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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 02.05.2001
Aktenzeichen: VIII R 44/00
Rechtsgebiete: AO 1977


Vorschriften:

AO 1977 § 174 Abs. 1
AO 1977 § 174 Abs. 4
BUNDESFINANZHOF

Hat das FA in dem Feststellungsbescheid für das Jahr 01 einen Entnahmegewinn erfasst, dessen Herabsetzung mit der Klage erstrebt wird, und erlässt das FA während des Klageverfahrens mit der Begründung einen dem Klagebegehren entsprechenden Änderungsbescheid für das Jahr 01, dass die Entnahme richtigerweise im Jahr 02 zu berücksichtigen sei, dann ist die nachfolgende Erfassung des Entnahmegewinns in einem Änderungsbescheid für das Jahr 02 gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 unter der Voraussetzung zulässig, dass die Entnahme bei zutreffender Beurteilung tatsächlich in diesem Jahr getätigt worden ist. Soweit in dem Feststellungsbescheid für das Jahr 01 noch ein Entnahmegewinn erfasst ist, kann der Feststellungsbescheid für das Jahr 01 sodann auf Antrag gemäß § 174 Abs. 1 AO 1977 berichtigt werden.

AO 1977 § 174 Abs. 1 und Abs. 4

Urteil vom 2. Mai 2001 - VIII R 44/00

Vorinstanz: FG München (EFG 2001, 58)


Gründe

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine KG. Sie nutzte für ihre betrieblichen Zwecke ein Grundstück, das zum Sonderbetriebsvermögen ihrer beiden Kommanditisten, der Beigeladenen und ihres inzwischen verstorbenen und von ihr beerbten Ehemannes, gehörte. Die Klägerin wies in der Gewinnermittlung für das Jahr 1989 die Entnahme eines Teils dieses Grundstücks (755,2 qm) mit dem Entnahmewert von 64 192 DM aus. In dem Bescheid über die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb vom 18. März 1991 erhöhte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) diesen Wert zunächst auf 226 560 DM und setzte ihn in der Einspruchsentscheidung auf 167 643 DM herab. Mit ihrer Klage hielt die Klägerin an ihrem Begehren fest, einen Entnahmewert von 64 192 DM festzusetzen. Das FA erklärte in seiner Klageerwiderung, es gehe aufgrund des Klagevorbringens abweichend von seiner bisherigen Meinung davon aus, dass im Jahre 1989 nicht die Voraussetzungen für eine Entnahme vorgelegen hätten. Es erließ während des Klageverfahrens am 11. März 1997 einen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid für 1989, durch den es dem Klagebegehren entsprach, so dass ein Entnahmewert von 64 192 DM erfasst blieb. Der Bescheid enthält die Erläuterung, die Stattgabe beruhe auf der geänderten Auffassung des FA, "wonach in 1989 keine Entnahme stattgefunden hat (vgl. dazu die Schreiben vom 26.8.1992 und 2.11.1993)."

Mit Bescheid vom 14. März 1997 änderte das FA gemäß § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) den bestandskräftigen Gewinnfeststellungsbescheid für 1990 und erhöhte den festgestellten Gewinn um 167 643 DM. Es wies den Einspruch, mit dem die Klägerin weiterhin geltend machte, die Entnahme sei im Jahre 1989 erfolgt, als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage auf Aufhebung des Änderungsbescheides und der Einspruchsentscheidung statt. Es entschied, die nochmalige Besteuerung eines bereits in einem Veranlagungsjahr erfassten Entnahmevorgangs in einem zweiten Veranlagungsjahr durch Änderungsbescheid gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 sei nicht zulässig (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2001, 58).

Das FA rügt mit seiner Revision eine fehlerhafte Auslegung des § 174 Abs. 4 AO 1977.

Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht angenommen, die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 sei nur dann zulässig, wenn der Sachverhalt in dem Steuerbescheid, der aufgrund des Rechtsbehelfs oder des Antrags des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert worden ist, überhaupt nicht mehr erfasst ist. Denn diese Vorschrift setzt entgegen der Auffassung des FG nicht zwingend ein wechselseitiges Ausschließlichkeitsverhältnis voraus.

1. Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 können aus einem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird.

Irrige Beurteilung eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. Februar 1996 I R 150/94, BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417; vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex (BFH-Urteile vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387; vom 17. Oktober 1990 I R 9/89, BFH/NV 1991, 354; vom 8. April 1992 X R 213/87, BFH/NV 1993, 406; in BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1993, 406; vom 10. Mai 1995 IX R 68/93, BFH/NV 1995, 1056; in BFHE 183, 6, BStBl 1997, 647).

Entgegen der Auffassung der Vorinstanz setzt die Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 nicht voraus, dass der Sachverhaltskomplex in dem Bescheid, der aufgrund des Rechtsbehelfs oder des Antrags des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten geändert oder aufgehoben worden ist, überhaupt nicht mehr berücksichtigt worden ist. Denn der BFH versteht § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 in ständiger Rechtsprechung als eine gegenüber den Regelungen des § 174 Abs. 1 bis Abs. 3 AO 1977 eigenständige Änderungsnorm, die nicht auf die Fälle der alternativen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts beschränkt ist; er ist unter Hinweis auf den Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 nicht der Auffassung gefolgt, die Vorschrift setze zwingend ein wechselseitiges Ausschließlichkeitsverhältnis voraus, das nur die alternative Berücksichtigung desselben Sachverhaltes erlaube (vgl. BFH-Urteile vom 24. November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404; vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264; in BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647).

Dementsprechend hat der IV. Senat eine Änderung des Steuerbescheides für das Jahr 02 gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 für zulässig gehalten, wenn der Klage gegen den Steuerbescheid des Jahres 01, in dem ein Aufgabegewinn erfasst worden war, teilweise stattgegeben und ein bestimmter Teil des Aufgabegewinns herausgenommen worden war; der restliche Aufgabegewinn könne unter der Voraussetzung in dem Steuerbescheid für das Jahr 02 erfasst werden, dass er tatsächlich in diesem Jahr entstanden sei. Bei Erlass eines Änderungsbescheids nach § 174 Abs. 4 AO 1977 sei das FA nicht an die im voraufgegangenen Änderungsbescheid vertretene Rechtsauffassung gebunden. Dies gelte auch für ein in dieser Sache ergangenes Urteil. Nur so lasse sich das Ziel des § 174 Abs. 4 AO 1977 erreichen, dass die Besteuerung eines bestimmten Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid erfolge, wenn die ursprüngliche falsche Erfassung aufgrund eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen berichtigt werde (Urteil vom 21. Oktober 1993 IV R 42/93, BFHE 173, 285, BStBl II 1994, 385).

2. Bei Anwendung dieser Grundsätze, die gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 für die gesonderte Feststellung sinngemäß gelten, ist für die Entscheidung des Streitfalles entscheidungserheblich, ob das Teilgrundstück bei zutreffender steuerlicher Beurteilung im Jahr 1990 und nicht --wie die Klägerin geltend macht-- im Jahr 1989 entnommen worden ist.

