Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 25.05.2004
Aktenzeichen: VIII R 21/03 (1)
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 74 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein Landkreis. Er kommt für die Kosten der Unterbringung und Betreuung der im Jahr 1982 geborenen Mutter und ihres im Februar 2002 geborenen Sohnes in einem Mutter-Kind-Heim auf. Dem Antrag der Mutter vom 20. Februar 2002 auf Bewilligung von Kindergeld entsprach der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) mit Verfügung vom 8. März 2002.

Mit Schreiben vom 4. März 2002 beantragte der Kläger, ihm das Kindergeld auszuzahlen, weil er bzw. das Kreisjugendamt für die gesamten Kosten des Lebensunterhalts von Mutter und Kind aufkomme und von der Mutter mangels eigener Einkünfte kein Kostenbeitrag verlangt werden könne. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Schreiben vom 15. März 2002 ab.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und verpflichtete den Beklagten, ab Februar 2002 das Kindergeld an den Kläger zu zahlen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 1715 veröffentlicht.

Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Senat hat die Mutter im Revisionsverfahren gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 123 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen. Sie hat keinen Antrag gestellt.

Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet. Die Vorentscheidung ist rechtmäßig und die Revision zurückzuweisen, soweit das FG die ablehnende Verfügung des Beklagten vom 15. März 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. April 2002 aufgehoben hat. Die Revision ist jedoch begründet und die Vorentscheidung aufzuheben, soweit das FG den Beklagten zur Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger in voller Höhe verpflichtet hat. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz liegt kein Fall einer sog. Ermessensreduzierung auf Null vor. Der Beklagte wird vielmehr verpflichtet, über den Auszahlungsantrag des Klägers nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (§ 101 Satz 2 FGO).

1. Die Revision kann nicht gemäß § 126 Abs. 4 FGO zurückgewiesen werden. Denn sie stellt sich nicht aus anderen als den vom FG dargelegten Gründen als richtig dar. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die vom FG offen gelassene Frage, ob der Kläger einen Rechtsanspruch auf die Auszahlung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) hat, zu bejahen wäre. Das trifft jedoch nicht zu.

a) Nach § 74 Abs. 2 EStG in der im Streitfall maßgeblichen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074) gelten für Erstattungsansprüche des Trägers von Sozialleistungen gegen die Familienkasse die §§ 102 bis 109 und 111 bis 113 SGB X entsprechend.

Im Streitfall ergibt sich ein Erstattungsanspruch nicht aus § 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB X, weil Satz 1 eine Gleichartigkeit der Leistungen der beiden Leistungsträger verlangt (vgl. z.B. Urteile des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 14. November 1984 1/4 RJ 57/84, BSGE 57, 218, 219; vom 22. September 1988 2 RU 9/88, BSGE 64, 96; vom 25. April 1990 5 RJ 12/89, BSGE 67, 6, 8; vom 8. April 1992 10 RKg 31/90, Zentralblatt für Jugendrecht --ZfJ-- 1993, 555). Eine Gleichartigkeit wird von der Rechtsprechung bei dem in einer Einrichtung gewährten Lebensunterhalt oder bei Sachleistungen im Rahmen einer Heimerziehung oder betreuten Wohnform einerseits und Geldleistungen andererseits verneint (vgl. BSG-Urteile in ZfJ 1993, 555; in BSGE 64, 96; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 22. Dezember 1998 5 C 25/97, BVerwGE 108, 222; vom 29. September 1994 5 C 56/92, BVerwGE 96, 379). Deshalb scheidet ein Erstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB X aus (vgl. auch Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach A, I. Kommentierung, § 74 EStG Rn. 13). Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

b) Die Voraussetzungen für eine Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 SGB X liegen ebenfalls nicht vor. Nach Satz 4 gilt Satz 1 entsprechend, wenn von den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe Aufwendungsersatz geltend gemacht oder ein Kostenbeitrag erhoben werden kann. Die Erstattung nach dieser Vorschrift setzt eine Kostenfestsetzung (Ermessensentscheidung des Jugendhilfeträgers, dass und in welchem Umfang von dem Kindergeldberechtigten ein Kostenbeitrag erhoben werden soll) voraus (vgl. BSG-Urteile in BSGE 64, 96; in ZfJ 1993, 555; Helmke/ Bauer, a.a.O., § 74 EStG Rn. 13). Dieses Erfordernis ist im Streitfall nicht erfüllt. Denn aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergibt sich, dass nach Auffassung des Klägers der Erlass eines Kostenbeitragsbescheids gegenüber der Mutter rechtswidrig wäre.

2. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind jedoch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG mit der Folge erfüllt, dass der Beklagte das ihm in dieser Vorschrift eingeräumte Rechtsfolgeermessen auszuüben hat, ob und ggf. in welcher Höhe er das Kindergeld an den Kläger auszahlt.

a) Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt nach Satz 3 auch dann, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Die Auszahlung kann gemäß Satz 4 auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.

