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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 12.12.2005
Aktenzeichen: VII R 63/04
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977, InsO


Vorschriften:

FGO § 102
AO 1977 § 258
AO 1977 § 284 Abs. 1
InsO § 21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) organisiert, veranstaltet und vermittelt Gruppenreisen. Aufgrund erheblicher Umatzsteuerrückstände leitete der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--), nachdem er einen Antrag der Klägerin auf Erlass der Steuerschulden sowie einen Antrag auf Vollstreckungsaufschub abgelehnt hatte, Vollstreckungsmaßnahmen ein. Der Versuch einer Sachpfändung, bei der der Vollziehungsbeamte in den Räumlichkeiten der Firma A den Geschäftsführer der Klägerin antraf und vermerkte, dass sich der Gewahrsam an den Akten der Klägerin in den Räumlichkeiten der Firma A befinde, sowie der Erlass einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung gegenüber einer früheren Geschäftsbank der Klägerin blieben ohne Erfolg. Am 28. Januar 2004 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Vollstreckungsschutz und bot monatliche Ratenzahlungen ab dem 15. April 2004 in Höhe von 1 000 € an. Dies lehnte das FA am 2. Februar 2004 ab. Auch das weitere telefonisch unterbreitete Angebot, die Rate auf 2 000 € zu erhöhen, lehnte das FA am 2. März 2004 ab. Daraufhin beantragte die Klägerin am 11. März 2004 ihr Vollstreckungsschutz in der Weise zu gewähren, dass sie vom 15. Mai bis 15. Oktober 2004 monatlich jeweils 2 000 € auf die Abgabenrückstände in Höhe von ca. 65 000 € zahle. Ab Mai 2005 sollten entsprechende Zahlungen wieder aufgenommen werden. Am 18. März 2004 beantragte das FA beim zuständigen Amtsgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin. Den Antrag auf Gewährung von Volltreckungsaufschub lehnte das FA am 6. April 2004 ab.

Einspruch und Klage gegen die ablehnende Entscheidung hatten keinen Erfolg. Auch die Klage gegen das FA auf Zurücknahme des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin zunächst Revision eingelegt und nach Abweisung des Insolvenzantrages durch das Amtsgericht den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, dem FA die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Daraufhin hat das FA den Rechtsstreit in der Hauptsache ebenfalls für erledigt erklärt und beantragt, der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

II. 1. Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Das angefochtene Urteil einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung ist dadurch gegenstandslos geworden. Der Senat hat daher nur noch nach billigem Ermessen über die Auferlegung der Kosten zu entscheiden (§ 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Hierbei ist der mutmaßliche Ausgang des Verfahrens ohne das erledigende Ereignis zu berücksichtigen, wobei eine summarische Beurteilung der Rechtslage ausreicht. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und dem bisherigen Sach- und Streitstand entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des gesamten Rechtsstreits der Klägerin aufzuerlegen.

2. Die Entscheidung des FA, das Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Steuerschuldners zu beantragen, ist eine Ermessensentscheidung, die gemäß § 102 FGO von den Gerichten nur daraufhin überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Dezember 2003 VII B 265/01, BFH/NV 2004, 464). Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann gestellt werden, wenn dem FA ein Anspruch zusteht, der ihm im Insolvenzverfahren die Stellung eines Insolvenzgläubigers vermittelt, und wenn ein Insolvenzgrund, wie z.B. die Zahlungsunfähigkeit des Vollstreckungsschuldners, vorliegt (vgl. § 16 i.V.m. § 17 der Insolvenzordnung --InsO--).

Positiver Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse bedarf es nicht. Allerdings darf das FA den Insolvenzantrag nicht unter missbräuchlicher Ausnutzung seiner aufgrund der bestandskräftigen Steuerbescheide gegebenen Rechtsstellung oder aus sachfremden Erwägungen stellen, die z.B. dann anzunehmen sind, wenn das FA lediglich die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Vollstreckungsschuldners bezweckt (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 1985 VII B 29/85, BFH/NV 1986, 41). Ein solcher Antrag wäre daher unzulässig, wenn für das FA von vornherein feststehen würde, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Insolvenzmasse nicht vorhanden ist. Denn in diesem Fall würde der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Ergebnis nur der Existenzvernichtung des Steuerpflichtigen dienen (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2004, 464).

