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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 26.02.2002
Aktenzeichen: X R 59/98
Rechtsgebiete: AO 1977


Vorschriften:

AO 1977 § 174 Abs. 4
Hat das FA aufgrund eines Rechtsbehelfs einen Steuerbescheid unter Anwendung einer dem Steuerpflichtigen günstigeren Schätzungsmethode geändert und führt diese Schätzungsmethode in anderen Veranlagungszeiträumen zu einer höheren Steuer, können die für letztere Zeiträume ergangenen bestandskräftigen Bescheide nicht auf der Rechtsgrundalge des § 174 Abs. 4 AO 1977 mit der Begründung geändert werden, sie seien aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ergangen.
Gründe:

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb seit 1977 ein Textileinzelhandelsgeschäft in A. Im August/September desselben Jahres eröffnete er eine Filiale in R, die er 1985 wieder aufgab, und im April 1979 in A eine Verkaufsabteilung "Shop", die Ende 1979 wieder eingestellt wurde. Außerdem kaufte er unter der Firma "L" im Jahr 1981 in Italien Hosen ein, die zum Teil über Vertreter, zum Teil als Kommissionsware vertrieben wurden.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) hatte zunächst 1981 für die Jahre 1977 bis 1979 beim Kläger eine Außenprüfung durchgeführt und war im Anschluss hieran aufgrund einer Gesamtgeldverkehrsrechnung zu einem ungeklärten Fehlbetrag von "etwa 80 000 DM" (1977: 30 000 DM; 1978: 25 000 DM; 1979: 25 000 DM) gekommen und hatte die hiervon betroffenen Bescheide entsprechend geändert. Während des anschließenden Rechtsbehelfsverfahrens, zwischen 31. Mai 1983 und 27. März 1984, hatte das FA außerdem (mit Unterbrechungen) eine Steuerfahndungsprüfung für die Jahre 1977 bis 1982 beim Kläger durchgeführt, in deren Verlauf der Prüfer mit Hilfe eines Gesamtvermögensvergleichs für den Prüfungszeitraum erhebliche Einnahmeverkürzungen ermittelte. Daraufhin erließ das FA am 11. Mai 1984 entsprechend geänderte Gewinnfeststellungsbescheide für 1977 bis 1982, Umsatzsteuerbescheide für den gleichen Zeitraum sowie am 30. Mai 1984 geänderte Gewerbesteuermessbescheide für 1977 sowie für 1979 bis 1982.

Die hiergegen eingelegten Einsprüche hatten nur für das Jahr 1982 teilweise Erfolg.

Im anschließenden Klageverfahren schaltete das Finanzgericht (FG) einen Sachverständigen (S) ein, der neben einem Gesamtvermögensvergleich auch eine Nachkalkulation (eine Schätzung nach dem inneren Betriebsvergleich) durchführte mit der Begründung, eine Nachkalkulation schließe einen erheblichen Teil möglicher Fehlerquellen aus und komme der Wirklichkeit am nächsten (Gutachten vom 19. Dezember 1986). In einem Ergänzungsgutachten vom 30. März 1989 stellte er fest, die Buchführung sei nicht ordnungsgemäß, führte u.a. eine Aufschlagsrechnung durch und ermittelte erhebliche Fehlbeträge. In dem dieses Verfahren abschließenden Urteil vom 1. August 1989 2 K 2343/84 wies das FG die Klage wegen der Gewerbesteuermessbeträge 1978 und 1979 als unzulässig ab. Im Übrigen kam das FG im Wesentlichen zu folgendem Ergebnis: Für die Streitjahre 1977 und 1982 sei die Klage hinsichtlich der gesonderten Feststellungen der Einkünfte aus Gewerbebetrieb, der Umsatzsteuer und des Gewerbesteuermessbetrages zum Teil begründet. Dabei schloss es sich der Schätzungsmethode des Prüfers S an (innerer Betriebsvergleich, Nachkalkulation), die es erlaubt habe, weitgehend auf die vorliegenden Unterlagen zurückzugreifen, während die Vermögenszuwachsrechnung demgegenüber erhebliche Unsicherheiten aufweise. Die Aufschlagsrechnung trage auch den Besonderheiten des Gewerbebetriebs des Klägers besser Rechnung. Das FG folgte dem Gutachten des S auch darin, dass die Abschläge bezüglich der Warenbestände und der Warenbewertung entsprechend den ermittelten tatsächlichen Rohgewinnaufschlagsätzen vorzunehmen seien. Im Hinblick darauf, dass sich aus den Berechnungen des S höhere Gewinne aus Gewerbebetrieb ergaben als das FA in den angefochtenen Bescheiden angesetzt hatte, wies es die Klage im Übrigen (d.h. soweit es sie nicht als unzulässig angesehen hatte) als unbegründet ab.

