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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.06.2004
Aktenzeichen: VIII R 93/03
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 4
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a
EStG § 70 Abs. 2
AO 1977 § 37 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Stiefvater der 1975 geborenen A. A befand sich während des gesamten Streitjahres 1999 in einer Ausbildung (Studium). Neben dem Studium ging A einer nichtselbständigen Tätigkeit nach.

Der Kläger bezog für A laufend Kindergeld. Im April 2000 reichte er für A eine Erklärung zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes ein. Danach erzielte A Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 20 690 DM. Als Werbungskosten waren u.a. Kosten einer doppelten Haushaltsführung der A in Höhe von 6 945 DM angesetzt. Im September 2001 forderte der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) den Kläger auf, Nachweise über die Einkünfte der A für die Jahre 1999 und 2000 einzureichen. In der Folgezeit forderte er Unterlagen über die Einkünfte der A für das Jahr 2000 an. Der Kläger kam diesen Aufforderungen jeweils nach.

Mit Bescheid vom 13. Februar 2003 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für A ab Januar 1999 gemäß § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wegen Überschreitens des Jahresgrenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG auf und forderte gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) das für das Jahr 1999 gezahlte Kindergeld in Höhe von umgerechnet 1 533,88 € zurück. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 314 abgedruckten Gründen statt.

Mit seiner Revision macht der Beklagte einen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 AO 1977 geltend. Er ist der Auffassung, dass er den Anspruch auf Rückzahlung des Kindergeldes nicht verwirkt habe, weil er einen Vertrauenstatbestand nicht gesetzt habe.

Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Dem Kläger stand für das Jahr 1999 kein Kindergeld für A zu. Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Satz 2 EStG wird ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, für das Kindergeld nur dann berücksichtigt, wenn es sich in einer Ausbildung befindet und eigene Einkünfte und Bezüge von --in der im Streitjahr geltenden Gesetzesfassung-- nicht mehr als 13 020 DM im Jahr hat. A befand sich während des gesamten Jahres 1999 in der Ausbildung. Ihre Einkünfte und Bezüge in diesem Jahr überschritten jedoch den Grenzbetrag von 13 020 DM. Die Kosten der doppelten Haushaltsführung waren, wie die Vorinstanz im Ergebnis zutreffend entschieden hat, insoweit weder als ausbildungsbedingter Mehrbedarf noch als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen, weil A nicht über einen eigenen Hausstand verfügte (vgl. zur Abzugsfähigkeit als ausbildungsbedingter Mehrbedarf insoweit Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/00, BFH/NV 2001, 1558).

2. Der Beklagte war danach berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter des Klägers gemäß § 70 Abs. 2 EStG mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben. Nach dieser Vorschrift ist die Kindergeldfestsetzung u.a. dann aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 25. Februar 2003 VIII R 26/02, BFH/NV 2003, 1158). Hier wurde dem Beklagten die Höhe der Einkünfte der A frühestens durch die im April 2000 eingereichte Erklärung zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes, also nachträglich, bekannt.

3. a) Da aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes weggefallen war, konnte der Beklagte gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 das zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von umgerechnet 1 533,88 € zurückfordern.

b) Der auch im Steuerrecht Geltung beanspruchende Grundsatz von Treu und Glauben steht dem nicht entgegen.

aa) Hier käme als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben allein die Verwirkung des Rückforderungsanspruchs des Beklagten in Betracht. Es ist jedoch keine Verwirkung eingetreten. Verwirkung setzt voraus, dass sich der --hier zur Rückerstattung gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977-- Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf verlassen durfte und verlassen hat, dass dieser das Recht in Zukunft nicht geltend machen werde. Der Zeitablauf allein (das sog. Zeitmoment) reicht für die Annahme der Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs jedoch grundsätzlich nicht aus. Hinzu kommen muss ein Verhalten des Berechtigten, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle (Umstandsmoment oder Vertrauenstatbestand). Schließlich muss der Verpflichtete auch tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich entsprechend eingerichtet haben (zum Ganzen vgl. BFH-Urteil vom 14. Oktober 2003 VIII R 56/01, BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123, m.w.N.).

bb) Es kann offen bleiben, ob die zwischen Kenntniserlangung des Beklagten von der Höhe der Einkünfte und Bezüge der A im Streitjahr und Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs verstrichene Zeitspanne ausreicht, um die Möglichkeit der Verwirkung des Anspruchs in Erwägung zu ziehen. Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger darauf vertraut hat, das erhaltene Kindergeld behalten zu dürfen, und entsprechend disponiert hat. Die Verwirkung des Rückforderungsanspruchs scheitert jedenfalls daran, dass es an einem Verhalten des Beklagten fehlt, welches für den Kläger bei objektiver Auslegung den eindeutigen Schluss zuließ, dass ihm das für A zu Unrecht gezahlte Kindergeld belassen werde.

Die Weiterzahlung des Kindergeldes allein ist kein Vertrauenstatbestand, der zur Verwirkung des Rückforderungsanspruchs führen könnte (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174; in BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123). Hinzu kommen müssen besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Bei einem Massenverfahren wie im Kindergeldrecht ist dabei ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falles unter Berücksichtigung veränderter Umstände von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht, und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht (BFH-Urteil in BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123).

An einem solchen Verhalten des Beklagten fehlt es im Streitfall. Die im September 2001 geäußerte Bitte des Beklagten, Nachweise über die Einkünfte der A für 1999 und 2000 beizubringen, musste für den Kläger deutlich machen, dass die Kindergeldberechtigung für beide Jahre noch nicht abschließend geprüft war. Auch die von der Vorinstanz als maßgeblich angesehenen späteren Anfragen des Beklagten an den Kläger hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge der A für das Jahr 2000 ließen nicht mit der erforderlichen Sicherheit darauf schließen, dass die Prüfung der Kindergeldberechtigung für das Jahr 1999 bereits mit positivem Ergebnis abgeschlossen sei. In der Praxis der Familienkassen kommt es nach der Erfahrung des erkennenden Senats vielmehr häufig vor, dass die Prüfung der Kindergeldberechtigung für verschiedene Kalenderjahre nicht chronologisch abgeschichtet wird, sondern mit gegenseitigen Überschneidungen geschieht. Wenn sich die Bearbeitung eines Kalenderjahres länger hinzieht, ist es der Familienkasse unbenommen --und für den Kindergeldberechtigten auch von Vorteil--, die Bearbeitung mehrerer Jahre zu verbinden bzw. bereits die Bearbeitung der Folgejahre zu betreiben, ohne dass ein Vertrauenstatbestand hinsichtlich der noch nicht abschließend geprüften Vorjahre entsteht. Sonstige Indizien, die einen Vertrauenstatbestand zugunsten des Klägers begründen könnten, sind weder vorgetragen worden noch aus dem Inhalt der Akten ersichtlich.



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