Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.12.2000
Aktenzeichen: VII R 7/99
Rechtsgebiete: AO 1977


Vorschriften:

AO 1977 § 110 Abs. 1 Satz 1 und 2
AO 1977 § 357 Abs. 2
BUNDESFINANZHOF

1. Wird ein Rechtsbehelf fehlerhaft an eine andere als die in der Rechtsbehelfsbelehrung benannte Behörde adressiert, so ist weder das Verhalten der empfangenden Behörde bei der Weiterleitung noch die Verzögerung des Eingangs bei der zuständigen Behörde geeignet, die Sorgfaltspflichtverletzung des Absenders oder die Kausalität seines Verhaltens für die Fristversäumnis entfallen zu lassen.

2. Die einen fehlgeleiteten Schriftsatz empfangende Behörde ist nicht verpflichtet, diesen auf seinen rechtlichen Gehalt zu überprüfen, ggf. den richtigen Adressaten zu ermitteln und das Schriftstück unverzüglich weiterzuleiten.

3. Eine etwaige Fehlleistung der unzuständigen Behörde bei der Weiterleitung eines Rechtsbehelfs führt im Fall der Fristversäumnis jedenfalls bei einer falschen Bezeichnung der Rechtsbehelfsbehörde in der Regel nicht zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

AO 1977 § 110 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 357 Abs. 2

Urteil vom 19. Dezember 2000 - VII R 7/99 -

Vorinstanz: FG Düsseldorf (EFG 1999, 258)


Gründe

I.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA M--) hat den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) mit einem diesem persönlich am 25. März 1995 zugestellten Haftungsbescheid für Steuerrückstände einer GmbH in Anspruch genommen. Mit Schreiben vom 17. Juli 1995 --eingegangen beim Beklagten am 19. Juli 1995-- legten die Bevollmächtigten des Klägers gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein und beantragten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Diesen Antrag begründeten sie folgendermaßen:

Sie hätten bereits mit einem an das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung (FA D) adressierten Schreiben vom 19. April 1995 gegen den Haftungsbescheid Einspruch eingelegt. Die falsche Adressierung sei am 14. Juli 1995 erkannt worden. Die Sachbearbeiterin des FA D habe bestätigt, dass das Schreiben am 21. April 1995 bei ihr eingegangen sei. Sie habe es jedoch in der Meinung, es handele sich lediglich um die Information über einen bei dem FA M erhobenen Einspruch, in den Akten abgelegt und nicht an das FA M weitergeleitet.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers --Rechtsanwalt H-- hat dazu vorgetragen, er habe die ordnungsgemäße Erfassung der Frist vor seinem Urlaubsantritt am 13. April 1995 veranlasst. Das Schriftstück sei von einer --diesen Geschehensablauf eidesstattlich versichernden-- Kanzleikraft mit dem Computer geschrieben worden. Diese habe die Adresse des FA D eingesetzt, wahrscheinlich, weil diese Anschrift aus den Akten hervorgegangen und im Computer gespeichert gewesen sei. Der das Rechtsbehelfsschreiben unterzeichnende Rechtsanwalt R habe geprüft, ob der angefochtene Bescheid ordnungsgemäß bezeichnet und die Rechtsmittelfrist gewahrt gewesen sei, die unzutreffende Anschrift sei diesem nicht aufgefallen. Hätte jedoch das unzuständige Finanzamt, wozu es verpflichtet gewesen wäre, die Rechtsbehelfsschrift unverzüglich weitergeleitet, wäre die Frist noch gewahrt worden.

Der Einspruch wurde als unzulässig zurückgewiesen. Der dagegen erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 258 veröffentlichten Urteil stattgegeben.

Das FG führt in den Urteilsgründen aus, das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung D hätte das Einspruchsschreiben unverzüglich an den Beklagten weiterleiten müssen, wo es im Rahmen eines ordentlichen Geschäftsgangs bei normaler Postlaufzeit noch innerhalb der Rechtsbehelfsfrist eingegangen wäre. Das FA D habe längere Zeit Ermittlungen zur Höhe der Steuerschuld und des Haftungsbetrages gegenüber dem Kläger geführt und in diesem Zusammenhang mit dem Bevollmächtigten des Klägers korrespondiert. Dieses Finanzamt habe daher eine nachwirkende Fürsorgepflicht getroffen, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für einen vergleichbaren Sachverhalt im Verhältnis eines Erstinstanzgerichtes zum Rechtsmittelgericht im Zivilprozess angenommen habe (Beschluss des BVerfG vom 20. Juni 1995 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1995, 3173, 3175). Der Übergang des Einspruchsschreibens in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten FA D müsse zur Folge haben, dass sich das dem Kläger zuzurechnende Verschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht mehr auswirke.