Daraufhin erließ das FA am 10. Mai 1990 unter Berufung auf § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Gewinnfeststellungsbescheide für die Jahre 1978 bis 1981 und 1983, in dem es die Gewinne für 1978 um 14 077 DM, für 1979 um 47 160 DM, für 1980 um 27 262 DM, für 1981 um 40 959 DM und für 1983 um 66 375 DM erhöhte.

Die dieser Korrektur zugrunde liegenden Hinzuschätzungen ergaben sich aus den beiden Gutachten des S.

Außerdem hatten die auf diese Weise geänderten Gewinne zur Folge, dass das FA die Gewerbesteuermessbescheide entsprechend änderte, und zwar am 29. Mai 1990 für 1978 (Erhöhung des Messbetrags um 947 DM) und 1980 (Erhöhung um 4 553 DM), am 6. Juni 1990 für 1981 (5 456 DM) und am 25. Juni 1990 für 1983 (2 680 DM).

Entsprechende Änderungen ergaben sich (bei jeweils gleichem Aufteilungsmaßstab) gegenüber den Vorbescheiden für die Zerlegung der verschiedenen Gewerbesteuermessbeträge in den Bescheiden vom 29. Mai 1990 für 1978 und 1980 und vom 12. Juli 1990 für 1983.

Schließlich erhöhte das FA, ebenfalls in Auswertung der Gutachten vom 19. Dezember 1986 bzw. 30. März 1989, auch die Umsätze für die Streitjahre (für 1978 um 13 825 DM, für 1980 um 27 262 DM und für 1981 um 40 959 DM) und erließ am 29. Mai 1990 entsprechende Umsatzsteueränderungsbescheide.

Die gegen sämtliche Änderungsbescheide eingelegten Rechtsbehelfe des Klägers wies das FA durch Einspruchsentscheidungen vom 24. Oktober 1991 als unbegründet zurück.

Der hiergegen gerichteten, auf Aufhebung der Korrekturbescheide zielenden Klage gab das FG statt, indem es durchweg die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 AO 1977 verneinte, und zwar im Wesentlichen mit folgender Begründung:

Es fehle schon an der irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts durch das FA. Dieses habe in den Ausgangsbescheiden für 1977 und 1982 einen Sachverhalt, nämlich die beim Handel mit Bekleidung erzielten Gewinne und Umsätze nicht irrig, sondern aufgrund einer anderen Schätzungsmethode (Geldverkehrsrechnung statt Nachkalkulation) anders beurteilt. Außerdem entsprächen die Sachverhalte, die das FA für die Jahre 1977 und 1982 beurteilt habe, nicht den Sachverhalten, die den steuerrechtlichen Beurteilungen für die Jahre 1978 bis 1981 und 1983 in den angefochtenen Bescheiden zugrunde lägen. Die vom FA im Wege der Geldverkehrsrechnung für Wareneinkauf und Warenverkauf ermittelten Beträge seien für jedes Kalenderjahr gesondert zu betrachten. Insoweit handele es sich insgesamt nicht um einen einheitlichen Lebenssachverhalt, der sich über die Jahre 1977 bis 1983 erstrecke und dessen geänderte Beurteilung für die Jahre 1977 und 1982 auch eine Änderung hinsichtlich der nicht in diesen Zeitraum fallenden Geschehensabläufe rechtfertigen würde. Dies sei mit den Grundsätzen der periodengerechten Gewinnermittlung (§ 4a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) und denen der Abschnittsbesteuerung, für die jeweils das in Frage stehende Kalenderjahr die zeitliche Begrenzung liefere, nicht vereinbar.

Zudem ermögliche § 174 AO 1977 nicht jede Anpassung, vielmehr müsse sich die Rechtswidrigkeit der anderen Steuerfestsetzungen im Sinne dieser Vorschrift zwangsläufig aus der irrigen Beurteilung des Sachverhalts im ersten Bescheid ergeben. Beruhe --wie hier-- die richtige steuerliche Schlussfolgerung in dem anderen Bescheid nicht auf der Beurteilung des bestimmten Sachverhalts im Ausgangsverfahren, sondern auf anderen im Einzelfall möglicherweise mittelbar aus dieser Beurteilung gewonnenen Erkenntnissen, so sei der Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht verwirklicht. Die in sämtlichen Fällen gebotene zeitliche Begrenzung der in Frage stehenden Vorgänge auf das jeweilige Kalenderjahr finde auch darin ihre Bestätigung, dass der Gutachter die Aufschlagsätze für jeden Zeitraum getrennt ermittelt und hieraus die entsprechenden Folgerungen gezogen habe.

