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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 19.10.2000
Aktenzeichen: VIII B 77/00 (1)
Rechtsgebiete: AO 1977, StGB


Vorschriften:

AO 1977 § 370
AO 1977 § 235
StGB § 2 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

Der Antragsteller und Beschwerdeführer zu 1 (Antragsteller zu 1) war bis 1988 mit der Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 3 (Antragstellerin zu 3) und ist seit 1992 mit der Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 2 (Antragstellerin zu 2) verheiratet.

Der Antragsteller zu 1 hatte in den Einkommensteuererklärungen 1988 bis 1997 --für den Veranlagungszeitraum 1988 zusammen mit der Antragstellerin zu 3 und für die Veranlagungszeiträume 1992 bis 1997 zusammen mit der Antragstellerin zu 2-- Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht erklärt. Ebenso wenig hatte der Antragsteller das diesen Einkünften zugrunde liegende Kapitalvermögen in den Vermögensteuererklärungen für den Zeitraum 1989 bis 1996 --für die Veranlagungszeiträume 1993 bis 1996 zusammen mit der Antragstellerin zu 2-- angegeben. Nachdem die Antragsteller dies mit Schreiben vom 3. und 12. Mai 1999 nachgeholt hatten, erließ der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) geänderte Einkommensteuer- und Vermögensteuerbescheide für die genannten Zeiträume. Die Antragsteller fochten diese Änderungsbescheide nicht an. Mit Bescheiden vom 27. Januar 2000 setzte das FA überdies Hinterziehungszinsen fest, und zwar

- gegenüber den Antragstellern zu 1 und 3 wegen Einkommensteuer 1988 ... DM,

- gegenüber dem Antragsteller zu 1 allein wegen Einkommensteuer 1989 bis 1991 ... DM

und

wegen Vermögensteuer 1989 bis 1992 ... DM,

- gegenüber dem Antragsteller zu 1 und der Antragstellerin zu 2 wegen Einkommensteuer 1992 bis 1997 ... DM

und

wegen Vermögensteuer 1993 bis 1996 ... DM.

Die Antragsteller haben gegen die Zinsbescheide Einspruch eingelegt, soweit Zinsen auf die Einkommensteuernachzahlungen für 1988 bis 1992 und auf die Vermögensteuernachzahlungen für 1989 bis 1996 festgesetzt worden sind. Gleichzeitig beantragten sie beim FA, die Vollziehung der angefochtenen Zinsbescheide auszusetzen. Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, sowohl die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen für 1988 bis 1992 als auch die Vermögensbesteuerung des Kapitalvermögens für 1989 bis 1996 seien vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für verfassungswidrig erklärt worden. Verfassungswidrige Steuern könnten jedoch i.S. von § 370 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht hinterzogen werden, so dass auch keine Hinterziehungszinsen festgesetzt werden dürften. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Zinsbescheide sei daher ernstlich zweifelhaft.

Nachdem das FA den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hatte, begehrten die Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Zinsbescheide beim Finanzgericht (FG). Auch das FG hat den Antrag abgelehnt. Es hat die Beschwerde zugelassen.

Die Antragsteller haben gegen den Beschluss des FG Beschwerde erhoben. Sie tragen vor, dass das FA "inzwischen die Hauptsacheforderung gegen die Beschwerdeführer vollstreckt (habe)".

Sie beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Vollziehung --hilfsweise gegen Sicherheitsleistung-- aufzuheben.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Das Verfahren der Antragsteller zu 1 und 2 betreffend die Bescheide über Hinterziehungszinsen zur Vermögensteuer 1989 bis 1996 war abzutrennen und an den zuständigen II. Senat abzugeben. Die Abgabe beruht auf Teil A, II. Senat, Nr. 6 i.V.m. Teil A, Ergänzende Regelungen, I. 1. bis 4. des Geschäftsverteilungsplans des Bundesfinanzhofs (BFH) für das Jahr 2000 (BStBl II 2000, 107). Nach Teil A, II. Senat, Nr. 6 ist der II. Senat für die Vermögensteuer (und die dazugehörigen Nebenleistungen wie Hinterziehungszinsen; vgl. § 3 Abs. 3 AO 1977) zuständig. Bei dieser Zuständigkeit verbleibt es gemäß Teil A, Ergänzende Regelungen, I. 1. bis 4., weil das Verfahren nicht aufgrund einer Entscheidung gemäß der Nr. 2 abgeschlossen ist und die Voraussetzungen für eine übergreifende Zuständigkeit gemäß der Nr. 3 nicht erfüllt sind; denn die Beantwortung der Frage nach der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Zinsbescheide zur Vermögensteuer einerseits und zur Einkommensteuer andererseits muss nicht notwendigerweise einheitlich ausfallen:

