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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 02.11.2006
Aktenzeichen: VIII B 64/06
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO


Vorschriften:

AO 1977 § 169 Abs. 2 Satz 2
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
FGO § 116 Abs. 6
FGO § 119 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Kläger und Beschwerdegegner zu 1. bis 3. (Kläger zu 1. bis 3.) sind die Ehefrau und die beiden Kinder des 1996 verstorbenen Ehemanns der Klägerin zu 1. (E).

E war als Kaufmann seit 1965 Geschäftsführer der Firma S GmbH & Co. KG. Außerdem war er Allein-Gesellschafter-Geschäftsführer der von ihm 1988 im Auftrag dreier am Gewinn und Verlust beteiligter Personen gegründeten N-GmbH (N-GmbH).

Ab November 1989 wurde der Sohn und Miterbe des E, der Kläger zu 3., Ein- und Verkäufer der N-GmbH. E erteilte ihm außerdem Vollmacht für das Geschäftskonto der N-GmbH bei einer Sparkasse.

In den Jahren 1990 bis 1992 erlangte der Kläger zu 3. durch Scheckmanipulationen zu Lasten der N-GmbH auf der Grundlage fingierter Provisionsrechnungen zweier italienischer Firmen, mit denen die N-GmbH in laufenden Geschäftsbeziehungen stand, Beträge in Höhe von ca. 620 000 DM.

Nach einer Strafanzeige gegen den Kläger zu 3. und E wegen des Verdachts der Untreue erstattete der Prozessbevollmächtigte namens der Kläger im September 1993 beim Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--) für die GmbH und auch für E und den Kläger zu 3. Selbstanzeigen, wonach im Zeitraum zwischen 1990 bis 1992 ausländische Warenbezüge in Höhe von insgesamt 544 794,90 DM als Betriebsausgaben gebucht worden seien ohne entsprechende tatsächliche Lieferungen.

Aus den Mitteln seien allerdings nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfene Lohnzahlungen in Höhe von 270 000 DM erbracht worden, die bislang nicht als Betriebsausgaben gebucht worden seien, sowie eine Ablösesumme für eine Mitarbeiterwohnung in Höhe von 20 000 DM.

Eine bei der N-GmbH für die Jahre 1988 bis 1992 durchgeführte Außenprüfung ermittelte für das Streitjahr 1990 verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) von insgesamt 258 865 DM. Der entsprechend geänderte Körperschaftsteuerbescheid für 1990 wurde bestandskräftig.

Die Klägerin zu 1. und E hatten in ihrer am 21. Februar 1992 beim FA eingereichten gemeinsamen Einkommensteuererklärung die vGA nicht erklärt. Mit Bescheid vom 16. Oktober 1997 änderte das FA entsprechend den Prüfungsfeststellungen auch die Einkommensteuerfestsetzung für 1990 und erhöhte --allerdings ohne Anrechnung von Körperschaftsteuer-- die Einkommensteuer von 17 388 DM auf 136 166 DM. Während des Klageverfahrens erließ das FA unter Anrechnung der zwischenzeitlich entrichteten Körperschaftsteuer am 26. September 2005 einen weiteren Einkommensteueränderungsbescheid für 1990 und erhöhte die Einkommensteuer auf 213 670 DM.

Nach erfolglosem Einspruch (Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 1999) gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt.

Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt das FA Verfahrensverstöße.

Im Einspruchsverfahren wegen der geänderten Körperschaftsteuerfestsetzungen für 1990 bis 1992 sei ausschließlich streitig gewesen, inwieweit die vGA durch Betriebsausgaben kompensiert werden dürften. Hingegen sei unstreitig gewesen, dass die fingierten Betriebsausgaben unter Mitwirkung des Anteilseigners (E) ermöglicht worden seien. Es sei nicht zwischen den Tatbeiträgen des E und des Klägers zu 3. differenziert worden. Vielmehr sei von gemeinsamen Tatbeiträgen ausgegangen worden, was auch durch Verurteilung beider Personen wegen Untreue bestätigt worden sei.