Das FG hat die Revision wegen einer Divergenz zu der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. September 1992 VIII R 26/91 (BFH/NV 1993, 219) zugelassen.

Die Revision stützt das Finanzamt auf die Verletzung des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977). Es hält die Rechtsprechung des BFH zu § 110 AO 1977 durch den Beschluss des BVerfG nicht für überholt.

Der Kläger hält es aus rechtsstaatlichen Erwägungen für geboten, die Belange des Rechtsuchenden an der Gewährung von Rechtsschutz und das Interesse der Behörde an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Abwägung sei zu berücksichtigen, dass das FA D eine nachwirkende Fürsorgepflicht gehabt habe, die es verpflichtet hätte, den Rechtsbehelf unverzüglich an das zuständige Veranlagungsfinanzamt weiterzuleiten. Das BVerfG befürworte eine Verteilung der Risikosphären bei falscher Adressierung des Rechtsbehelfs. Entscheidend sei der Übergang des Schriftstücks in den Verantwortungsbereich (Risikosphäre) des Gerichts bzw. der Behörde und der Verlust der tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeit des Rechtsuchenden auf den Schriftsatz. Der Verlust der Einwirkungsmöglichkeit bedeute auch den Übergang der Verantwortung für die Wahrung der Rechtsbehelfsfrist auf das empfangende Gericht bzw. die angegangene Behörde mit der Folge, dass sich das in der falschen Adressierung liegende Verschulden des Rechtsuchenden nicht mehr auswirke.

II.

Die Revision ist zulässig (vgl. BFH-Urteil vom 10. September 1986 II R 175/84, BFHE 147, 303, BStBl II 1986, 908, m.w.N.) und begründet, weil das FG rechtsfehlerhaft die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat. Sie führt zur Aufhebung des Urteils und zur Abweisung der Klage.

1. Der Senat geht mit dem FG davon aus, dass der Kläger die Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) versäumt hat. Der Einspruch war gemäß § 357 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bei dem beklagten FA M, das den angefochtenen Haftungsbescheid erlassen hatte, einzulegen. Die schriftliche Anbringung bei einer anderen Behörde ist nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 nur dann unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist der zuständigen Behörde übermittelt wird.

Das Einspruchsschreiben des Klägers ist innerhalb der Rechtsbehelfsfrist bei der unzuständigen Behörde, nämlich dem FA D, eingegangen. Der Eingang des Rechtsbehelfs bei der unzuständigen Finanzbehörde konnte die ablaufende Frist nicht wahren. Da diese Behörde das Schriftstück an die zuständige Behörde nicht weitergeleitet hat, ist der Einspruch gegen den am 25. März 1995 zugestellten Haftungsbescheid bei dem zuständigen FA M erst mit Schreiben des Prozessvertreters des Klägers vom 17. Juli 1995, eingegangen beim beklagten FA am 19. Juli 1995, --mithin verspätet-- erhoben worden.

2. Ursächlich für die Versäumung der Einspruchsfrist war sowohl die dem Kläger zuzurechnende fehlerhafte Adressierung des Einspruchsschreibens, die zur Anbringung des Rechtsbehelfs bei dem unzuständigen FA D geführt hat, als auch --wovon mit dem FG ausgegangen werden kann-- dessen versäumte Weiterleitung des Schriftstücks an das beklagte FA.

Dennoch hat das FA dem Kläger zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 Abs. 1 AO 1977 versagt. Nach dieser Vorschrift ist dem Rechtsuchenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn dieser ohne Verschulden gehindert war, die gesetzliche Einspruchsfrist (§ 355 AO 1977) zu wahren.