a) Sollte sich die vom FA vertretene Rechtsauffassung, die Entnahme des Teilgrundstücks sei erst im Jahre 1990 erfolgt, als richtig erweisen, wäre die Änderung des Gewinnfeststellungsbescheides für 1990 gemäß dem Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 zulässig. Denn bei diesem Sachverhalt wäre der Feststellungsbescheid für 1989 vom 18. März 1991 aufgrund einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts, nämlich des Sachverhaltskomplexes "Entnahme des Teilgrundstücks" ergangen; der Entnahmegewinn wäre zu Unrecht in dem Feststellungsbescheid für 1989 erfasst worden. Dieser Feststellungsbescheid ist während des Klageverfahrens durch den Bescheid vom 11. März 1997 auf Grund des Rechtsbehelfs der Klägerin, nämlich ihrer Klage, gemäß dem Klageantrag der Klägerin zu Gunsten ihrer Kommanditisten geändert worden. Der Wortlaut der Vorschrift verlangt nicht, dass dem Rechtsbehelf oder Antrag des Steuerpflichtigen auch aus den von ihm geltend gemachten Gründen entsprochen worden sein muss; es reicht vielmehr aus, dass die Änderung durch den Rechtsbehelf oder Antrag des Steuerpflichtigen veranlasst worden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 22. Dezember 1988 V B 148/87, BFH/NV 1990, 341; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 174 Anm. 55).

b) Die wortlautgemäße Auslegung des § 174 Abs. 4 AO 1977 führt auch nicht zu sinnwidrigen Ergebnissen. Sie ermöglicht vielmehr eine angemessene Lösung des vorliegenden Interessenwiderstreits. Hat das FA in dem Klageverfahren gegen den Gewinnfeststellungsbescheid für 1989 seine Auffassung nicht aufgrund neuer Tatsachen geändert, sondern aufgrund besserer rechtlicher Erkenntnis angenommen, das Teilgrundstück sei erst im Jahr 1990 und nicht bereits im Jahr 1989 entnommen worden, musste es den angefochtenen Bescheid im Umfang des Klageantrags ändern, wenn es vermeiden wollte, dass der Klage stattgegeben wird und weitere Verfahrenskosten entstehen. Wenn die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 für eine Änderung bestandskräftiger Bescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufgrund neuer Tatsachen nicht vorgelegen haben, konnte das FA nach Ergehen der Einspruchsentscheidung den Entnahmevorgang in dem Gewinnfeststellungsbescheid für 1989 nicht mehr gänzlich unberücksichtigt lassen, wenn die Klägerin dies nicht beantragt oder der Änderung nicht gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 zugestimmt hat. Denn nach Ergehen der Einspruchsentscheidung konnte die Klägerin durch den Umfang ihres Klageantrags bestimmen, inwieweit der angefochtene Gewinnfeststellungsbescheid teilweise bestandskräftig wird (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327). Hat die Finanzbehörde aber dem Klagebegehren durch antragsmäßige Änderung des angefochtenen Bescheides zu Gunsten des Steuerpflichtigen entsprochen, so entspricht es gerade dem Zweck des § 174 Abs. 4 AO 1977, der Finanzbehörde die Möglichkeit einzuräumen, die richtigen steuerlichen Folgerungen aus der Rechtsauffassung zu ziehen, die der Änderung zugrunde liegt.

3. Da die Vorentscheidung von anderen Voraussetzungen ausgegangen ist, ist sie aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb gemäß dem Antrag des FA zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG hat --von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht-- keine Tatsachen festgestellt, die es dem Senat ermöglichen zu entscheiden, in welchem Jahr das Teilgrundstück entnommen worden ist und --ggf.-- welchen Wert es hatte. Sollte sich im zweiten Rechtsgang die Auffassung des FA, das Teilgrundstück sei im Streitjahr 1990 entnommen worden, als zutreffend erweisen, wäre die Entnahme im Gewinnfeststellungsbescheid für dieses Jahr mit dem zutreffenden Wert zu erfassen. Soweit sich dadurch eine (teilweise) Doppelerfassung ergäbe, wäre der Feststellungsbescheid für das Jahr 1989 gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 auf Antrag der Klägerin zu ändern. Denn dieser Änderungstatbestand ist auch dann erfüllt, wenn zum Zwecke der Bereinigung eines fehlerhaften Bescheides zunächst bewusst eine Doppelerfassung eines Sachverhalts herbeigeführt wird (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Nebengesetze, 17. Aufl., § 174 AO 1977 Anm. 2).



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