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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 22.05.2006
Aktenzeichen: X B 190/05
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO
Vorschriften:
AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1 | |
AO 1977 § 122 Abs. 2 2. Halbsatz | |
FGO § 76 Abs. 1 | |
FGO § 96 Abs. 1 | |
FGO § 116 Abs. 6 |
Gründe:
I. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) erließ gegen den Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) unter dem Datum vom 29. Juli 2003 Einkommensteuerbescheide für 1997 bis 2000. Diese Bescheide wurden maschinell erteilt. Nach dem unstreitigen Vorbringen des FA wird hierbei in der Weise vorgegangen, dass der Veranlagungsbezirk des FA die Daten erfasst, welche vom Rechenzentrum verarbeitet werden. Das Rechenzentrum druckt auf dem jeweiligen Steuerbescheid als Datum den Tag aus, der dem Verarbeitungsdatum zuzüglich von sieben Arbeitstagen entspricht. Die so erstellten Steuerbescheide kommen anschließend an den Veranlagungsbezirk des FA zurück. Dort erfolgt --soweit erforderlich-- eine weitere Bearbeitung. Anschließend gibt der Veranlagungsbezirk die Bescheide kuvertiert in die Poststelle des FA zum Versand. Einen Tag vor dem auf dem jeweiligen Bescheid aufgedruckten Datum leitet die Poststelle des FA die Bescheide an die zentrale Versendestelle der X... zum Versand an die Bescheidempfänger weiter.
Gegen die Bescheide vom 29. Juli 2003 legte der Kläger mit Schreiben vom 3. September 2003 Einspruch ein. Diese Einsprüche verwarf das FA durch die Einspruchsentscheidung vom 4. Dezember 2003 als unzulässig.
Mit seiner hiergegen rechtzeitig erhobenen Klage macht der Kläger geltend, die Einspruchsfrist sei jeweils eingehalten. Hierzu trug er --zuletzt-- unter Hinweis auf eine von ihm im finanzgerichtlichen Verfahren abgegebene eidesstattliche Versicherung vom 17. Oktober 2003 vor, die streitigen Bescheide seien ihm am 29. August 2003 von einem Mitarbeiter der Post auf seinem Grundstück übergeben worden. Auch berief sich der Kläger auf den Inhalt einer von seiner Lebensgefährtin und deren Sohn abgegebenen eidesstattlichen Versicherung vom 15. März 2004. In dieser wird ausgeführt, dass der Kläger am 29. August 2003 einen Briefumschlag erhalten und geöffnet habe. Der Kläger habe in diesem Zusammenhang seiner Lebensgefährtin mitgeteilt, es handele sich um ein Schreiben des FA.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) erläuterte der Vertreter des FA die Verwaltungspraxis zur Versendung maschinell erstellter Bescheide. Auf Befragen durch das Gericht gab er an, zu welchem Zeitpunkt die streitigen Bescheide zur Post aufgegeben worden seien, könne er nicht konkret benennen.
Durch Zwischenurteil vom 18. August 2005 stellte das FG fest, dass der Kläger gegen die streitigen Bescheide innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist Einspruch eingelegt habe. Voraussetzung für die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei, dass das Datum feststehe, an dem der Bescheid zur Post aufgegeben wurde. Dieses Datum sei in den Akten nicht festgehalten worden. Es sei nicht geklärt und auch nicht mehr aufklärbar, wann der jeweilige Bescheid durch die X... zur Post aufgegeben worden sei. Es verbleibe daher bei § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977, wonach die Behörde im Zweifel den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs des Verwaltungsakts nachzuweisen habe. Unklarheiten in dieser Frage gingen zu Lasten der Behörde.
Mit seiner wegen der Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht das FA u.a. geltend, das Urteil des FG beruhe auf einem Verfahrensfehler. Das FG habe § 76 Abs. 1 und § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verletzt. Eine Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast sei nur dann zu treffen, wenn eine nicht behebbare Ungewissheit vorliege und sich das FG deshalb keine Überzeugung über den tatsächlichen Geschehensablauf bilden könne. Das FG müsse sich daher zuvor im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel um die Aufklärung der entscheidungserheblichen Tatsachen bemühen. Das FG habe versäumt, eine Auskunft der X... darüber einzuholen, wann die streitigen Bescheide zur Post aufgegeben worden sind. Denn die Versendung der Bescheide erfolge durch die X... Für außerhalb seiner Sphäre liegende Beweismittel habe das FA keine Beschaffungspflicht.