Dem Kläger ist jedoch Verschulden entgegenzuhalten. Denn die fehlerhafte Angabe der Behörde, bei der der Rechtsbehelf anzubringen war, begründet regelmäßig die Annahme subjektiv vorwerfbarer Außerachtlassung der zumutbaren Sorgfalt; d.h. schuldhaftes Verhalten bei der Adressierung des Rechtsbehelfs. Handelt ein Bevollmächtigter für den Einspruchsführer, so muss sich der Vertretene das Verschulden seines Vertreters zurechnen lassen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).

Nach Auffassung der Rechtsprechung trägt der Prozessbevollmächtigte des Rechtsuchenden die Verantwortung dafür, dass eine Rechtsmittelschrift rechtzeitig bei dem richtigen Gericht bzw. ein Rechtsbehelf bei der richtigen Behörde eingeht. Diese Rechtsprechung ist in Anbetracht des verstärkten Einsatzes moderner technischer Hilfsmittel und zuverlässigen Büropersonals dahin modifiziert worden, dass den Bevollmächtigten die persönliche Verantwortlichkeit nicht für die Richtigkeit der gesamten postalischen Anschrift, wohl aber für die richtige Bezeichnung des Gerichts oder der Behörde, an die der Rechtsbehelf-(Rechtsmittel-)Schriftsatz zu richten ist, trifft, während er sich, insbesondere nach der Rechtsprechung aus jüngerer Zeit, wegen der Ausfertigung der Rechtsmittelschrift im Anschriftenfeld --so z.B. wegen der richtigen postalischen Anschrift mit Straße und Hausnummer, der zutreffenden Postleitzahl, der richtigen Telefaxnummer-- zumindest dann, wenn der Fehler nicht leicht erkennbar ist, auf sein zuverlässiges und gutgeschultes Personal verlassen darf (ständige Rechtsprechung der obersten Gerichte, vgl. Beschlüsse des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 8. Juni 1988 IVb ZB 68/88, NJW 1988, 2672, 2673; vom 23. März 1995 VII ZB 19/94, NJW 1995, 2105, m.w.N.; Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 6. August 1997 4 B 124.97, NJW 1998, 398; Urteil des Bundesarbeitsgerichts --BAG-- vom 30. März 1995 2 AZR 1020/94, BAGE 79, 379, NJW 1995, 2742; Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 26. August 1994 13 RJ 11/94, Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Sozialpolitik 1995, 433; BFH-Urteile vom 1. Juli 1994 VI R 8/94, BFH/NV 1995, 51; vom 10. Juni 1999 V R 33/97, BFHE 189, 573, BStBl II 2000, 235, BFH/NV 2000, 524, 525; so auch BVerfG-Beschlüsse in NJW 1995, 3173, 3175, unter II. 2. a der Gründe, und vom 25. September 2000 1 BvR 2104/99, zur Veröffentlichung bestimmt). Diese Grundsätze gelten auch für den Fall, dass ein das zutreffende FA benennendes Einspruchsschreiben wegen eines nicht leicht erkennbaren Fehlers in der postalischen Anschrift oder wegen einer durch eine sonst zuverlässige Bürokraft angebrachten unzutreffenden Telefaxnummer oder Postleitzahl an eine unzuständige Behörde und gar nicht oder verspätet an die zuständige Behörde gelangt (vgl. dazu BVerwG-Urteil vom 25. November 1977 5 C 12.77, BVerwGE 55, 62, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1978, 298; vgl. auch Senatsbeschluss vom 12. Juli 1999 VII B 81/99, BFH/NV 1999, 1655, 1656, m.w.N.).