3. Überträgt man diese Rechtsgrundsätze auf den Streitfall, erweist sich die Ausübung des dem FA zustehenden Ermessens nicht als rechtsfehlerhaft. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass sich das FA bei der Ermessensausübung von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, die allein der wirtschaftlichen Vernichtung der Klägerin dienten.

a) Das FA war nicht verpflichtet, die Klägerin vor Antragstellung zur Vorlage eines Vermögensverzeichnisses aufzufordern oder weitere Vollstreckungsversuche zu unternehmen. Das FA hat den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin unter Hinweis auf eine fruchtlose Sachpfändung und eine ergebnislose Kontopfändung gestellt. Im Pfändungsprotokoll hat der Vollstreckungsbeamte angegeben, dass keine pfändbaren Sachen vorgefunden worden seien und dass der Geschäftsführer der Klägerin angegeben habe, dass die Vollstreckungsschuldnerin keine pfändbaren Sachen, Forderungen oder andere Vermögenswerte besitze. Wie die Klägerin selbst eingeräumt hat, hatte sie im Zeitpunkt des Pfändungsversuchs den Geschäftsbetrieb bereits eingestellt, so dass der Vollstreckungsbeamte in den von ihm aufgesuchten Räumlichkeiten lediglich die Aufbewahrung des Aktenbestandes der Klägerin feststellen konnte.

Bei dieser Sachlage stellt es nach Auffassung des beschließenden Senats keinen Ermessensfehler dar, wenn das FA davon absieht, vom Vollstreckungsschuldner gemäß § 284 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) die Vorlage eines Vermögensverzeichnisses zu verlangen und auch keine weiteren Vollstreckungsversuche unternimmt, von denen es aufgrund der Gesamtumstände annehmen muss, dass diese ebenfalls fruchtlos verlaufen werden.

b) Das FA war ebenfalls nicht verpflichtet, auf das Angebot der Klägerin zur Begleichung der Steuerschulden in monatlichen Raten von 1 000 bzw. 2 000 € einzugehen und insoweit nach § 258 AO 1977 Vollstreckungsaufschub zu gewähren. In Anbetracht der zur Tilgung anstehenden Steuerbeträge kann von einem absehbaren Tilgungszeitraum im Sinne dieser Vorschrift nicht mehr ausgegangen werden.

Soweit die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist, kann die Vollstreckungsbehörde nach § 258 AO 1977 die Vollstreckung einstweilen einstellen oder beschränken oder eine Vollstreckungsmaßnahme aufheben. Solche "einstweiligen" Maßnahmen kommen nur in Betracht, wenn vorübergehende Umstände vorliegen, die eine Vollstreckung unbillig erscheinen lassen. Umstände, die zu einer dauerhaften Einstellung der Vollstreckung Anlass geben, können dagegen nicht berücksichtigt werden, denn eine dauerhafte Unterbindung der Vollstreckung ist in § 258 AO 1977 nicht angelegt (vgl. Senatsbeschluss vom 18. März 1986 VII B 115/85, BFH/NV 1986, 479, 480, m.w.N.). Vielmehr zielt der Vollstreckungsschutz nach dieser Vorschrift nur auf vorläufige Maßnahmen ab, die die Beitreibung der rückständigen Steuern nicht auf Dauer behindern oder gefährden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine Unbilligkeit i.S. von § 258 AO 1977 dann anzunehmen, wenn die Vollstreckung oder eine einzelne Vollstreckungsmaßnahme dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würde, der durch kurzfristiges Zuwarten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden könnte (BFH-Entscheidungen vom 15. Januar 2003 V S 17/02, BFH/NV 2003, 738; vom 24. November 1987 VII B 134/87, BFH/NV 1988, 422, und vom 4. Februar 1986 VII B 129/85, BFH/NV 1986, 478).

Im Falle des Anerbietens von Ratenzahlungen durch den Vollstreckungsschuldner kann sich die Vollstreckung als unbillig erweisen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, dass der Vollstreckungsschuldner seine Zusage einhalten wird, und wenn nach der Höhe der angebotenen Raten mit einer zügigen und kurzfristigen Tilgung der Steuerschuld gerechnet werden kann (Senatsbeschluss vom 24. September 1991 VII B 107/91, BFH/NV 1992, 503, 504). In jedem Fall müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Steuerschulden in absehbarer Zeit durch freiwillige Leistungen des Schuldners zurückgeführt werden können. Von einem absehbaren Zeitraum kann jedenfalls dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn der dem FA unterbreitete Tilgungsvorschlag eine vollständige Begleichung der Steuerrückstände erst nach mehreren Jahren erwarten lässt (vgl. BFH-Entscheidung vom 5. Oktober 2001 VII B 15/01, BFH/NV 2002, 160, und Senatsbeschluss vom 7. Oktober 1992 VII B 92/92, BFH/NV 1993, 513, in dem der erkennende Senat einen Tilgungszeitraum von sieben Jahren nicht mehr als in diesem Sinne absehbaren Zeitraum erachtet hat).

