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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 27.11.2001
Aktenzeichen: VIII R 32/95 (1)
Rechtsgebiete: FGO, ZPO


Vorschriften:

FGO a.F. § 68
FGO § 155
FGO § 91 Abs. 3
FGO § 119 Nr. 3
FGO § 96
FGO § 96 Abs. 1
ZPO § 227
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) --zur Einkommensteuer zusammen zu veranlagende Eheleute-- erhoben nach erfolglosem Einspruch Klage gegen den vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) erlassenen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1985. Während des Klageverfahrens erließ das FA am 2. Februar 1993 einen Einkommensteueränderungsbescheid, mit dem es dem Begehren der Kläger teilweise Rechnung trug. Diesen Änderungsbescheid haben die Kläger gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) a.F. zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Das Finanzgericht (FG) forderte die Kläger unter Hinweis darauf, dass das FA ihrem Begehren mit dem zum Gegenstand des Klageverfahrens gemachten Einkommensteueränderungsbescheid bereits im überwiegenden Teil entsprochen habe, wiederholt auf, die noch offenen Klagepunkte zu konkretisieren. Daraufhin beantragten die Kläger, das Klageverfahren bis zum Erlass der Einkommensteuerbescheide 1991 bis 1993 auszusetzen.

Nach Zugang der Ladung zu der auf den 13. Juni 1994 angesetzten mündlichen Verhandlung im Hause des beklagten FA beantragten die nicht durch einen steuerlichen Berater vertretenen Kläger mit Schreiben vom 4. Juni 1994, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben, weil eine neutrale und objektive Verhandlung im Gebäude des FA nicht möglich sei. Der in dieser Sache seit fast zehn Jahren geführte Schriftverkehr mit dem FA belege, dass eine Verhandlung im Gebäude des FA für sie als Steuerbürger "mehr als eine Provokation" darstelle. Ganz bewusst setze das FA gegen ihre kinderreiche Familie Gewaltmittel (Vollstreckungsmaßnahmen) ein.

Mit Schreiben an die Kläger vom 8. Juni 1994 lehnte das FG (Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 1 FGO) die beantragte Terminaufhebung ab, weil ein erheblicher Grund für eine solche Maßnahme i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht vorliege.

In der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 1994 erschien für die Kläger niemand. Nach Schließung der mündlichen Verhandlung verkündete das FG den Beschluss, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde.

Mit Schreiben vom 13. Juni 1994, eingegangen beim FG am 17. Juni 1994, überreichte der Kläger dem FG eine ärztliche Bescheinigung, in der ihm Arbeitsunfähigkeit seit dem 13. Juni 1994 attestiert wurde. In dem Schreiben heißt es, die Kläger gingen davon aus, dass ihnen wegen der Krankheit keinerlei Nachteile im Verfahren entstünden. Anderenfalls werde "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" beantragt.

Mit dem den Klägern am 4. Juli 1994 zugestellten Urteil hat das FG die Klage abgewiesen und diese Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Dem Antrag der Kläger auf Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung am 13. Juni 1994 habe nicht entsprochen werden können, weil die Voraussetzungen einer Terminänderung nach § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO nicht vorgelegen hätten. Eine Terminaufhebung komme nur bei Vorliegen eines erheblichen Grundes in Betracht. Ein erheblicher Grund liege nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dann vor, wenn ein Beteiligter aus objektiven Gründen verhindert sei, einen Termin wahrzunehmen.

Soweit die Kläger deswegen eine Terminaufhebung beantragt hätten, weil die mündliche Verhandlung in den Räumen des FA angesetzt worden sei, fehle es an einer Verhinderung aus objektiven Gründen. Die Verhandlung in den Räumen des FA habe die Kläger nicht gezwungen, zu den für sie zuständigen Bediensteten des FA in behördlichen Kontakt zu treten. Im Übrigen liege die Entscheidung über die Anberaumung eines auswärtigen Termins im Ermessen des zuständigen Richters und sei in § 91 Abs. 3 FGO gerade zu dem Zweck der Kostenersparnis vorgesehen.

Soweit die Kläger durch Schriftsatz vom 13. Juni 1994 konkludent eine Terminaufhebung wegen Krankheit des Klägers beantragt hätten, sei eine Vertagung ebenfalls nicht angezeigt gewesen. Die Ablehnung der Vertagung beeinträchtige den Anspruch auf rechtliches Gehör nur dann, wenn besondere Umstände die Vertagung geböten. Die Kläger hätten es, wie der Ablauf des Klageverfahrens --insbesondere nach Erlass des Einkommensteueränderungsbescheids vom 2. Februar 1993-- gezeigt habe, an einer pflichtgemäßen und zumutbaren sachlichen Mitwirkung fehlen lassen. Wenn sie die ihnen mehrere Monate gebotene Gelegenheit, Gespräche mit dem FA zu führen oder sich zum Inhalt des Klageverfahrens zu äußern, nicht genutzt hätten, könne die Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs bedeuten (vgl. BFH-Beschluss vom 20. Juni 1974 IV B 55-56/73, BFHE 113, 4, BStBl II 1974, 637).