Im Streitfall liegt der Sachverhalt indessen so, dass die an das unzuständige FA adressierte Rechtsbehelfsschrift von einem Rechtsanwalt als Prozessvertreter unterzeichnet worden ist, der diesen Fehler nicht bemerkt und deshalb nicht richtig gestellt hat. In der falschen Bezeichnung der Rechtsbehelfsbehörde liegt --was auch der Kläger einräumt-- ein ihm zuzurechnendes Verschulden seines Bevollmächtigten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO 1977), der als rechtskundige Fachkraft wissen musste, dass das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung weder für den Erlass des Haftungsbescheides noch als Anbringungsbehörde für einen Einspruch gegen diesen Bescheid sachlich zuständig ist. Das Verschulden entfällt auch nicht deshalb, weil nach längeren Ermittlungen hinsichtlich des Steuer- und Haftungstatbestandes durch das FA D das Veranlagungsfinanzamt M erstmals durch den Erlass des Haftungsbescheides tätig geworden ist und in den Akten bzw. im Computer der Anwaltskanzlei bislang nur das FA D als handelnde Behörde benannt war. Denn es gehört zu den Sorgfaltspflichten des eine Rechtsbehelfsschrift unterzeichnenden Bevollmächtigten, zu überprüfen, ob der Schriftsatz an die richtige Anbringungsbehörde bzw. das zuständige Gericht gerichtet ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH in BFH/NV 1993, 219, 220, m.w.N.; BGH-Beschluss vom 9. Oktober 1980 VII ZB 17/80, Versicherungsrecht --VersR-- 1981, 63). Auch das BVerfG hebt in seinem Beschluss in NJW 1995, 3173, 3175 unter C. II. 2. a der Gründe hervor, dass dem Rechtsmittelführer und seinem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen werden kann. Diese Aussage erhält besonderes Gewicht, wenn --wie im hier zu beurteilenden Fall-- dem Verwaltungsakt seitens der Finanzbehörde eine Rechtsbehelfsbelehrung mit genauem Hinweis auf die Anbringungsbehörde beigefügt ist. Das Verschulden des Rechtsbehelfsführers liegt dann darin, dass er den Inhalt des (Haftungs-)Bescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen und die Rechtsbehelfsbelehrung nicht aufmerksam gelesen und beachtet hat (BFH in BFH/NV 1993, 219, und in BFHE 147, 303, BStBl II 1986, 908, sowie BFH-Urteil vom 27. August 1998 III R 47/95, BFHE 187, 134, BStBl II 1999, 65).

3. Entgegen der Auffassung der Vorentscheidung und des Klägers entfällt die Verantwortlichkeit des Klägervertreters für die Fristversäumnis auch nicht deshalb, weil das unzuständige FA die Weiterleitung des Schriftstücks im ordentlichen Geschäftsgang nicht vorgenommen hat und möglicherweise dadurch die Fristversäumnis erst eingetreten ist.

a) Der Senat kann offen lassen, aus welchen Gründen die Sachbearbeiterin des unzuständigen FA die Rechtsbehelfschrift nicht weitergeleitet hat, obwohl eine unzuständige Behörde, eine bei ihr eingegangene Rechtsbehelfsschrift aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Gebotes der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes ohne schuldhaftes Zögern an die zutreffende Anbringungsbehörde weiterzuleiten hat (vgl. § 89 Satz 1 AO 1977 und Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes --GG--; ferner BFH-Beschluss vom 6. Mai 1998 IV B 108/97, BFH/NV 1999, 146; Urteil des FG Nürnberg vom 5. November 1980 V 255/80, EFG 1981, 162, sowie Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 357 AO 1977 Rz. 38). Geschieht dies allerdings nicht, bewirkt nach überwiegender Auffassung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst ein sog. überholendes Verschulden der Behörde grundsätzlich nicht die Aufhebung der Kausalität des Verschuldens des Rechtsbehelfsführers an der Fristversäumnis (vgl. Entscheidungen des BFH vom 12. Januar 1968 VI R 140/67, BFHE 90, 395, BStBl II 1968, 121; in BFH/NV 1993, 219, 220; vom 1. August 1985 V R 84/85, BFH/NV 1986, 287, 288, m.w.N.; offen gelassen in BFH/NV 1999, 146; BVerwG-Urteil in BVerwGE 55, 62, HFR 1978, 298; s. auch Birkenfeld, a.a.O., § 357 AO 1977 Rz. 38; Wüllenkemper, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 2000, 366, 367; a.A. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 357 AO 1977 Tz. 26, und Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 357 AO 1977 Anm. 4 c).

Von dem hier nicht gegebenen Fall abgesehen, dass das dem Rechtsuchenden zuzurechnende Verschulden bei der Anbringung des Rechtsbehelfs bei der unzuständigen Behörde wegen besonderer Umstände --z.B. gleicher Posteingangsstelle für die unzuständige, wie die zuständige Behörde-- nicht kausal für die Fristversäumnis gewesen ist, ist weder die Dauer der Verzögerung noch das Verhalten der unzuständigen Behörde bei der Behandlung des fehlgeleiteten Rechtsbehelfs geeignet, die Sorgfaltspflichtverletzung des Absenders oder die Kausalität seines Verhaltens für die Fristversäumnis entfallen zu lassen.

