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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 16.05.2002
Aktenzeichen: VII S 22/01 (PKH)
Rechtsgebiete: ZPO, FGO, VwZG


Vorschriften:

ZPO § 114
FGO § 53
FGO § 116
FGO § 142
FGO § 79a Abs. 4
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
VwZG § 15 Abs. 2
VwZG § 15 Abs. 6
VwZG § 15 Abs. 1 Buchst. a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Antragsteller ist vom Beklagten (Finanzamt --FA--) auf Haftung für Lohnsteuer und Nebenleistungen einer GmbH in Anspruch genommen worden, deren Geschäftsführer er gewesen ist. Hiergegen hat der Antragsteller Klage erhoben, die von dem Finanzgericht (FG) durch Gerichtsbescheid der Berichterstatterin vom 16. Juni 1997 abgewiesen worden ist. Am gleichen Tag hat das FG in der Besetzung mit drei Berufsrichtern beschlossen, den Gerichtsbescheid öffentlich zuzustellen. Hierzu hat es sich offenbar dadurch veranlasst gesehen, dass die Zustellung einer Verfügung der Berichterstatterin am 8. Januar 1997 nicht ausgeführt worden war, sondern die Postzustellungsurkunde mit dem Vermerk zurückkam "Empfänger wohnt nicht unter der Anschrift". Die nämliche Anschrift hatte allerdings der Antragsteller in seinem Schriftverkehr mit dem FG angegeben und unter ihr offenbar auch die Einspruchsentscheidung des FA erhalten. Auch eine Anfrage des FG beim Einwohnermeldeamt und beim FA ergab, dass diese Anschrift richtig sei (Auskünfte vom 15. bzw. 22. Januar 1997).

Der Antragsteller hat gegen den Gerichtsbescheid erst am 14. Januar 1998 Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt. Aufgrund dieses Antrags hat das FG durch das Urteil vom 21. Juni 2001 erkannt, der Gerichtsbescheid vom 16. Juni 1997 wirke als Urteil.

Der Antragsteller möchte wegen der Nichtzulassung der Revision in jenem Urteil Nichtzulassungsbeschwerde erheben. Er beantragt hierfür unter Vorlage einer Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Prozesskostenhilfe (PKH).

II. Der Antrag auf Gewährung von PKH ist zulässig und begründet. Dem Antragsteller ist PKH für eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des FG vom 21. Juni 2001 zu gewähren.

Anspruch auf PKH hat nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, sofern die beabsichtigte Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Antragsteller ist nach der von ihm vorgelegten, vorgenannten Erklärung nicht imstande, die Kosten der von ihm beabsichtigten Prozessführung vor dem Bundesfinanzhof (BFH) aufzubringen; die von ihm beabsichtigte Rechtsverteidigung bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig. Dazu ist im Einzelnen Folgendes zu bemerken:

Entgegen der Ansicht des Antragstellers konnte allerdings über seine Klage durch die Berichterstatterin mit Gerichtsbescheid entschieden werden. Das ergibt sich aus § 79a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 79a Abs. 4 FGO, auf den in der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheides auch Bezug genommen ist. Es gibt keine Vorschrift, die es verbietet, einen solchen Gerichtsbescheid nach Maßgabe des § 53 FGO i.V.m. § 15 Abs. 1 Buchst. a des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) öffentlich zuzustellen. Das dabei nach § 53 FGO, § 15 Abs. 2 und 6 VwZG zu beachtende Verfahren ist eingehalten worden.

Die Zustellung dürfte indes unwirksam sein, weil die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG nicht vorlagen, der Aufenthaltsort des Antragstellers also nicht im Sinne dieser Vorschrift "unbekannt" war. Sollte sich diese im Verfahren wegen der Gewährung von PKH bei der hier nur gebotenen vorläufigen Prüfung in Betracht zu ziehende Annahme in dem vom Antragsteller angestrebten Beschwerdeverfahren als zutreffend erweisen, wäre der Antrag des Antragstellers auf mündliche Verhandlung als rechtzeitig gestellt anzusehen; die in dem Urteil des FG sinngemäß ausgesprochene Feststellung, das Verfahren sei durch den Gerichtsbescheid am 16. Januar 1997 rechtskräftig abgeschlossen, wäre dann unzutreffend. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, wonach es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO bzw. der entsprechenden Vorschrift der für andere Gerichtshöfe geltenden Prozessordnungen darstellt, wenn über eine in Wahrheit zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (vgl. u.a. Entscheidungen des BFH vom 1. Februar 2002 VII B 202/99, BFH/NV 2000, 960; vom 16. November 1993 VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891; vom 15. Januar 1992 IV B 168/90, BFH/NV 1992, 613, und vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. August 1999 3 B 57.99, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungs-Report 2000, 259, und vom 4. Juli 1968 VIII B 110.67, BVerwGE 30, 111), wäre in diesem Fall das Urteil des FG auf eine entsprechende Beschwerde des Antragstellers nach § 116 FGO, mit der der Revisionszulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ordnungsgemäß gerügt wird, aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Denn dieses hätte dann zu Unrecht den Rechtsbehelf des Antragstellers --Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid vom 16. Januar 1997-- als unzulässig verworfen und damit einen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begangen.