Im Unterschied zu der Auffassung des II. Senats des BFH im Urteil vom 24. Mai 2000 II R 25/99 (BFHE 191, 240, BStBl II 2000, 378, unter II. 3. der Gründe) vertreten das Landgericht (LG) München II in seinem Beschluss vom 11. November 1999 5 Qs 12/99 (Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2000, 372) sowie ein zahlenmäßig gewichtiger Teil des Schrifttums (vgl. z.B. Ulsamer/Müller, Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht --wistra-- 1998, 1, 4 ff.; Urban, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1998, 1995, 1997 ff.; derselbe, Die Information über Steuer und Wirtschaft --Inf-- 1999, 617, 618; Resing, DStR 1999, 922, 923; Plewka/Heerspink, Betriebs-Berater --BB-- 1999, 2429 ff.; Spatschek/Seebode, BB 1999, 2480, 2481 f.; Daragan, DStR 1999, 2116, 2117; Bornheim, Die Steuerberatung --Stbg-- 1999, 310, 315; anderer Auffassung Meine, DStR 1999, 2101 f.; Rolletschke, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 2000, 211, 214; Schmidt, wistra 1999, 121, 122 ff.) die Ansicht, dass das Rückwirkungsgebot des § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs (StGB) einer Bestrafung wegen Vermögensteuerhinterziehung für Veranlagungszeiträume vor 1997 entgegenstehe. Durch die Rechtsprechung des BVerfG zur Vermögensteuer (BVerfG-Beschluss vom 22. Juni 1995 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655) und das Nichthandeln des Gesetzgebers sei das früher geltende Vermögensteuerrecht zum 31. Dezember 1996 ersatzlos außer Kraft getreten. Dies stehe einer formellen Aufhebung des Vermögensteuergesetzes (VStG) durch den Gesetzgeber gleich, so dass ab 1. Januar 1997 ein "milderer" Rechtszustand als in den Vorjahren bestehe. Folglich sei seit 1. Januar 1997 eine Verurteilung wegen Vermögensteuerhinterziehung für Veranlagungszeiträume vor 1997 nicht mehr zulässig (Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1, 4). Damit entfalle aber zugleich entgegen der Auffassung des BFH im Urteil in BFHE 191, 240, BStBl II 2000, 378 die Rechtsgrundlage für die Erhebung von Hinterziehungszinsen zur Vermögensteuer i.S. von § 235 AO 1977 (vgl. z.B. Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 ff., 2434; Spatschek/Seebode, BB 1999, 2480, 2481 f., 2483; Resing, DStR 1999, 922, 923 f., Daragan, DStR 1999, 2116, 2117).

Diese von einem Teil der Literatur vertretene These, dass § 2 Abs. 3 StGB einer Bestrafung wegen Vermögensteuerhinterziehung und damit zugleich der Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Vermögensteuer entgegenstehe, lässt sich indessen auf die Hinterziehung von Einkommensteuer auf vor 1993 erzielte Kapitaleinkünfte und auf die daraus resultierenden Hinterziehungszinsen --wenn überhaupt-- allenfalls partiell übertragen, nämlich nur insoweit, als das am 1. Januar 1993 in Kraft getretene Zinsabschlaggesetz (ZinsAbschlG) vom 9. November 1992 (BGBl I 1992, 1853) gegenüber dem früheren, bis 1992 geltenden Rechtszustand in Bezug auf die Besteuerung der Kapitalerträge eine Erhöhung der Sparer-Freibeträge auf 6 000 DM bzw. 12 000 DM (vgl. § 20 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- i.d.F. des ZinsAbschlG) angeordnet hat (vgl. auch Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, Stbg 1998, 485, 493).

