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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 14.05.2003
Aktenzeichen: X R 60/01
Rechtsgebiete: AO 1977, BGB
Vorschriften:
AO 1977 § 173 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 | |
BGB § 759 |
Gründe:
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann übertrugen mit notariellem Vertrag vom 11. Januar 1980 ein Unternehmen samt Inventar und Grundstücken auf ihren Sohn. Im Übergabevertrag wurde u.a. bestimmt, dass die Übergeber bis zum Tode des Längerlebenden "eine monatliche Leibrente" erhalten. Diese wurde lt. Ziff. VI des Vertrags "ausschließlich nach den Lebensbedürfnissen der Übergeber festgesetzt" und sollte "diesen als Lebensunterhalt dienen und deshalb wertbeständig sein". Die jeweilige Leibrente sollte sich in demselben prozentualen Verhältnis erhöhen und ermäßigen, wie sich der vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden festgestellte und bekannt gegebene Gesamtlebenshaltungsindex aller privaten Haushalte (Basis 1970 = 100) ändert.
Die von der Klägerin bezogene Rente wurde in der Folgezeit als mit dem Ertragsanteil zu versteuernde Leibrente erklärungsgemäß veranlagt.
Nach verschiedenen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Beschluss des Großen Senats vom 15. Juli 1991 GrS 1/90, BFHE 165, 225, BStBl II 1992, 78; Senatsurteil vom 11. März 1992 X R 141/88, BFHE 166, 564, BStBl II 1992, 499) zur steuerlichen Behandlung von Vermögensübergabeverträgen ging der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ab dem Veranlagungszeitraum 1992 davon aus, dass die von der Klägerin bezogene Rente wegen der Abänderbarkeit als dauernde Last zu qualifizieren sei und unterwarf sie in voller Höhe der Besteuerung. Die dagegen eingelegten Einsprüche der Klägerin wurden bestandskräftig zurückgewiesen.
Die in der Folgezeit von der Klägerin gegen ihren Sohn erhobene Klage auf Anpassung der Rentenzahlungen wegen der nicht vorhersehbaren Steuerbelastung wurde durch Urteile des Landgerichts X vom ... Januar 1999 und des Oberlandesgerichts Y (OLG) vom ... Oktober 1999 abgewiesen. Die Revision wurde vom Bundesgerichtshof nicht zur Entscheidung angenommen.
Das OLG ging in seinem Urteil davon aus, dass es sich bei der Zahlungsverpflichtung des Sohnes nach wie vor steuerlich um eine Leibrente handle.
Daraufhin beantragte die Klägerin am 18. Juli 2000 beim FA Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Jahre 1992 bis 1997. Dies lehnte das FA mit Bescheid vom 29. September 2000 unter Bezugnahme auf ein Schreiben der Oberfinanzdirektion O vom 18. August 2000 ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage ab. Das Urteil des OLG sei keine neue Tatsache i.S. von § 173 der Abgabenordnung (AO 1977). Ihm komme keine Bindungswirkung zu. Die Abgrenzung zwischen einer dauernden Last und einer Leibrente sei keine zivilrechtliche, sondern eine steuerliche Frage. Die Beurteilung der Leistungen aus dem Übergabevertrag obliege daher dem FA im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung und könne nur von den FG überprüft werden. Die Klägerin, nach deren Auffassung der Zivilprozess vorrangig oder einschlägig gewesen sei, habe darauf verzichtet, das Veranlagungsverfahren bis zur gerichtlichen Entscheidung offen zu halten.
Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1531 veröffentlicht.
Ab dem Veranlagungszeitraum 1998 behandelte das FA die Zahlungen des Sohnes an die Klägerin als mit dem Ertragsanteil zu versteuernde Leibrente.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Sie beantragt sinngemäß, das FG-Urteil und den Bescheid über die Ablehnung des Antrags auf Änderung der Einkommensteuerbescheide 1992 bis 1997 aufzuheben und die Einkommensteuer für die Jahre 1992 bis 1997 unter Berücksichtigung des Ertragsanteils der Leibrentenzahlungen festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist nicht begründet.
1. Ob die Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 1992 und 1993 --wie das FA in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat-- bereits deshalb nicht nach § 173 AO 1977 geändert werden können, weil die Klägerin die Änderungsanträge nicht vor Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt hat, lässt sich anhand der vom FG festgestellten Tatsachen nicht beurteilen, kann aber dahinstehen.
2. Das Urteil des OLG ist keine neue Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977, die eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der Jahre 1992 bis 1997 rechtfertigen würde.
a) Nach dieser Bestimmung sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Tatsache im Sinne der Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (vgl. BFH-Urteile vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117; vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507). Demgegenüber sind rechtliche Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Wertungen und Subsumtionen, keine Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977. Auch eine geänderte Rechtsauffassung der Finanzverwaltung, d.h. eine andere rechtliche Wertung bereits bekannter Tatsachen, ist keine Tatsache im Sinne der zuletzt bezeichneten Vorschrift (vgl. BFH-Urteil vom 11. August 1960 V 188/58 U, BFHE 71, 608, BStBl III 1960, 476, das zu § 222 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung --AO-- ergangen ist).