Dass die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG, wie das FG angenommen hat, vorlagen, ist aus folgenden Gründen ernstlich zweifelhaft:

Wie der beschließende Senat zuletzt in seinem Urteil vom 6. Juni 2000 VII R 55/99 (BFHE 192, 200, BStBl II 2000, 560) im Anschluss an die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung hervorgehoben hat, ist die öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel der Bekanntgabe einer Entscheidung dann zulässig, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dem Empfänger ein Schriftstück in anderer Weise zu übermitteln. Ob diese Möglichkeiten tatsächlich ausgeschöpft sind, bedarf in jedem Einzelfall einer sorgfältigen und gründlichen Prüfung unter Zuhilfenahme aller dafür in Betracht kommenden Erkenntnismittel. Denn die öffentliche Zustellung des betreffenden Schriftstückes hat, wie auch der Streitfall zeigt, in aller Regel zur Folge, dass der Empfänger von ihm erst nach geraumer Zeit und zufällig oder überhaupt nicht Kenntnis erhält und dadurch der Möglichkeit beraubt wird, sich gegen eine in ihm enthaltene Entscheidung fristgerecht und damit erfolgreich zu wehren.

Wenn man dies berücksichtigt, erscheint zumindest in einer für die Gewährung von PKH ausreichenden Weise ernstlich zweifelhaft, ob der Aufenthaltsort des Antragstellers im Juni 1997 "unbekannt" war. Dem FG war eine --vom Antragsteller selbst angegebene und insbesondere vom FA erfolgreich benutzte-- Wohnanschrift des Antragstellers bekannt. Sowohl das FA als auch das Einwohnermeldeamt hatten die Richtigkeit dieser Anschrift noch im Januar 1997 bestätigt. Wenn das FG gleichwohl im Juni 1997, anlässlich der Zustellung des Gerichtsbescheides, zu der Auffassung kam, der Antragsteller wohne dort nicht, so konnte dies nur darauf beruhen, dass ein Zustellungsversuch am 8. Januar 1997 unter der angegebenen Anschrift fehlgeschlagen war. Die vom FG offensichtlich daraus gezogene Schlussfolgerung, der Antragsteller sei, und zwar bereits spätestens Anfang Januar 1997, von seinem bisherigen Aufenthaltsort an einen unbekannten neuen Aufenthaltsort weggezogen, war indes in hohem Maße unsicher. Erfahrungsgemäß konnte die fehlgeschlagene Zustellung ebenso gut darauf beruhen, dass der Postzusteller die Zustellung nur unsorgfältig ausgeführt hat oder aus irgendeinem ihm nicht vorzuwerfenden Grund den Antragsteller an der angegebenen Adresse nicht gefunden hat, obwohl dieser dort wohnte. So soll es sich nach dem unwiderlegten Vortrag des Antragstellers tatsächlich verhalten haben. Selbst wenn aber dem FG unbeschadet der mutmaßlichen Folgen einer öffentlichen Zustellung des Gerichtsbescheides sollte gestattet werden müssen, allein aus dem Fehlschlag der Zustellung den Schluss zu ziehen, der Antragsteller habe im Januar 1997 an der von ihm angegebenen Adresse nicht mehr gewohnt, wäre es unverständlich und nicht hinzunehmen, dass das FG nicht vor öffentlicher Zustellung des Gerichtsbescheides erneut bei dem Einwohnermeldeamt nachgefragt hat, ob sich der Antragsteller nunmehr von seiner bisherigen Adresse abgemeldet und eine neue Adresse angegeben hat. Das musste umso mehr nahe liegen, als seit der letzten Anfrage über fünf Monate vergangen waren. Wäre das FG so verfahren, hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit eine zustellungsfähige Anschrift des Antragstellers in Erfahrung bringen können; denn dieser hat sich offenbar am 20. Juni 1997, also unmittelbar nach Ausfertigung des Gerichtsbescheides seitens des FG, bei der Meldebehörde für eine neue Wohnung angemeldet, in der er anscheinend in den folgenden Wochen auch gewohnt hatte; auf eine vom FG am 18. Juni 1997 an die Meldebehörde abgesandte Wohnsitzanfrage wäre diesem die neue Adresse mithin wahrscheinlich mitgeteilt worden.

Das FG hat es indes unterlassen, solche Vorkehrungen zu treffen. Es durfte allein auf Grund seiner aus den Vorgängen im Januar 1997 gewonnenen Mutmaßungen über den Aufenthalt des Antragstellers die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheides nicht verfügen. Dass eine Zustellung des Gerichtsbescheides unter der vom Antragsteller angegebenen Adresse möglicherweise nicht zum Erfolg geführt hätte, weil der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben im Mai 1997 die dortige Wohnung verlassen hatte, ist für die Anwendung des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG ohne Bedeutung. Es ist überdies ungewiss, ob nicht ein erneuter Zustellungsversuch an dieser Adresse zumindest in einer Weise auf die Spur des Antragstellers geführt hätte --etwa durch Auskünfte bisheriger Nachbarn oder aufgrund der Kenntnis des (jetzigen) Postzustellers--, die eine Zustellung an der neuen Adresse des Antragstellers ermöglicht hätte.

Ende der Entscheidung

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