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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 14.10.2003
Aktenzeichen: VIII R 56/01
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 2
AO 1977 § 37 Abs. 2
Der Grundsatz von Treu und Glauben steht der Rückforderung zuviel gezahlten Kindergeldes nicht bereits dann entgegen, wenn die Behörde trotz Kenntnis von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, zunächst weiterhin Leistungen erbringt. Erforderlich sind vielmehr besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen.
Gründe:

I.

Die Klägerin, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter einer im Februar 1972 geborenen Tochter. Die Tochter der Klägerin studierte seit dem Wintersemester 1993/94 an der Universität X. Im April 1997 heiratete sie und führte seither den Namen S. Im Juli 1997 bekam sie ein Kind. In der Folgezeit war sie zwecks Betreuung des Kindes vom Studium beurlaubt.

Am 6. Mai 1997 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre Tochter. Sie gab an, dass ihre Tochter sich vom 1. Januar bis 31. Dezember 1997 als Studentin in Berufsausbildung befinde. In den Akten des Beklagten, Revisionsklägers und Revisionsbeklagten (Beklagter) findet sich dazu einerseits eine Immatrikulationsbescheinigung der Universität X für das Sommersemester 1997 auf den Namen Sch (Geburtsname der Tochter), die als Anzahl der Fachsemester 8 angibt, und andererseits eine solche Bescheinigung auf den Namen S, die als Anzahl der Fachsemester 7 angibt und ausweist, dass die Tochter vom Studium beurlaubt war.

Am 27. Februar 1998 übersandte die Klägerin dem Beklagten per Telefax eine Immatrikulationsbescheinigung ihrer Tochter für das Sommersemester 1998 auf den Namen S, die als Anzahl der Fachsemester 7 angibt und ebenfalls ausweist, dass die Tochter vom Studium beurlaubt war. Der Beklagte forderte die Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 2. März 1998 auf, eine Erklärung zu den Einkünften und Bezügen ihrer Tochter für das abgelaufene Jahr 1997 und im Wege der Prognose für das Jahr 1998 abzugeben. Dieser Aufforderung kam die Klägerin nach. In der Folgezeit gewährte der Beklagte der Klägerin laufend Kindergeld für ihre Tochter.

Am 19. Januar 1999 rief die Klägerin bei dem Beklagten an, um sich über ihren Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter nach deren bevorstehenden 27. Geburtstag zu informieren. Daraufhin bat der Beklagte die Klägerin um Vorlage der Unterlagen betreffend die Geburt ihres Enkelkindes, Mutterschutzfrist der Tochter, Einkommen der Tochter und deren Ehemann sowie Erziehungsgeld für die Tochter. Er teilte weiter mit, dass nach Vollendung des 27. Lebensjahres kein Anspruch auf Kindergeld mehr bestehe. Die Klägerin reichte u.a. die Bescheide ihrer Tochter über die Bewilligung von Erziehungsgeld für die Zeit vom 2. Juli 1997 bis zum 1. Juli 1998 sowie für die Zeit vom 2. Juli 1998 bis zum 1. Juli 1999 ein.

Mit Bescheid vom 3. Mai 1999 hob der Beklagte gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter der Klägerin rückwirkend ab Oktober 1997 auf und forderte danach zuviel gezahltes Kindergeld in Höhe von 3 800 DM zurück.

Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglos durchgeführtem Einspruchsverfahren erhobenen Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1456 veröffentlichten Gründen insoweit statt, als es die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Monate April 1998 bis Februar 1999 aufhob. Im Übrigen wies es die Klage ab. Das FG war der Ansicht, dass einer Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes über den Monat März 1998 hinaus der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehe.

Mit seiner vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt der Beklagte die unrichtige Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben durch das FG. Diese kämen nur dann zur Anwendung, wenn das Vertrauen des Berechtigten durch ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in so hohem Maße schutzwürdig sei, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssten. Dies sei hier jedoch nicht der Fall.

Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin hat ebenfalls Revision eingelegt und beantragt, die Vorentscheidung, soweit die Klage abgewiesen wurde, sowie den angefochtenen Bescheid vom 3. Mai 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und ihr auch für die Zeit von Oktober 1997 bis März 1998 Kindergeld zu gewähren.