Um Tatsachen i.S. von § 173 Abs. 1 AO 1977, nicht um juristische Wertungen geht es beispielsweise, wenn ein Steuerpflichtiger unter den Bezeichnungen "Kauf", "Pacht", "Miete", "Gesellschaftsanteil", "Schenkung", "Geschäftsführer" aus vorgreiflichen Rechtsverhältnissen steuerliche Rechtsfolgen geltend macht. So ist etwa die Bezeichnung "betriebliche Versorgungsrente" als Zusammenfassung von Tatsachen zu verstehen, die eine bestimmte rechtliche Wertung auslösen (BFH-Urteil vom 20. Dezember 1988 VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585). Folglich kann ein Steuerbescheid nach § 173 Abs. 1 AO 1977 geändert werden, wenn sich aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel herausstellt, dass die aus den Angaben des Steuerpflichtigen insoweit übernommene Wertung nicht zutrifft (vgl. BFH-Urteile vom 13. Oktober 1983 I R 11/79, BFHE 140, 2, BStBl II 1984, 181; vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445; ebenso Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 4; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 173 AO 1977 Anm. 81; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 173 AO 1977 Anm. 10). Werden also Umstände nachträglich bekannt, die die ursprünglich vom Steuerpflichtigen behauptete und vom FA übernommene außersteuerliche Wertung mit steuerlicher Folge als unzutreffend erscheinen lassen, so handelt es sich um neue Tatsachen, die die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids rechtfertigen (vgl. von Wedelstädt in Beermann, a.a.O.).
b) Die Bindungswirkung der Entscheidung eines Zivil- oder Verwaltungsgerichts erstreckt sich nur auf die Prozessbeteiligten. Nichtbeteiligten gegenüber entfaltet sie keine Rechtskraftwirkung. Das Urteil eines Zivil- oder Verwaltungsgerichts ist deshalb grundsätzlich keine neue Tatsache i.S. von § 173 AO 1977. Nur wenn durch den Tatbestand eines Urteils, dem insoweit Beweiskraft zukommt, Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen, oder wenn sich aus der Entscheidung des Zivilgerichts ergibt, dass ein vom Steuerpflichtigen benutzter und vom FA ohne eigene Prüfung übernommener Rechtsbegriff rechtlich anders zu würdigen ist, kommt eine neue Tatsache und somit eine Änderung nach § 173 AO 1977 in Betracht (Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 173 Anm. 26; von Wedelstädt in Beermann, a.a.O., § 173 AO 1977 Anm. 10).
c) Dies vorausgesetzt ist das Urteil des OLG, wonach die Zahlungen des Sohnes an die Klägerin auch steuerlich als Leibrente zu behandeln sind (vgl. 2 e der Entscheidungsgründe), keine neue Tatsache i.S. von § 173 AO 1977. Die Erkenntnis des Zivilgerichts, dass die Klägerin eine Leibrente erhält, ist das Ergebnis der Anwendung von Rechtsnormen auf einen bestimmten Sachverhalt, einer juristischen Subsumtion, und keine durch Verwendung eines Rechtsbegriffes bewirkte zusammengefasste Beschreibung eines Sachverhaltes. Diese Subsumtion obliegt den FÄ bzw. den FG, zumal sich der zivilrechtliche Begriff der Leibrente nach § 759 des Bürgerlichen Gesetzbuchs von der steuerlichen Leibrente, die auf die Sonderung der Vermögensumschichtung von einem steuerbaren Zinsanteil zugeschnitten ist, unterscheidet (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 165, 225, BStBl II 1992, 78, unter C. II. 2. der Gründe).
Zudem hat das FA seine Entscheidung nicht auf die Angabe der Klägerin, sie erhalte eine "dauernde Last" gestützt, sondern aufgrund eigener steuerrechtlicher Subsumtion die als Leibrente erklärten Zahlungen als "dauernde Last" gewertet. Der Rechtsbegriff "dauernde Last" war bei Erlass der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide der Jahre 1992 bis 1997 Gegenstand eigener rechtlicher Erwägungen der Finanzbehörde. Die Qualifikation als präjudizieller Rechtsbegriff oder präjudizielles Rechtsverhältnis kommt aber nur in Fällen in Betracht, in denen die Finanzbehörde keinerlei eigene rechtliche Erwägungen angestellt hat, sondern die Wertung des Steuerpflichtigen nur als Faktum ("juristische Tatsache") übernimmt (von Groll in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, a.a.O., § 173 AO 1977 Anm. 81 f.; vgl. auch von Wedelstädt in Beermann, a.a.O., § 173 AO 1977 Anm. 11; Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO 1977 Anm. 4). Nur wenn das FA innerhalb eines Gesamtkomplexes lediglich die Angabe des Steuerpflichtigen zugrunde legt, ohne dass es die Einzelumstände des Vorgangs kennt und selbst rechtlich bewertet, kann eine Tatsache i.S. von § 173 AO 1977 angenommen werden.
Das FG hat daher zutreffend entschieden, dass die steuerrechtliche Wertung der laufenden Zahlungen des Sohnes an die Klägerin durch das Urteil des OLG nicht unter den Begriff der Tatsache fällt. Es ist auch kein neues Beweismittel gegeben, da sich dieses nur auf die Existenz von Tatsachen bezieht (BFH-Urteile in BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585, und vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569, Ziff. 1 d der Gründe). Einem Urteil kann Beweiskraft als öffentliche Urkunde nur hinsichtlich der Feststellungen im Tatbestand zukommen (Zöller, Zivilprozeßordnung, 23. Aufl., § 418 Anm. 1; zum FG-Prozess Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 82 Anm. 40, m.w.N.).
3. Nur rechtswidrige Steuerbescheide können nach § 173 AO 1977 geändert werden (Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 173 Anm. 23). Ob diese Voraussetzung vorliegt, die Zahlungen des Sohnes an die Klägerin in den Streitjahren 1992 bis 1997 vom FA also zu Unrecht als dauernde Last und nicht als Leibrente gewertet wurden, kann dahingestellt bleiben, da eine Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen nach § 173 AO 1977 bereits aus anderen Gründen ausscheidet.
Ende der Entscheidung
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