Die Klägerin hat bereits vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens durch das FA zwei Anträge auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub gestellt. Das erste Angebot sowie das zweite telefonisch unterbreitete Angebot, die Steuerschuld in monatlichen Raten in Höhe von 2 000 € zu tilgen, hat das FA abgelehnt. Da § 258 AO 1977 hinsichtlich der finanzbehördlichen Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer die Vollstreckung aufschiebenden Maßnahme eine Schriftform nicht vorschreibt, kann eine dem Antrag stattgebende oder ablehnende Entscheidung auch mündlich erfolgen (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 258 AO 1977 Rdnr. 34). Nach dem konkreten Geschehensablauf (spätere Ablehnung auch des dritten Antrages sowie Einleitung des Insolvenzverfahrens) ist von einem entsprechenden Regelungswillen des FA auszugehen, so dass sich die mündliche Erklärung des FA vom 2. März 2004, mit dem der zweite Antrag auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub abgelehnt worden ist, als ein gegenüber der Klägerin mit Rechtswirkung ausgestalteter Verwaltungsakt darstellt. Danach konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass ihr die Begleichung der Steuerrückstände durch Ratenzahlungen gestattet worden sei und dass das FA infolgedessen von der Einleitung von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen absehen werde. Ungeachtet der negativen Bescheidung hat die Klägerin ihren mündlich gestellten Antrag wenige Tage später schriftlich wiederholt. Ausgehend von den angebotenen Ratenzahlungen hätte die vollständige Tilgung der Steuerschulden einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren in Anspruch genommen. Bei dieser Sachlage kann nicht mehr von einer zügigen Tilgung innerhalb eines absehbaren Zeitraumes ausgegangen werden, so dass das FA zu Recht die Gewährung eines Vollstreckungsaufschubes abgelehnt hat.

c) Dem FA war es nicht verwehrt, den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor der endgültigen Bescheidung des schriftlich gestellten Antrages auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub zu stellen. Dieses Vorgehen des FA widersprach auch nicht dem Grundsatz von Treu und Glauben. Dieser Grundsatz leitet sich unmittelbar aus der Gerechtigkeitsidee ab und ist ungeschriebenes Recht mit Rechtsquelleneigenschaft. Er gebietet, dass im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich nicht mit seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzt (BFH-Urteil vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Die nach der Stellung des Insolvenzeröffnungsantrages erfolgte schriftliche Ablehnung des Ratenzahlungsangebotes und des Antrages auf Vollstreckungsschutz stellte lediglich eine Bestätigung der der Klägerin bereits mündlich mitgeteilten Entscheidung des FA dar.

d) Die Ermessensentscheidung des FA ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil das FA davon Kenntnis hätte haben müssen, dass die Insolvenzmasse zur Deckung der Verfahrenskosten nicht ausreichen werde oder weil es bei Antragstellung nicht dargelegt hat, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Insolvenzmasse vorhanden ist.

Wie der Senat in seiner Entscheidung in BFH/NV 2004, 464 ausgeführt hat, ist die Annahme, dass sich im Betrieb des Vollstreckungsschuldners pfändbares bewegliches Vermögen nicht mehr befindet, nicht gleichzusetzen mit der Kenntnis oder einer zu unterstellenden Kenntnis des FA, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Insolvenzmasse nicht mehr vorhanden ist. Denn im Insolvenzverfahren sind umfänglich alle Vermögenswerte aufzudecken, auch solche, die während des Insolvenzverfahrens erlangt werden (§ 35 InsO). Die zuverlässige Feststellung des Umfanges der zur Verfügung stehenden Insolvenzmasse obliegt dem Insolvenzgericht, das vom Vollstreckungsschuldner entsprechende Auskünfte verlangen und mit der Prüfung, ob das Vermögen des Schuldners die Kosten des Verfahrens decken wird, --wie im Streitfall auch geschehen-- einen Sachverständigen oder vorläufigen Insolvenzverwalter beauftragen kann (§ 20 Abs. 1 und 22 Abs. 1 Nr. 3 InsO).

Im Streitfall durfte das FA aufgrund der fruchtlosen Pfändungsmaßnahmen davon ausgehen, dass der Vollstreckungsschuldner nach seinen eigenen Angaben pfändbares Vermögen nicht besitzt. Dabei musste es jedoch nicht zwangsläufig zu der Erkenntnis gelangen, dass eine die Kosten eines Insolvenzverfahrens deckende Masse nicht vorhanden ist. Auch ist das FA nicht zur eigenen Prüfung verpflichtet, ob das Vermögen des Vollstreckungsschuldners zur Deckung der voraussichtlichen Kosten eines Insolvenzverfahrens ausreichen wird. Dies in jedem Falle zu fordern, hieße das Eröffnungsverfahren vorweg zu nehmen und die Aufgaben des Insolvenzgerichts auf das FA zu verlagern, dem die weitreichenden Befugnisse nach § 21 InsO nicht zur Verfügung stehen.

Somit hätte ohne das erledigende Ereignis nach dem bisherigen Sach- und Streitstand das FA im Revisionsverfahren obsiegt, so dass es billigem Ermessen entspricht, die Kosten des gesamten Rechtsstreits der Klägerin aufzuerlegen.

Ende der Entscheidung

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