Aus denselben Gründen sei auch eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht in Betracht gekommen.

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Ihre Verfahrensrügen begründen sie im Wesentlichen wie folgt:

Das FG habe ihnen das Recht auf Gehör versagt. Es habe die beantragte Aussetzung des Verfahrens zu Unrecht abgelehnt. Auch die Ablehnung der Terminverlegung und die der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung seien zu Unrecht erfolgt. Die Erkrankung des Klägers, der auch die Klägerin vertreten habe, sei dem FG durch Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausreichend nachgewiesen worden. Die Ablehnung der Terminverlegung sowie der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung komme daher ihrem (der Kläger) Ausschluss von der mündlichen Verhandlung gleich. Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen der mündlichen Verhandlung werde auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass sie --die Kläger-- zuvor bereits Schriftsätze beim FG eingereicht gehabt hätten. Gerade bei nicht vertretenen Klägern komme der mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu.

Die Kläger beantragen (sinngemäß), die Vorentscheidung aufzuheben und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen mit der Maßgabe abzuändern, dass die Einkommensteuerfestsetzung 1985 entsprechend den Angaben in ihrer Steuererklärung erfolge.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 FGO). Die Vorentscheidung verletzt das Recht der Kläger auf Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) und verstößt damit gegen § 119 Nr. 3 FGO.

1. Die Rüge der Kläger, das FG habe ihr Recht auf Gehör verletzt, ist schlüssig erhoben (vgl. § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F.; § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO n.F.), obwohl die Kläger nicht dargelegt haben, was sie im Fall einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vorgetragen hätten und dass dies die Entscheidung des FG hätte beeinflussen können.

In der bisherigen Rechtsprechung des BFH ist umstritten gewesen, welche Anforderungen an eine schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs in dem Fall zu stellen sind, dass dem Rechtsmittelführer die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung versagt worden ist und damit der Gehörsverstoß den gesamten Streitstoff erfasst hat. Deshalb hat der erkennende Senat im vorliegenden Verfahren mit Beschluss vom 8. April 1998 VIII R 32/95 (BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676) dem Großen Senat des BFH die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör im Urteilsverfahren (§ 119 Nr. 3 FGO) auch dann (substantiierte) Ausführungen darüber erfordere, was der Rechtsmittelführer bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte, und dass der Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, wenn der Rechtsmittelführer aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen (etwa wegen einer Erkrankung) an der mündlichen Verhandlung nicht habe teilnehmen können oder wenn ihm eine Teilnahme an der in den Räumen des Prozessgegners stattfindenden mündlichen Verhandlung aus gewichtigen Gründen nicht zumutbar gewesen sei.

Der Große Senat des BFH hat nunmehr mit Beschluss vom 3. September 2001 GrS 3/98 (BStBl II 2001, 802) die Rechtsauffassung bestätigt, die der erkennende Senat in seinem Vorlagebeschluss vertreten hat; er hat die vorgelegte Rechtsfrage dahin beantwortet, dass die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör keine Ausführungen darüber erfordere, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, wenn das Gericht verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden habe. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des Beschlusses des Großen Senats, der den Beteiligten bereits zugestellt worden ist, Bezug genommen.

2. Die somit schlüssige Rüge der Kläger, das FG habe ihr Recht auf Gehör verletzt, ist auch begründet. Der erkennende Senat hat bereits in seinem Vorlagebeschluss ausführlich dargelegt, dass er in der Ablehnung des Antrags der Kläger auf Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung am 13. Juni 1994 (vgl. unter C. I. der Gründe des Vorlagebeschlusses in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676, 682 f.) und in der Ablehnung der beantragten Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (vgl. unter C. II. der Gründe des Vorlagebeschlusses in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676, 683 f.) eine Versagung des rechtlichen Gehörs sieht. Er hält an dieser Auffassung fest und verweist wegen der Einzelheiten der Begründung zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in seinem Vorlagebeschluss.

3. Danach ist die Vorentscheidung aufzuheben, weil sie auf der Verletzung von Bundesrecht beruht (vgl. §§ 118 Abs. 1, 119 Nr. 3 FGO). Die Sache ist ohne eine Prüfung der sachlichen Richtigkeit des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Durch die verfahrensfehlerhafte Versagung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung war es den Klägern nicht möglich, hinreichend an der Erarbeitung des Gesamtergebnisses des Verfahrens i.S. des § 96 FGO mitzuwirken und sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern. Daraus, dass das Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs. 1 FGO verfahrensfehlerhaft zur Grundlage der angefochtenen Entscheidung geworden ist, folgt, dass dem Revisionsgericht die Prüfung der sachlich-rechtlichen Richtigkeit verwehrt ist (vgl. BFH-Urteil vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425).



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