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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 07.07.1998
Aktenzeichen: VIII R 84/96
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO
Vorschriften:
AO 1977 § 174 | |
AO 1977 § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a | |
FGO § 126 Abs. 3 Nr. 2 | |
FGO § 74 |
Gründe
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten, die im Streitjahr 1993 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte die Einkünfte des Klägers aus Kapitalvermögen höher als erklärt fest.
Wie zwischen den Beteiligten zwischenzeitlich unstreitig, wäre der erklärte Betrag zutreffend gewesen. Mit Schreiben vom 12. April 1995 --etwa vier Wochen nach Ablauf der Einspruchsfrist-- wandten sich die durch einen Steuerberater vertretenen Kläger an das FA, wiesen auf den Fehler hin und beantragten die Korrektur des Einkommensteuerbescheids gemäß § 174 der Abgabenordnung (AO 1977). Das FA lehnte den Erlaß eines Änderungsbescheids ab. Der Einspruch blieb erfolglos.
Mit der Klage begehrten die Kläger, das FA zu verpflichten, einen Änderungsbescheid mit zutreffenden Kapitaleinkünften zu erlassen. Das Finanzgericht (FG) wies die Beteiligten darauf hin, daß sie möglicherweise entscheidungserhebliche Gesichtspunkte übersehen hätten. Es komme in Betracht, das Schreiben vom 12. April 1995 anstatt als Antrag auf Erlaß eines Änderungsbescheids als Einspruch auszulegen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren. Daraufhin vertraten die Kläger mit Schreiben vom 17. November 1995 die Ansicht, sie hätten Einspruch eingelegt und beantragten, Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren und den Einkommensteuerbescheid 1993 zu ändern.
Die Klage hatte teilweise Erfolg. Das FG führte aus, jedenfalls das Schreiben der Kläger vom 17. November 1995 sei als Einspruch auszulegen und die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist seien gegeben. Deshalb sei beim FA noch ein unerledigtes Einspruchsverfahren anhängig. In dessen Rahmen müsse über die Korrektur des Einkommensteuerbescheids 1993 entschieden werden. Für ein Verfahren auf Erlaß eines Änderungsbescheids sei neben dem Einspruchsverfahren kein Raum. Als Rechtsfolge sei einerseits der Antrag der Kläger auf Erlaß eines Änderungsbescheids abzulehnen, andererseits aber auch die Einspruchsentscheidung des FA und der zugrundeliegende Verwaltungsakt aufzuheben.
Mit der Revision macht das FA einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens geltend. Das FG habe das Verfahren bis zur Entscheidung des vorrangigen Einspruchsverfahrens aussetzen müssen. Es sei ein Verfahrensfehler, wenn es Steuerpflichtigen gestattet würde, das FA über die Pflicht zum Erlaß eines Änderungsbescheids aus dem Gerichtsverfahren zu drängen, indem sie während des Verfahrens Einspruch in Verbindung mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einlegten.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hätte das Verfahren nach § 74 FGO bis zur unanfechtbaren Entscheidung über den streitigen Einspruch gegen den angegriffenen Einkommensteuerbescheid aussetzen müssen.
1. Nach § 74 FGO kann das Gericht ein Verfahren aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist.
a) Voraussetzung einer Verfahrensaussetzung ist mithin die Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung. Von der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt ist, unter welchen Umständen jeweils die Vorgreiflichkeit zu bejahen ist (zur Problematik s. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 74 Rz. 2). Jedenfalls muß die vorgreifliche Entscheidung nicht bindend für das auszusetzende Verfahren sein. Es genügt, wenn die im anderen Verfahren zu erwartende Entscheidungen einen rechtlich erheblichen Einfluß auf die Entscheidung im auszusetzenden Verfahren hat, z.B. weil dasselbe Rechtsverhältnis betroffen ist und die Entscheidungen rechtslogisch miteinander verknüpft sind (vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43; vom 9. Oktober 1991 II B 115/91, BFH/NV 1992, 125; vom 25. Januar 1994 VIII B 103/93, BFH/NV 1994, 726, und vom 21. November 1996 IX B 86/96, BFH/NV 1997, 365). Eine derartige Verknüpfung liegt z.B. vor, wenn im anderen Verfahren eine Frage entschieden wird, die im auszusetzenden Verfahren als Vorfrage zu beantworten ist und nur eine einheitliche Entscheidung zutreffend sein kann. Dabei muß die Frage nicht die materielle Sachentscheidung betreffen. Es reicht aus, wenn das vorgreifliche Verfahren Sachentscheidungsvoraussetzungen klärt.
b) Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens ist eine Ermessensentscheidung. Das FG muß bei seiner Ermessensausübung prozeßökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abwägen. Sprechen alle Erwägungen ausschließlich oder doch ganz überwiegend für die Aussetzung des Verfahrens, so ist das Ermessen des FG in dem Sinne reduziert, daß das Streitverfahren ausgesetzt werden muß (vgl. BFH-Entscheidungen vom 18. Juli 1990 I R 12/90, BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986; vom 14. Juli 1992 V R 91/85, BFH/NV 1995, 836; vom 20. Juli 1994 I B 200/93, BFH/NV 1995, 401, und vom 26. Februar 1996 V B 81/95, BFH/NV 1996, 571).