Daher gewährt die überwiegende Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch in den Fällen, in denen die empfangende unzuständige Behörde die Übermittlung des Rechtsbehelfsschreibens hinauszögert oder gar unterlässt, nur dann, wenn den Rechtsbehelfsführer an der fehlerhaften Anbringung selbst kein Verschulden trifft (vgl. BVerwG in BVerwGE 55, 62, 66; BFH in BFH/NV 1993, 219, 220; FG Nürnberg in EFG 1981, 162, 163; Oberverwaltungsgericht --OVG-- Greifswald vom 29. Oktober 1998 3 M 118/98, NJW 1999, 966, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 1999, 201, und BVerwG-Beschluss vom 23. Februar 1996 8 B 28.96, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, § 60 VwGO Nr. 204).

b) Diese Auffassung findet ihre Rechtfertigung in der Wertung des Gesetzgebers in § 357 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 (i.d.F. des Grenzpendlergesetzes --GrenzPG-- vom 26. Juni 1994, BGBl I, 1395), der für den Fall der Einlegung des Einspruchs bei einer unzuständigen Behörde festlegt, dass die schriftliche Anbringung bei einer anderen als der zuständigen Rechtsbehelfsbehörde nur dann unschädlich ist, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach § 357 Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 AO 1977 angebracht werden kann. Damit hat der Gesetzgeber das Risiko der durch die Anbringung des Rechtsbehelfs bei der unzuständigen Behörde eintretenden Fristversäumnis dem Rechtsuchenden auferlegt. Die Überbürdung des Risikos Frist wahrender Anbringung des Rechtsbehelfs bei der zutreffenden Rechtsbehelfsbehörde mildert der Gesetzgeber mit dem Gebot an die Behörde, einen schriftlich erlassenen Verwaltungsakt mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Nach § 356 AO 1977 beginnt die Rechtsbehelfsfrist nur zu laufen, wenn die Beteiligten über den Einspruch und die Finanzbehörde, bei der er einzulegen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden sind. Die Rechtsbehelfsfrist beginnt nicht zu laufen, wenn die vorgeschriebene Belehrung fehlt, unvollständig oder unrichtig ist.

Diese vom Gesetzgeber zur Vermeidung fehlgeleiteter Rechtsbehelfe getroffenen Vorkehrungen müssen auch bei der Frage, ob bei einer durch die Nichtbeachtung der ordnungsgemäß erteilten Rechtsbehelfsbelehrung verursachten Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann, Berücksichtigung finden. Daher sehen es die Rechtsprechung und das Schrifttum als ein der Gewährung von Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden des Rechtsuchenden bzw. seines Bevollmächtigten an, wenn die Fristversäumnis auf der Nichtbeachtung der Rechtsbehelfsbelehrung beruht (vgl. BVerwG in BVerwGE 55, 62, 66, m.w.N.; BVerwG in Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 204; BFH in BFH/NV 1993, 219, 220, m.w.N.).

4. Anders kann es nach insbesondere im Anschluss an den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 93, 99, 115, NJW 1995, 3173 in der Rechtsprechung zunehmend vertretener Auffassung der Gerichte dann sein, wenn der Rechtsbehelf, der bei der unzuständigen Behörde/bzw. einem unzuständigen Gericht eingelegt worden, aber dort so rechtzeitig eingegangen ist, dass die Weiterleitung an die zuständige Behörde/Gericht im Zuge des ordentlichen Geschäftsganges ohne weiteres erwartet werden konnte (vgl. BFH in BFH/NV 1999, 146, für den Fall, dass die Rechtsbehelfsschrift die richtige Behörde benennt, gleichwohl aber fehlgeleitet worden ist; BFH-Beschluss vom 4. Dezember 1998 I R 88, 89/98, BFH/NV 1999, 794; für das Zivilprozessrecht BVerfGE 93, 99, 113, NJW 1995, 3173; BGH-Urteil vom 1. Dezember 1997 II ZR 85/97, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1998, 351; BAG-Urteil vom 16. Dezember 1971 5 AZR 384/71, BAGE 24, 81; BVerwG vom 2. Februar 1990 9 B 222/89, NJW 1990, 1747, und vom 27. April 1990 IV C 10/87, NJW 1990, 2639; s. auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 357 AO 1977 Tz. 26; Rüsken in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 120 FGO Rz. 51 für das Revisionsverfahren; Brockmeyer in Klein, Abgabenordnung, § 110 AO 1977 Rz. 19, der darauf abstellt, dass die falsche Adressierung für die unzuständige Behörde ohne nähere Prüfung erkennbar ist).