Angesichts dieser Verschiedenheiten erscheint es jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Zinsbescheide in Bezug auf die Vermögensteuer und in Bezug auf die Einkommensteuer, jedenfalls soweit letztere auf Kapitaleinkünfte entfällt, die die ab 1. Januar 1993 geltenden Sparer-Freibeträge überschreiten, unterschiedlich zu beurteilen sein kann.

Für eine unterschiedliche Beurteilung der angefochtenen Zinsbescheide zur Vermögensteuer und zur Einkommensteuer könnte auch der Umstand sprechen, dass das BVerfG in seinem Vermögensteuerbeschluss in BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655, § 10 Nr. 1 VStG 1974 mit dem Grundgesetz (GG) für unvereinbar erklärt hat, wohingegen aus dem Zinsurteil des BVerfG vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89 (BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654) nicht klar hervorgeht, ab welchem genauen Zeitpunkt die materiellen Steuernormen der §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 (jetzt: § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG) als mit dem GG unvereinbar anzusehen sind. So heißt es in dieser Entscheidung unter C. II. 5. b, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, die Besteuerungsgleichheit innerhalb einer angemessenen Frist, spätestens mit Wirkung vom 1. Januar 1993, durch hinreichende gesetzliche Vorkehrungen für die Zukunft zu gewährleisten. "Sollte der Gesetzgeber diesen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Nachbesserung nicht erfüllen, wird (Hervorhebung durch beschließenden Senat) die materielle Steuernorm selbst verfassungswidrig."

Dies könnte darauf hindeuten, dass die Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm bei fehlender oder ungenügender Nachbesserung der Zinsbesteuerung und Zinssteuererhebung durch den Gesetzgeber frühestens ab 1. Januar 1993 eintreten solle. Dem könnten aber die Ausführungen des BVerfG an früherer Stelle seines Zinsurteils entgegenstehen, wonach "jedenfalls gegenwärtig" (meint offensichtlich bei Erlass des BVerfG-Urteils in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654 am 27. Juni 1991) alle Voraussetzungen vorlägen, unter denen der vom BVerfG konstatierte Erhebungsmangel "zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm (führe)" (BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, unter C. II., vor 1.). Zu diesen Voraussetzungen gehört neben dem (strukturellen) Erhebungsdefizit, dass sich dem Gesetzgeber --sei es auch nachträglich-- die Erkenntnis aufdrängen musste, dass für die betreffende Steuer mit Blick auf die Erhebungsart und die nähere Regelung des Erhebungsverfahrens das von Verfassungs wegen vorgegebene Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell nicht zu erreichen ist. Dann nämlich trifft den Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Pflicht, diesen Mangel binnen angemessener Frist zu beseitigen (BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, unter C. I. 1. d).

Ausdrücklich offen gelassen hat das BVerfG jedenfalls, ab welchem genauen Zeitpunkt vor 1991 sich dem Gesetzgeber die Erkenntnis aufdrängen musste, dass das für die Besteuerung der Kapitalerträge geltende Recht die gebotene Gleichheit im Belastungserfolg verfehle mit der Folge, dass --nach erfolglosem Verstreichen einer dem Gesetzgeber zustehenden angemessenen Mängelbeseitigungsfrist-- die an sich unbedenkliche materielle Steuernorm selbst verfassungswidrig werde (BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, unter C. II., vor 1.).

Damit fehlt es im Unterschied zum Rechtszustand bei der Vermögensteuer zumindest in Bezug auf die Hinterziehungszinsen für die Einkommensteuer 1988 bis 1990 an einer eindeutigen Feststellung der Verfassungswidrigkeit der §§ 2 Abs. 1 Nr. 5 und 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 durch das BVerfG.

Ende der Entscheidung

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