88, BFH/NV 1989, 424, und vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859). In diesem Fall handelt ein GmbH-Geschäftsführer in der Regel vorsätzlich, wenn er in Kenntnis seiner steuerlichen Pflichten nicht dafür Sorge trägt, dass die Lohnsteuer einbehalten und an das FA abgeführt wird. Das Vorliegen der höchsten Verschuldensstufe schließt die Berücksichtigung eines etwaigen Mitverschuldens der Finanzbehörde grundsätzlich aus.

d) Darüber hinaus vermag der erkennende Senat in der Rückabtretung der Kaufpreisforderung keine besonders grobe Pflichtverletzung der Finanzbehörde zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der BFH in ständiger Rechtsprechung ein Mitverschulden des FA verneint, wenn das FA über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen zur Beitreibung der ausstehenden Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht hat (BFH-Urteile in BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683, und in BFH/NV 1987, 349). Eine Verpflichtung der Finanzbehörde, bei Steuerrückständen in jedem Fall die Vollstreckung einzuleiten, kann § 249 Abs. 1 AO 1977 nicht entnommen werden. Vielmehr steht es im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde, ob und in welcher Weise sie von der eingeräumten Ermächtigung Gebrauch machen will (Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 249 AO 1977 Rz. 45, m.w.N.). Andererseits muss ihr auch zugestanden werden, eine bereits getroffene Vollstreckungsmaßnahme wieder aufzuheben, wenn sie dies für geboten erachtet.

Im Streitfall ist das FA mit der Freigabe der Sicherheit einem Ersuchen der GmbH nachgekommen, die angekündigt hat, mit den Geldern die zur Fortführung des Unternehmens notwendigen Gehälter bezahlen zu wollen. Wohl in der Hoffnung, dass die Steuerschuldnerin dadurch in die Lage versetzt würde, den Betrieb aufrecht zu erhalten und dadurch ihre Liquiditätsschwierigkeiten zu überwinden, hat sich das FA mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt. Nahezu zeitgleich wurde jedoch zu Lasten der GmbH eine Sicherungshypothek eingetragen, so dass es nach Einschätzung des FA ohne die Rückabtretung der Forderung zu einer unzulässigen Übersicherung gekommen wäre. Bei einheitlicher Betrachtung der beiden Vorgänge hat im Ergebnis lediglich ein Austausch der Sicherheiten stattgefunden. Anhaltspunkte, die auf eine offensichtlich unzureichende Werthaltigkeit des Grundpfandrechts schließen lassen, sind dem erstinstanzlichen Urteil nicht zu entnehmen. Bei dieser Sachlage vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die Rückübertragung der Forderung eine vorsätzliche oder besonders grobe Pflichtverletzung des FA dargestellt hat.

Da das FG seiner Entscheidung eine von der Rechtsauffassung des erkennenden Senats abweichende Meinung zugrunde gelegt hat, war das Urteil aufzuheben. Die Sache ist jedoch nicht entscheidungsreif und war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Im zweiten Rechtsgang wird das FG insbesondere darüber zu befinden haben, ob die Klägerin die ihr obliegenden Pflichten vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat und ob ihre Behauptung zutrifft, dass Gehälter nicht ausbezahlt worden seien bzw. dass nach Auszahlung der letzten Nettolöhne keine weiteren Geldmittel zur Verfügung gestanden haben.

Ende der Entscheidung

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