II.

Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung betreffend den Kindergeldanspruch der Klägerin für die Monate April 1998 bis Februar 1999 und zur Abweisung der Klage. Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

1. Der Klägerin stand ab Oktober 1997 für ihre Tochter kein Kindergeld mehr zu. Ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, wird gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es sich in Berufsausbildung befindet. Dabei zählen auch Unterbrechungszeiten wegen Mutterschaft insoweit zur Ausbildung, als sie die Fristen der §§ 3 Abs. 2 und 6 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) nicht überschreiten. Allerdings wird nach Auffassung der Verwaltung (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes --DA-FamEStG-- 63.3.2.7 Abs. 3 Satz 4, BStBl I 2002, 366, 369, 393) eine Studentin im Falle der Beurlaubung wegen Schwangerschaft für die Dauer des Semesters berücksichtigt, in dem die Entbindung zu erwarten ist, längstens bis zum Ende der Mutterschutzfrist. Nur wenn das Studium im darauffolgenden Semester fortgesetzt wird, wird die Zeit vom Ende der Mutterschutzfrist bis zum Semesterbeginn als Übergangszeit anerkannt. In allen anderen Fällen führt die Unterbrechung einer Berufsausbildung zwecks Betreuung eines eigenen Kindes jedoch dazu, dass das Kind nicht mehr gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für das Kindergeld berücksichtigungsfähig ist (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848). Der Senat folgt damit nicht der Ansicht, dass die Vorschrift verfassungskonform dahin gehend ausgelegt werden müsse, dass eine Unterbrechung der Berufsausbildung wegen Kindesbetreuung nicht zum Verlust des Kindergeldanspruchs führt, wenn das Kind die Absicht hat, die Ausbildung später fortzusetzen (so aber Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 32 Rz. 45, 30). Da die Tochter der Klägerin ihr Studium nach der Entbindung nicht fortsetzte und die Mutterschutzfrist nicht nach dem Ende des Semesters, in dem die Entbindung stattfand, endete, kommt eine Berücksichtigung der Tochter lediglich bis zum Ende des Sommersemesters 1997, also bis einschließlich September 1997 in Betracht. Davon gehen auch die Beteiligten sowie die Vorinstanz aus.

2. a) Der Beklagte war auch berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter der Klägerin gemäß § 70 Abs. 2 EStG mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben. Nach dieser Vorschrift ist bei einer für den Anspruch auf Kindergeld wesentlichen Änderung der Verhältnisse die Festsetzung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Die Behörde hat insoweit --anders als z.B. nach § 48 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) oder § 48 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X)-- keinen Ermessensspielraum (BFH-Beschluss vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98, BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231, unter II.1.c der Gründe, und Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81, unter 2.a.aa der Gründe); auf das Verschulden des Kindergeldberechtigten kommt es nicht an (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231). Hier liegt die Änderung der Verhältnisse in dem Umstand, dass die Tochter der Klägerin ihre Ausbildung mit der Geburt ihres eigenen Kindes abbrach.

b) Entgegen der Auffassung der Klägerin war der Gesetzgeber bei der Systemumstellung des Kindergeldrechts und dessen Übernahme in das Einkommensteuerrecht auch nicht gehalten, eine § 48 SGB X entsprechende Vorschrift in das System steuerlicher Änderungs- und Aufhebungsvorschriften aufzunehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juni 2000 VI B 82/00, BFH/NV 2000, 1447).

c) Für die von der Klägerin geäußerte Auffassung, dass § 70 Abs. 2 EStG eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nur zulasse, wenn der Kindergeldberechtigte seine Mitwirkungspflicht verletzt habe, findet sich in den Vorschriften der §§ 62 ff. EStG, insbesondere in den §§ 68 und 70 EStG, keine Grundlage.

3. a) Da aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes weggefallen war, konnte der Beklagte gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) das zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von 3 800 DM zurückfordern.

b) Der auch im Steuerrecht zu beachtende Grundsatz von Treu und Glauben steht dem nicht entgegen.