Zwar ist Satz 4 des § 74 Abs. 1 EStG nicht --wie das FG angenommen hat-- in der Weise isoliert von den Sätzen 1 und 3 zu verstehen, dass die Auszahlung ohne weiteres an eine andere Person oder Stelle erfolgen kann, wenn diese dem Kind Unterhalt gewährt. Vielmehr bewirkt Satz 4 lediglich eine Erweiterung der für eine Auszahlung in Betracht kommenden Auszahlungsempfänger; bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Sätze 1 oder 3 für eine Auszahlung an das Kind kann die Auszahlung stattdessen auch an die den Unterhalt gewährende Person oder Stelle erfolgen (vgl. z.B. Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 74 EStG Anm. 12; Felix in Kirchhof/ Söhn, Einkommensteuergesetz, § 74 Rdnr. B 16). Hätte der Gesetzgeber insoweit einen von den vorangegangenen Sätzen losgelösten eigenständigen Erstattungsanspruch der Sozialleistungsträger begründen wollen, wäre § 74 Abs. 2 EStG überflüssig.

b) Im Streitfall ist der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt. Diese Vorschrift setzt anders als Satz 1 keine Verletzung der Unterhaltpflicht voraus, sondern erfasst den Sachverhalt, dass der Kindergeldberechtigte wegen fehlender Leistungsfähigkeit entweder überhaupt keinen Barunterhalt oder einen niedrigeren Unterhalt als das Kindergeld zahlen muss.

Entgegen der Auffassung des Beklagten müsste im Streitfall die Mutter gemäß §§ 1601, 1612 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) für den gesamten Unterhalt ihres Kindes und nicht nur für die Pflege und Betreuung aufkommen, wenn sie leistungsfähig i.S. des § 1603 BGB wäre. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG liegt kein Fall des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB vor. Danach erfüllt der Elternteil, der ein minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und Erziehung des Kindes. Diese Vorschrift setzt mehrere Unterhaltspflichtige voraus. Sind außer dem betreuenden Elternteil keine weiteren Unterhaltspflichtigen vorhanden, z.B. weil sie unbekannten Aufenthalts, verstorben oder nicht leistungsfähig sind, muss der betreuende Elternteil neben der Pflege und Erziehung des Kindes auch für den übrigen Unterhalt aufkommen (vgl. Engler in J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Viertes Buch, Familienrecht, Neubearbeitung 2000, § 1606 Rn. 45; Soergel-Häberle, Bürgerliches Gesetzbuch, Familienrecht II, 12. Aufl., § 1606 Rz. 7; Luthin in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch --MünchKomm--, herausgegeben von Rebmann/ Säcker, 3. Aufl., § 1603 Rdnr. 82; vgl. auch Palandt/ Diederichsen, Bürgerliches Gesetzbuch, § 1606 Rn. 8 und 18).

Im Streitfall hat das FG nicht festgestellt und der Beklagte auch nicht behauptet, dass außer der Mutter andere unterhaltspflichtige Verwandte des Kindes vorhanden sind. Dann aber ist die Mutter ihrem Kind gegenüber uneingeschränkt unterhaltspflichtig, wenn sie leistungsfähig i.S. des § 1603 BGB ist. Es ist jedoch unstreitig, dass sie nicht leistungsfähig ist, sondern selbst Sozialleistungen erhält.

Danach sind die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3, 1. Alternative i.V.m. Satz 4 EStG erfüllt. Die Mutter war mangels Leistungsfähigkeit nicht barunterhaltspflichtig und der Kläger ist für den sächlichen Unterhalt des Kindes aufgekommen. Deshalb war der Beklagte zur Ausübung seines Ermessens, ob er das Kindergeld an den Kläger auszahlt, verpflichtet.

3. Der Beklagte ist seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Ermessens nicht nachgekommen. Er war sich dieser Pflicht überhaupt nicht bewusst. Denn er hat sich in der Einspruchsentscheidung auf die Feststellung beschränkt, dass keine Verletzung einer Unterhaltspflicht vorliege und somit die seiner Meinung nach erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechtsfolgeermessens überhaupt nicht gegeben waren (sog. Ermessensunterschreitung).

a) Der Fehler, dass eine gebotene Ermessensausübung unterblieben ist, ist auch in der Folgezeit nicht geheilt worden. Nach § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Im Streitfall hat der Beklagte im Klageverfahren keine Ermessenserwägungen nachgeschoben. Er hat erstmals im Revisionsverfahren im Schriftsatz vom 28. Mai 2003 hilfsweise Ermessenserwägungen angestellt. Diese können im Umkehrschluss aus § 102 Satz 2 FGO im Revisionsverfahren jedoch unabhängig davon nicht mehr berücksichtigt werden, das eine Ergänzung der Ermessenserwägungen vorausgesetzt hätte, dass solche zuvor zumindest ansatzweise angestellt worden wären.

b) Der Senat ist anders als das FG nicht der Auffassung, dass im Streitfall einzig und allein die Ermessensentscheidung rechtmäßig ist, das Kindergeld in vollem Umfang an den Kläger auszuzahlen (Ermessensreduktion auf Null). Er hält es nicht für von vornherein ausgeschlossen, dass es auch vertretbar und damit ermessensgerecht i.S. des § 5 der Abgabenordnung (AO 1977) sein könnte, diejenigen Überlegungen in die Ermessenserwägungen einzubeziehen, die dem § 76 Abs. 2 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes in der ab Mai 2002 gültigen Fassung zugrunde liegen. Nach dieser Vorschrift wird bei Sozialhilfeempfängern mit einem Kind das Kindergeld in Höhe von 10,25 € nicht als Einkommen angerechnet. Das bedeutet, dass dieser Teil des gesamten Kindergeldes den Eltern zugute kommen soll, wenn sie ihr Kind betreuen.

Ende der Entscheidung

Zurück