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 FGO). Der vom FA gerügte Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt vor. Denn das FG hat die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) dadurch verletzt, dass es nicht ermittelt hat, wann die streitigen Bescheide zur Post aufgegeben worden sind.
1. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt dann vor, wenn das FG keine Ermittlungen zu einem tatsächlichen Geschehen anstellt, auf das es unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung ankommt, wenn sich solche Ermittlungen dem FG aufdrängen mussten. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.
a) Das FG ist in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 nur dann eingreift, wenn feststeht, wann die mit einfachem Brief übersandten Steuerbescheide tatsächlich zur Post aufgegeben worden sind (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22. Mai 2002 VIII R 53/00, BFH/NV 2002, 1417; zum Nachweis des Zeitpunkts der Aufgabe zur Post bei maschineller Bescheidsausfertigung vgl. Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 122 AO Tz. 59, mit weiterführenden Hinweisen). Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger behauptet, die streitigen Bescheide nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 erhalten zu haben, sofern die Bescheide tatsächlich zu dem Zeitpunkt, der auf diesem als Bescheidsdatum jeweils aufgedruckt ist, zur Post aufgegeben worden sein sollten. Bestreitet ein Steuerpflichtiger nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern macht er geltend, es nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist erhalten zu haben, dann sind, sofern der Tag der Aufgabe zur Post feststeht, der Sachverhalt unter Berücksichtigung des substantiierten Vorbringens des Steuerpflichtigen über den Zugang des Schriftstücks aufzuklären und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO gegeneinander abzuwägen (BFH-Beschluss vom 20. August 1992 VI B 99/91, BFH/NV 1993, 75). Ermittlungen zum Zeitpunkt der Aufgabe der angefochtenen Bescheide zur Post waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil in den Akten des FA der jeweilige Aufgabezeitpunkt nicht festgehalten ist. Denn das Gesetz schreibt nicht vor, dass der Aufgabetag aktenkundig zu machen ist (Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 122 AO Tz. 59).
b) Dem FG musste sich aufdrängen, dass es im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht insbesondere gehalten war, Erkundigungen bei der X..., also der Stelle einzuholen, welche für die Aufgabe der Steuerbescheide zur Post verantwortlich war. Denn vornehmlich bei dieser Stelle können ggf. Erkenntnisse zum Ablauf des Versendeverfahrens und insbesondere dazu erlangt werden, ob und auf welche Weise sichergestellt ist, dass Bescheide zu dem Zeitpunkt, der auf dem Bescheid als Datum aufgedruckt wird, auch tatsächlich zur Post aufgegeben werden. Außerdem wird das FG ggf. ermitteln müssen, auf welche Weise gewährleistet war, dass die zur Versendung vorgesehenen Bescheide fristgerecht --d.h. einen Tag vor dem aufgedruckten Datum der betreffenden Bescheide-- an die X... geleitet wurden. Das FG war nicht berechtigt, stattdessen eine Beweislastentscheidung zum Nachteil des FA unter Hinweis darauf treffen, der jeweilige Aufgabezeitpunkt sei nicht aufklärbar.
Soweit sich das FG in diesem Zusammenhang auf die Erklärung des Vertreters des FA in der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2005 gestützt hat, wonach er das Datum der Aufgabe zur Post nicht konkret benennen könne, ist dieser Vortrag nicht in dem Sinne zu verstehen, dass eine Aufklärung nicht möglich ist. Vielmehr wird nur zum Ausdruck gebracht, dass dem nicht selbst mit der Postversendung befassten FA keine konkreten Erkenntnisse zum Aufgabezeitpunkt vorliegen.
2. Der erkennende Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, um es dem FG zu ermöglichen, die notwendigen Ermittlungen nachzuholen.
Ende der Entscheidung
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