Im Klageverfahren wegen Einkommensteuer 1990 sei allein streitig geblieben, ob wegen Steuerhinterziehung bezüglich der vGA die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) verlängert worden sei. Hingegen sei die vGA selbst weder nach Grund noch nach Höhe bestritten worden.

Die Kläger hätten sich allein gegen den Vorwurf der vorsätzlichen Steuerhinterziehung gewendet und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, den vGA hätten ausschließlich Handlungen des Klägers zu 3. zugrunde gelegen. Nur diese Frage sei auch erörtert worden. Demgegenüber habe das FG völlig überraschend der Klage bereits deshalb stattgegeben, weil mangels Vermögensvorteils beim Anteilseigner keine vGA nach der im Streitjahr bestehenden ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gegeben sei und ihm auch kein Vorwurf wegen der unterlassenen Angabe dieser Beträge in der gemeinsamen Einkommensteuererklärung für 1990 gemacht werden könne.

Ohne jegliche Erörterung im Klageverfahren sei das FG bei der Prüfung der vGA von einer Zuwendung an eine nahe stehende Person ausgegangen, für deren Erfassung als vGA zum Tatzeitpunkt noch andere Kriterien gegolten hätten. Das FA habe keine Gelegenheit erhalten, sich zur Anwendung der früheren Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 23. Oktober 1985 I R 247/81, BFHE 145, 165, BStBl II 1986, 195) zu äußern und darauf hinzuweisen, dass der Beweis des ersten Anscheins dafür spreche, dass der Vorteil mittelbar dem Gesellschafter zugewandt worden sei.

Dieser Beweis des ersten Anscheins sei von den Klägern nicht widerlegt worden. Er könne im Allgemeinen auch nur durch die Feststellung erschüttert werden, dass die Zuwendung des Vorteils ihre Ursache ausschließlich in der Beziehung der Kapitalgesellschaft zu der dem Gesellschafter nahe stehenden Person habe.

Die Regeln des Anscheinsbeweises könnten nur durch einen vom FG festzustellenden Erfahrungssatz widerlegt werden. Das Gericht müsse dazu Beweis erheben, um den typischen Geschehensablauf auszuschließen.

Außerdem hätte das FA bei einem Hinweis des FG auf die Maßgeblichkeit eines Vermögensvorteils auch beim Anteilseigner Beweisanträge gestellt.

Schließlich sei nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Anhaltspunkte aus den Akten oder des Beteiligtenvortrags das FG zu seiner Überzeugung gelangt sei, es habe eine Zuwendung an eine nahe stehende Person vorgelegen, nachdem die vGA auf den Tatbeiträgen des Anteilseigners beruht haben.

Das Urteil beruhe auch auf den Verfahrensverstößen.

Die Kläger beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung eines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) liegt nach ständiger Rechtsprechung des BFH vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste.

Fachkundige Prozessparteien müssen grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten. Allerdings kann es im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Sach- oder Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Oktober 1994 2 BvR 126/94, Deutsches Verwaltungsblatt --DVBl-- 1995, 34; BFH-Beschlüsse vom 11. Januar 2006 I B 43/05, BFH/NV 2006, 795, m.w.N.; vom 8. August 2006 X B 191/05, juris; vom 19. Juli 2005 X B 30/05, BFH/NV 2005, 1861; vom 9. Dezember 2004 III B 89/04, BFH/NV 2005, 915; vom 15. September 2004 I B 18/04, juris).

2. Die Voraussetzungen für einen derartigen besonderen Sachverhalt liegen im Streitfall vor.

Sowohl im Einspruchsverfahren wegen der Körperschaftsteuer, u.a. für das Streitjahr 1990 (vgl. Einspruchsentscheidung vom 26. Juni 1997) als auch im Einspruchsverfahren wegen Einkommensteuer 1990 (vgl. Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 1999) ist das FA von einer unmittelbar durch den Allein-Gesellschafter-Geschäftsführer der N-GmbH verwirklichten vGA ausgegangen und hat auch nach den Gesamtumständen dessen zumindest bedingten Vorsatz hinsichtlich der eingetretenen Steuerverkürzung bejaht.