Nach der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 93, 99, NJW 1995, 3173 kommt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand insbesondere dann in Betracht, wenn das angerufene (unzuständige) Gericht vorher selbst mit der Sache befasst war und deshalb eine "nachwirkende Fürsorgepflicht" eingreift (so auch BGH-Urteil vom 1. Dezember 1997 II ZR 85/97, NJW 1998, 908). Diese Rechtsprechung stellt entscheidend darauf ab, ob der Rechtsuchende, der das Rechtsmittel bei dem in erster Instanz mit der Sache befassten Gericht einlegt, auf eine rechtzeitige Weiterleitung innerhalb der Gerichte vertrauen durfte (BGH-Beschluss vom 24. September 1997 XII ZB 144/96, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht --NJW-RR-- 1998, 354). Das soll regelmäßig nicht der Fall sein, wenn die Rechtsmittelschrift bei dem nicht zuständigen Gericht so kurze Zeit vor Fristablauf eingeht, dass sie auch bei einer Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang das zuständige Gericht nicht mehr fristgerecht erreichen kann. Gemeinsam ist der Rechtsprechung auch in diesen Fällen, dass ein etwaiges Mitverschulden des Anwalts zu prüfen und bejahendenfalls geeignet ist, die Gewährung der Wiedereinsetzung zu verhindern (vgl. Müller, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 2000, 322, 326).

Rechtfertigungsgründe für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trotz schuldhafter Erhebung der Klage gegen ein zivilgerichtliches Urteil bei dem unzuständigen Gericht sieht das BVerfG in BVerfGE 93, 99, NJW 1995, 3173, und die ihm nachfolgende Rechtsprechung in dem Gebot der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Abwägung der Interessen des Rechtsuchenden und der Belange der Gerichte, vor zusätzlichen Belastungen geschützt zu werden, der aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgenden Fürsorgepflicht des zuvor mit der Angelegenheit befassten Gerichts und vor allem darin, dass der Gesetzgeber für Urteile über zivilrechtliche Klagen keine Rechtsmittelbelehrung verlangt, während er sie für Verwaltungsakte und Entscheidungen über Klagen in anderen Gerichtsbarkeiten vorgeschrieben hat (§ 9 Abs. 5 des Arbeitsgerichtsgesetzes; § 58 der Verwaltungsgerichtsordnung --VwGO--; § 66 des Sozialgerichtsgesetzes; § 55 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--, § 356 AO 1977).

Der Senat sieht diese besonderen Rechtfertigungsgründe --ungeachtet dessen, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht ohne weiteres auf das Verfahren vor den Finanzbehörden übertragen werden können-- im hier zu beurteilenden Verfahren nicht für gegeben an. Denn der Kläger hat die Einspruchsfrist gegen den Haftungsbescheid deshalb versäumt, weil er ohne Berücksichtigung der ihm erteilten ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung die Einspruchsschrift an das unzuständige FA D gerichtet hat. Entgegen der Auffassung des Klägers fehlt es auch an dem für die Annahme einer "nachwirkenden Fürsorgepflicht" der Vorinstanz im zivilgerichtlichen Verfahren entscheidenden Umstand der Befassung des FA D mit dem angegriffenen Verwaltungsakt. Es hat lediglich die Besteuerungsgrundlagen ermittelt, den Haftungsbescheid aber weder vorbereitet noch erlassen; vielmehr hat dieses FA --wie das FG festgestellt hat (§ 118 Abs. 2 FGO)-- nicht einmal Kenntnis davon gehabt, dass zwischenzeitlich ein Haftungsbescheid gegenüber dem Kläger ergangen war, so dass es möglicherweise umständlicher Nachforschungen darüber bedurft hätte, ob und von welchem FA ein Haftungsbescheid gegenüber dem Kläger erlassen worden ist, der Gegenstand des bei dem unzuständigen FA eingegangenen Einspruchs hätte sein können. Zu solchen außerordentlichen Maßnahmen sieht aber weder das BVerfG in NJW 1975, 3173, 3175 (unter C. II. 2. b der Gründe) noch die Rechtsprechung der übrigen Gerichte, soweit sie wegen einer versäumten Weiterleitung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren wollen, ein unzuständiges Gericht für verpflichtet.