Hier käme als Ausprägung dieses Grundsatzes allein die Verwirkung des Rückforderungsanspruchs des Beklagten in Betracht. Es ist jedoch keine Verwirkung eingetreten.

aa) Verwirkung setzt voraus, dass sich der --hier zur Rückerstattung gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977-- Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf verlassen durfte und verlassen hat, dass dieser das Recht in Zukunft nicht geltend machen werde. Der Zeitablauf allein (das sog. Zeitmoment) reicht für die Annahme der Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs grundsätzlich nicht aus (BFH-Urteile vom 20. Juli 1988 I R 81/84, BFH/NV 1989, 78, 79; vom 24. Juni 1988 III R 177/85, BFH/NV 1989, 351, 352; vom 8. Oktober 1986 II R 167/84, BFHE 147, 409, BStBl II 1987, 12; vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, BStBl II 1984, 697, unter III.2. der Gründe; vom 29. Juli 1981 I R 62/77, BFHE 134, 264, BStBl II 1982, 107, unter I.2. der Gründe; vom 19. Dezember 1979 I R 23/79, BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368, unter 2. der Gründe). Hinzu kommen muss ein Verhalten des Berechtigten, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle (Umstandsmoment oder Vertrauenstatbestand, vgl. BFH-Urteile vom 21. Juli 1988 V R 97/83, BFH/NV 1989, 356, 359; in BFH/NV 1989, 351, 352; in BFHE 147, 409, BStBl II 1987, 12; vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780, unter 2.b der Gründe; vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121, unter 3.a der Gründe). Schließlich muss der Verpflichtete auch tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich entsprechend eingerichtet haben (Vertrauensfolge, vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1989, 351, 352; in BFH/NV 1989, 356, 359; in BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780, unter 2.b der Gründe; in BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121, unter 3.a der Gründe).

bb) Es kann offen bleiben, ob die zwischen Kenntniserlangung des Beklagten von den zur Rückforderung des Kindergeldes führenden Umständen und Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs verstrichene Zeitspanne ausreicht, um die Möglichkeit der Verwirkung des Anspruchs in Erwägung zu ziehen. Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin darauf vertraut hat, das erhaltene Kindergeld behalten zu dürfen, und entsprechend disponiert hat. Die Verwirkung des Rückforderungsanspruchs scheitert jedenfalls daran, dass es an einem Verhalten des Beklagten fehlt, welches für die Klägerin bei objektiver Auslegung den eindeutigen Schluss zuließ, dass ihr das zu Unrecht gezahlte Kindergeld für ihre Tochter belassen werde.

Der BFH hat bislang noch nicht entschieden, welches Verhalten auf Seiten der Behörde bei dem Kindergeldempfänger das Vertrauen begründen kann, dass zu Unrecht gezahltes Kindergeld nicht zurückgefordert werde. Er hat lediglich ausgesprochen, dass die Weiterzahlung des Kindergeldes allein insoweit als Vertrauenstatbestand nicht ausreiche (BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174; ebenso Niedersächsisches FG, Urteil vom 19. Juli 2001 10 K 435/98 Ki, EFG 2002, 31, 32). Daran hält der erkennende Senat fest. Hinzu kommen müssen besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Bei einem Massenverfahren wie im Kindergeldrecht ist dabei ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falles unter Berücksichtigung veränderter Umstände von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht.

An einem solchen Verhalten des Beklagten fehlt es im Streitfall. Insbesondere schaffte die Aufforderung an die Klägerin, eine Erklärung zu den Einkünften der Tochter abzugeben, keinen Vertrauenstatbestand zu ihren Gunsten. Diese Aufforderung zeigte vielmehr gerade, dass der Beklagte den Kindergeldanspruch der Klägerin noch überprüfte. Wenn damit aber deutlich wurde, dass über den Kindergeldanspruch noch nicht endgültig entschieden war, konnte aus der Sicht der Klägerin noch nicht als feststehend angenommen werden, dass sie das erhaltene Kindergeld werde behalten dürfen. Sonstige Indizien, die einen Vertrauenstatbestand zugunsten der Klägerin begründen könnten, sind von dieser nicht vorgetragen worden und auch aus dem Inhalt der Akten nicht ersichtlich.



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