Auch den Bescheiden 1977 und 1982 liege kein Irrtum des FA hinsichtlich bestimmter Verkaufsvorgänge zugrunde. Vielmehr sei es auch insoweit im Wege der Schätzung von anderen Lebensvorgängen ausgegangen.

Auch aus § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 seien die angefochtenen Bescheide nicht zu rechtfertigen, weil ihnen nur ein Wechsel in der Schätzungsmethode, nicht aber eine nachträglich bekannt gewordene Schätzungsunterlage zugrunde liege.

Für 1983 scheitere eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 schon am Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977).

Die Revision begründet das FA im Wesentlichen wie folgt:

Die Ermittlung konkreter Umsätze und Gewinne für die einzelnen Streitjahre scheitere hier daran, dass die Buchführung des Klägers weder formell noch materiell ordnungsgemäß gewesen sei. Einigkeit habe zwischen FG und FA darin bestanden, dass man Gewinne und Umsätze nur durch eine Schätzung annähernd zutreffend ermitteln könne. Uneinigkeit habe lediglich hinsichtlich der Schätzungsmethode bestanden. Diese sei schließlich für alle Streitjahre einheitlich aufgrund einer Gesamtbeurteilung der streitbefangenen Jahre vorgenommen worden. Für die Entscheidungsfindung hätten FA wie FG dieselben von der Steuerfahndungsstelle beschlagnahmten Unterlagen zur Verfügung gestanden. Schon in der fehlerhaften Wahl einer bestimmten Schätzungsmethode sei eine irrige Beurteilung i.S. des § 174 Abs. 4 AO 1977 zu sehen. Billige der Kläger die vom FG gewählte Schätzungsmethode, müsse er diese Schätzungsmethode auch in den Jahren gegen sich gelten lassen, in denen sie sich für ihn nachteilig auswirke.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Recht hat das FG der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

1. Zutreffend hat das FG die Voraussetzung des § 174 Abs. 4 AO 1977, auf den die angefochtenen Bescheide ausschließlich gestützt sind, verneint.

Diese Vorschrift erlaubt es für den Fall, dass aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgen zu ziehen (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977). Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO 1977).

Insoweit ist der Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 169 AO 1977) unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977). Dies allerdings gilt, wenn die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war, als der später aufgehobene oder geänderte Bescheid erlassen wurde, nur unter den erschwerenden Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 (§ 174 Abs. 4 Satz 4 AO 1977), d.h. nur dann, wenn ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt würde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Dieser Grundtatbestand ist hier nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) tatsächlichen Feststellungen des FG in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.

a) Soweit Bescheide für die Jahre 1978 bis 1981 schon Gegenstand des ersten FG-Verfahrens (2 K 2343/84) waren, ist der Korrekturtatbestand des § 174 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 AO 1977 schon deshalb nicht erfüllt, weil die Klagen insoweit, aus welchen Gründen auch immer, letztlich erfolglos geblieben sind, es also schon aus diesem Grunde nicht in Frage steht, dass der Kläger gehalten ist, irgendwelche Folgerungen hieraus für andere Bescheide hinzunehmen. Insoweit fehlt es schon an dem nach dem Wortlaut und der Zwecksetzung der Vorschrift unerlässlichen Merkmal eines durch den Rechtsuchenden ausgelösten Widerstreits (s. dazu näher: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Rz. 39 ff.; BTDrucks VI/1982, 153, 154, rechte Spalte Mitte; vgl. auch Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647, unter B. 2. c, sowie vom 4. April 2001 XI R 59/00, BFHE 195, 286, BStBl II 2001, 564).

b) Unabhängig hiervon ist für keinen der angefochtenen Bescheide das unerlässliche Merkmal der irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts erfüllt. Der einzige Korrekturgrund, den das FA hinsichtlich aller angefochtenen Bescheide für sich in Anspruch nimmt und nehmen kann, nämlich die Änderung der Schätzungsmethode, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.