Dieser in der Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung bei versäumter Weiterleitung durch das unzuständige Gericht beachtete Schutz der Gerichtsbarkeit vor unangemessenen Belastungen muss erst recht gelten für eine unzuständig angegangene Finanzbehörde, bei der wegen der Vielzahl der von ihr zu bewältigenden Steuerverwaltungsverfahren, der großen Zahl der Steuerpflichtigen und des damit zusammenhängenden Schriftverkehrs die Auferlegung einer Verpflichtung zur unverzüglichen Prüfung eines jeden eingehenden Schriftstückes auf seinen rechtlichen Gehalt und auf die Möglichkeit hin, dass es sich um eine Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelschrift handeln könnte, die an ein --wie möglicherweise im Streitfall-- erst noch zu ermittelndes zuständiges FA/FG weiterzuleiten wäre, in der Regel zu einer überhöhten zusätzlichen Belastung führen würde. Das vom BVerfG dem Interesse des Rechtsschutzsuchenden an einer Verfahrenserleichterung gegenübergestellte Interesse der Justiz am Schutz ihrer Funktionsfähigkeit durch Verschonung von unangemessenen Belastungen bewirkt für den behördlichen Bereich, dass zwar grundsätzlich eine Verpflichtung besteht, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete Frist wahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsganges an die zuständige Behörde weiterzuleiten (vgl. BFH in BFH/NV 1999, 146); dass aber wegen des damit verbundenen ins Gewicht fallenden Arbeitsaufwandes von der Behörde nicht erwartet werden kann, jedes eingehende Schreiben unverzüglich inhaltlich daraufhin zu überprüfen, ob es sich hierbei um einen Rechtsbehelf gegen einen von einer anderen Behörde erlassenen Verwaltungsakt handelt und ggf. den richtigen Adressaten zu ermitteln. Eine etwaige Fehlleistung --wie sie im Streitfall vorgekommen ist-- führt daher, jedenfalls bei einer falschen Bezeichnung der Rechtsbehelfsbehörde, nicht zum Übergang der Verantwortung auf die unzuständige Behörde. Vielmehr muss es in diesen Fällen bei der Verantwortung der Partei und ihres Bevollmächtigten für die Ermittlung und Benennung des richtigen Adressaten des Frist gebundenen Einspruchsschreibens verbleiben.

5. Damit steht die fehlerhafte Bezeichnung der zuständigen Rechtsbehelfsbehörde --sofern nicht besondere Umstände eine andere Beurteilung rechtfertigen-- der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegen, weil den Rechtsbehelfsführer, der die Rechtsbehelfsbelehrung nicht beachtet, regelmäßig ein nicht unbeachtlich werdendes Verschulden trifft. Das tatsächliche oder vermutete Verschulden der unzuständigen Empfangsbehörde könnte dagegen nur ausnahmsweise --z.B. bei willkürlichem, offenkundig nachlässigem und nachgewiesenem Fehlverhalten-- dazu führen, dass die Verantwortlichkeit des Absenders entfällt (vgl. BFH in BFH/NV 1993, 219, 220; FG Nürnberg in EFG 1981, 162, 163, und Wüllenkemper, DStZ 2000, 366, 370, 371).

Der Kritik an der als zu streng empfundenen Rechtsprechung des BFH zur Verschuldensprüfung im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumnis der Einspruchsfrist (z.B. Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 AO 1977 Rz. 10 und § 357 AO 1977 Rz. 26) ist entgegenzuhalten, dass das Gesetz jedes Verschulden --also auch die leichte Fahrlässigkeit-- zum Anlass nimmt, die Wiedereinsetzung zu versagen (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. Juni 1994 II R 104/93, BFH/NV 1995, 134, und vom 7. April 1998 VII R 70/96, BFH/NV 1998, 1115).



Ende der Entscheidung

Zurück