War das FG zur Aussetzung verpflichtet, so liegt nach ständiger Rechtsprechung ein von Amts wegen zu beachtender Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens (Verfahrensfehler) vor, wenn es dennoch eine Sachentscheidung trifft (vgl. BFH-Entscheidungen vom 12. November 1985 IX R 85/82, BFHE 145, 308, BStBl II 1986, 239; vom 8. Mai 1991 I B 132, 134/90, BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641; vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797, und vom 17. März 1997 VIII B 45/96, BFH/NV 1997, 857). Eine Verletzung des § 74 FGO ist darüber hinaus auch dann gegeben, wenn das FG zwar nicht zwingend aussetzen muß, sein Ermessen aber fehlerhaft ausübt. Ein solcher Ermessensfehler liegt offensichtlich vor, wenn das FG sein Ermessen überhaupt nicht ausübt (Ermessensunterschreitung). In solchen Fällen kann es allerdings erforderlich sein, daß die Aussetzung im finanzgerichtlichen Verfahren beantragt oder angeregt wird, für das FG also erkennbar ist, daß eine ausdrückliche Entscheidung der Frage begehrt wird (vgl. Beschluß vom 27. April 1995 VII B 17/95, BFH/NV 1995, 915).
2. Im Streitfall hätte das FG nicht in der Sache entscheiden dürfen. Nach dem bei der Prüfung eines Verfahrensmangels ausschlaggebenden materiell-rechtlichen Standpunkt des FG (vgl. Gräber, a.a.O., § 120 Rz. 39) war vielmehr die Aussetzung des Verfahrens geboten.
a) Die Voraussetzungen des § 74 FGO für eine Verfahrensaussetzung liegen vor.
Die Entscheidung des FG beruht auf der Rechtsansicht, daß ein gegen einen Steuerbescheid anhängiges Einspruchsverfahren Vorrang vor einem Verfahren auf Erlaß eines Änderungsbescheids hat. Danach ist über die Höhe der Einkommensteuer ausschließlich im Einspruchsverfahren zu entscheiden. Ein während des Einspruchsverfahrens gestellter Antrag auf Erlaß eines Änderungsbescheids nach § 174 AO 1977 führt nicht zu einem gesonderten (Neben-)Verfahren. Vielmehr ist über die vorgetragenen Gründe zur Höhe der Einkommensteuer im Einspruchsverfahren mit zu entscheiden. Verwaltungsakte des FA, die außerhalb der Einspruchsentscheidung zu einem Antrag auf Erlaß eines Änderungsbescheids ergehen, sind ohne Sachprüfung aufzuheben. Ebenso ist eine Verpflichtungsklage auf Erlaß eines Änderungsbescheids ohne Sachprüfung abzuweisen (vgl. Senatsurteil vom 27. September 1994 VIII R 36/89, BFHE 176, 289, BStBl II 1995, 353 betreffend einen Antrag auf schlichte Änderung des Steuerbescheids nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977).
Bei diesem materiell-rechtlichen Standpunkt war das Ergebnis des nach Ansicht des FG anhängigen Einspruchsverfahrens für die Entscheidung des Streitfalls vorgreiflich. War der verspätete Einspruch zulässig, so mußte es ohne Sachprüfung den Verpflichtungsantrag der Kläger abweisen und den die Änderung des Bescheids ablehnenden (eigenständigen) Verwaltungsakt des FA sowie die bestätigende Einspruchsentscheidung aufheben. War dagegen der Einspruch unzulässig und eine Sachprüfung im Einspruchsverfahren ausgeschlossen, so hätte über das Begehren der Kläger und die ablehnenden Bescheide in der Sache entschieden werden müssen.
b) Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen dem Einspruchsverfahren und dem Streitverfahren war eine Ermessensentscheidung des FG über die Aussetzung von Amts wegen geboten (vgl. Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Rz. 3 c). Zum einen drängte sich dem FG --anders als in BFH/NV 1995, 915-- die Aussetzung aufgrund seiner Entscheidungsbegründung und dem Streit über die Anhängigkeit eines zulässigen Einspruchsverfahrens auf. Zum anderen bestand für das FA keine Veranlassung, die Aussetzung zu beantragen oder die Fortführung des Verfahrens durch das FG zu rügen, denn nach seiner im Verfahren vertretenen Ansicht lagen die Aussetzungsvoraussetzungen nicht vor. Rein vorsorgliche Anträge können nicht verlangt werden. Die Verletzung des § 74 FGO liegt im Streitfall somit bereits darin, daß das FG weder in einem gesonderten Beschluß noch im angefochtenen Urteil über die Frage der Aussetzung entschieden hat, mithin die gebotene Ermessensausübung vollständig fehlt.
Im zweiten Rechtsgang wird das FG das Verfahren aussetzen, denn dies entspricht sowohl den objektiven Interessen der Kläger, als auch den Interessen des FA. Aus den Schriftsätzen ergibt sich, daß nach der Rechtsansicht des FA von keinem --jedenfalls von keinem zulässigen-- Einspruch der Kläger auszugehen ist. Hieran hat das FA auch unter Berücksichtigung der angefochtenen Entscheidung festgehalten. Es ist folglich nicht damit zu rechnen, daß das FA im Einspruchsverfahren sachlich über das Begehren der Kläger entscheidet. Der Erfolg einer evtl. Anfechtungsklage kann in diesem Verfahren nicht beurteilt werden (vgl. BFH-Urteil vom 22. Oktober 1996 III R 46/96, BFH/NV 1997, 573, das im Falle einer Bescheidänderung die Aussetzung auch dann verlangt, wenn der Ausgang des anderen Verfahrens nach Ansicht des FG offensichtlich ist). Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß nach Abschluß des Einspruchsverfahrens noch eine Sachentscheidung im Streitverfahren notwendig werden wird. Bei dieser Sachlage ist es keinem der jeweils teilweise unterliegenden Beteiligten zumutbar, kostenpflichtig aus dem Verfahren gedrängt zu werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß der (angebliche) Grund für die Erfolglosigkeit des Streitverfahrens (zulässiger Einspruch vom 17. November 1995) erst nach der Klageerhebung entstanden ist.
Ende der Entscheidung
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