aa) Insoweit kann schon nicht von einem "Sachverhalt" gesprochen werden. Auch wenn man mit der BFH-Rechtsprechung und der herrschenden Meinung hierunter nicht eine einzelne Tatsache versteht, sondern einen einheitlichen Lebensvorgang, an den das Gesetz bestimmte steuerrechtliche Folgen knüpft (s. u.a. BFH-Urteile vom 24. November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404; vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558, unter 3. a; vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387, unter II. 2.; in BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647, unter B. 1. b; Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO 1977 Rz. 6 und Rz. 39; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 174 AO 1977 Rz. 15 f. sowie Rz. 94), und unabhängig davon, inwieweit man (vollständige) Identität der beiden in Frage stehenden Sachverhalte (des bisher geregelten und des infolge der Korrektur neu zu regelnden) für erforderlich hält (verneinend: die BFH-Entscheidungen vom 6. Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314, unter 2.; in BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404; vom 17. Oktober 1990 I R 9/89, BFH/NV 1991, 354), muss doch in jedem Fall der Gegenstand der irrigen Beurteilung in § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977, anders als diese selbst, ausschließlich der Seinswelt angehören, d.h. es muss sich um einen Zustand, einen Vorgang, eine Beziehung, bzw. eine Eigenschaft materieller oder immaterieller Art handeln, die ihrerseits Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sind (näher dazu: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 173 AO 1977 Rz. 66 f., m.w.N.). Dies aber ist bei der in § 162 AO 1977 geregelten Schätzung nicht der Fall. Diese ist ein Vorgang des --ggf. wertenden-- Schlussfolgerns und der Subsumtion. Sie besteht im Wesentlichen in der an bestimmte Voraussetzungen geknüpften Befugnis, den Sachverhalt mit Hilfe eines verminderten Beweismaßes zu beurteilen: statt nach der Überzeugung von einem bestimmten Geschehensablauf nach den Kriterien größtmöglicher Wahrscheinlichkeit (näher dazu: BFH-Urteil vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., 2002, § 96 Rz. 13). Insgesamt geht es darum, rechtliche Folgerungen aus einem mehr oder weniger unvollständig aufgeklärten bzw. aufklärbaren Sachverhalt zu ziehen (BFH-Urteile vom 24. Oktober 1985 IV R 75/84, BFHE 145, 302, BStBl II 1986, 233; vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vom 3. Juni 1987 X R 61/81, BFH/NV 1988, 342; vom 14. Januar 1998 II R 9/97, BFHE 185, 117, BStBl II 1998, 371; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 173 AO 1977 Rz. 73; siehe auch die weiteren Beispiele bei Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO 1977 Rz. 11). Demgemäß sind die einzelnen Schätzungsmethoden, aus denen das FA hier die Berechtigung zur Korrektur herleitet, lediglich Hilfsmittel, um im Einzelfall die größtmögliche Wahrscheinlichkeit für eine Sachverhaltsannahme oder Sachverhaltsunterstellung zu erreichen (s. z.B. BFH-Urteil vom 2. März 1982 VIII R 225/80, BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504; Tipke/Kruse, a.a.O., § 162 AO 1977 Rz. 52 ff.).

bb) Außerdem fehlt der Schätzung wie den einzelnen Schätzungsmethoden das im Rahmen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 unerlässliche Merkmal der Bestimmtheit. Nicht nur aus dem Wortlaut der Korrekturvorschrift, sondern auch aus der Systematik des gesamten Korrekturrechts der AO 1977 ergibt sich die Notwendigkeit, dass jeder einzelne in den §§ 172 ff. AO 1977 genannte Korrekturgrund präzise konturiert sein muss: Nur auf diese Weise ist gewährleistet, dass die Bestandskraft von Fall zu Fall immer nur insoweit durchbrochen ist, als der einzelne Korrekturgrund reicht (siehe zum punktuellen Korrektursystem der AO 1977 näher: BFH in BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504, unter I. 2. a; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Rz. 72 ff. Vor §§ 172 bis 177 AO 1977). Die hierdurch angestrebte gegenständlich begrenzte Durchbrechung der Bestandskraft von Fall zu Fall ist auch im Rahmen des § 174 Abs. 4 AO 1977 --auch im Hinblick auf die sachliche Verknüpfung mit der Festsetzungsverjährung nach den §§ 169 ff. AO 1977, die ebenfalls vom Prinzip der Teilverjährung geprägt ist-- nur gewährleistet, wenn sichergestellt ist, dass die in Frage stehende irrige Beurteilung jeweils einen bestimmten Sachverhalt betrifft, so dass die Durchbrechung der Bestandskraft auch in diesem Fall ihrem Umfang nach durch die konkreten Auswirkungen des Korrekturgrundes auf den Steuerbescheid oder auf einen diesem gleichgestellten Steuerverwaltungsakt begrenzt ist.

Unter diesen Umständen braucht die Frage, inwieweit der Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977 auf den Streitfall weitere Hindernisse entgegenstehen, wie etwa die aus dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung abzuleitende zeitliche Begrenzung oder die Bedeutung des Verböserungsverbots (s. dazu BFH-Urteil vom 8. Juli 1992 XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867 - eine Einschränkung, die auch durch das BFH-Urteil vom 8. Juni 2000 IV R 65/99, BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89, unter 2. a nicht in Zweifel gezogen wird) hier nicht näher erörtert zu werden.

2. Die Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 scheidet für sämtliche Bescheide, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, schon aus den oben (unter 1. b aa) genannten Gründen aus, dass hier keine Tatsachen in Frage stehen, sondern lediglich rechtliche Wertungen.

Ende der Entscheidung

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