Im Klageverfahren haben die Kläger zwar bestritten, dass E die vGA als solche hätte erkennen müssen und aus dieser Kenntnis die Schlussfolgerung hätte ziehen können und müssen, dass es sich insoweit um bei ihm steuerpflichtige Einnahmen aus Kapitalvermögen gehandelt habe. Zur Begründung haben sie sich auf ihre Einspruchsbegründung bezogen, in der jedoch keine Ausführungen zu den konkreten Tatbeiträgen von E und dem Kläger zu 3. gemacht worden sind, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten bei der Subsumtion unter den Begriff der vGA hingewiesen wird. Konkret aufgegriffen worden ist hingegen die Frage einer möglichen Kompensation der vGA durch tatsächlich mit Hilfe der durch die Scheckmanipulationen erlangten Mittel getätigten Betriebsausgaben.

Unter diesen Umständen hatte das FA keinen Anlass auf die besonderen Grundsätze für die Annahme einer vGA bei Zuwendung eines Vermögensvorteils durch den Gesellschafter an eine nahe stehende Person und die vom FG nach der für das Streitjahr geltenden Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil in BFHE 145, 165, BStBl II 1986, 195, m.w.N.) als entscheidungserheblich angesehene Frage eines auch beim Gesellschafter (E) selbst vorliegenden Vorteils einzugehen (vgl. auch die Nachweise in dem diese Rechtsprechung ändernden Urteil des BFH vom 18. Dezember 1996 I R 139/94, BFHE 182, 184, BStBl II 1997, 301, und vom 25. Mai 2004 VIII R 4/01, BFHE 207, 103, 106).

Nach der Sitzungsniederschrift vom 9. Februar 2006 haben zwar sowohl der Kläger zu 3. als auch die Klägerin zu 1. sowie deren Bevollmächtigter das Wissen des E um die Scheckmanipulationen sowie die fingierten Provisionszahlungen bestritten. Demgegenüber hat das FA aber auf die gegenteilige, sehr sorgfältige und überzeugende Beweiswürdigung des Amtsgerichts hingewiesen, das den E wegen Untreue verurteilt habe.

Ohne dieser im tatsächlichen unklaren Sachlage weiter nachzugehen, ist das FG indes --abweichend von der bisherigen steuerrechtlichen Würdigung des FA-- von Zuwendungen des E an den Kläger zu 3. ausgegangen. Auch habe das FA einen für die Annahme einer vGA nach damaliger Rechtsprechung des BFH notwendigen Vermögensvorteil des E nicht selbst behauptet.

Nach den gesamten Umständen des Verfahrens bestand indes für das FA für einen dahin gehenden Vortrag kein Anlass. Im Ergebnis hat das FG somit eine Überraschungsentscheidung getroffen, worin ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt. Auf diesem Fehler beruht das angefochtene Urteil. Das folgt aus § 119 Nr. 3 FGO.

Die dort verankerte Vermutung der Ursächlichkeit einer Versagung des rechtlichen Gehörs für das später ergangene Urteil gilt zwar, soweit sie nur einzelne Feststellungen betrifft, nicht uneingeschränkt. Indes muss sie nur dann weichen, wenn das Gehör nur hinsichtlich einzelner Feststellungen verletzt worden ist, auf die es unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt. Diese Ausnahme liegt im Streitfall nicht vor; denn der Ausgang des Rechtsstreits beruht gerade entscheidend auf der verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen rechtlichen Würdigung des FG (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 795).

Das FA hatte auch keine Gelegenheit, die erst im angefochtenen Urteil zutage getretene Gehörsverletzung bereits vor dem FG zu rügen, so dass es sein Recht zur Beanstandung des Verfahrensmangels auch nicht durch rügeloses Verhandeln verloren hat (§ 295 der Zivilprozessordnung --ZPO-- i.V.m. § 155 FGO; BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 795).

3. Liegen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor, so kann der BFH durch Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO; BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2005 VIII B 174/03, BFH/NV 2006, 749; vom 20. April 2005 III B 177/04, juris), ohne dass der Senat insoweit auf die weiteren Verfahrensrügen eingehen muss.

Ende der Entscheidung

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