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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 06.07.2005
Aktenzeichen: XI R 27/04
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG


Vorschriften:

AO 1977 §§ 169 ff.
AO 1977 § 169 Abs. 1 Satz 1
AO 1977 § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AO 1977 § 181
AO 1977 § 181 Abs. 1 Satz 1
AO 1977 § 181 Abs. 5
AO 1977 § 182 Abs. 1
AO 1977 § 182 Abs. 1 Satz 1
EStG § 10d Abs. 1
EStG § 10d Abs. 2
EStG § 10d Abs. 3
EStG § 10d Abs. 3 Satz 2
EStG § 10d Abs. 3 Satz 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Das Finanzamt (FA) A, das während des Revisionsverfahrens mit dem FA B zu dem nunmehr beklagten FA fusioniert wurde, stellte für den Kläger und Revisionskläger (Kläger) mit Bescheid vom 12. Februar 1996 gemäß § 10d Abs. 3 (heute: Abs. 4) des Einkommensteuergesetzes (EStG) den verbleibenden Verlustabzug zum 31. Dezember 1994 mit 453 154 DM fest. Dieser Betrag entsprach dem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte im Veranlagungszeitraum 1994.

Auf Antrag des Klägers erließ das FA am 15. Februar 1996 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1993, in dem es den im Veranlagungszeitraum 1994 nicht ausgeglichenen Verlust in vollem Umfang zurücktrug. Der Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1994 vom 12. Februar 1996 blieb unverändert und ging in die Feststellungsbescheide der Folgejahre ein. Er wurde erst mit Bescheid vom 9. Oktober 2000 aufgehoben. Auf Einspruch des Klägers wurde zwar der Aufhebungsbescheid am 7. Februar 2001 wiederum aufgehoben, zugleich jedoch ein neuer Aufhebungsbescheid unter Hinweis auf § 181 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO 1977) erlassen.

Nach erfolglosem Einspruch erhob der Kläger Klage. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2004, 979).

Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung des § 10d Abs. 3 EStG und des § 181 Abs. 5 i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 12. Juni 2002 XI R 26/01 (BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681) sei nicht einschlägig. Es sei zu einem anderen Sachverhalt ergangen (erstmalige Verlustfeststellung; keine Feststellungsverjährung des Folgejahres). Im Streitfall sei ein bereits ergangener Verlustfeststellungsbescheid nach § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG geändert worden und die gesonderten Feststellungen des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1995, 31. Dezember 1996 und 31. Dezember 1997 sowie die Einkommensteuerveranlagungen für diese Jahre seien bei Erlass des Aufhebungsbescheides bereits bestandskräftig gewesen. Zudem habe der BFH in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 über die Rechtslage im Veranlagungszeitraum 1990 entschieden, in dem erstmals verbleibende Verlustabzüge festzustellen gewesen seien. Da in die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG nur der auf den Schluss des "vorangegangenen" Veranlagungszeitraums festgestellte verbleibende Verlustabzug eingehe, sei die mittelbare Bedeutung der zu früheren Stichtagen ergangenen Feststellungsbescheide unbeachtlich. Nach der Rechtsprechung des BFH wäre eine Feststellungsverjährung praktisch ausgeschlossen. Im Streitfall sei bereits mit Ablauf des Jahres 2000 die Feststellungsverjährung für den Verlustfeststellungsbescheid des Folgejahres zum 31. Dezember 1995 eingetreten. Die Rechtsprechung des erkennenden Senats führe zu vermehrten Rechtsstreitigkeiten, verletze den Rechtsfrieden und laufe damit den in den BTDrucks 11/2536, S. 78 und 12/4158, S. 34 zum Ausdruck gelangten Zielen des Gesetzgebers zuwider. Sie weiche zudem von der Rechtsprechung anderer Senate des BFH ab.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den Bescheid vom 7. Februar 2001 über die Aufhebung des Bescheides zum 31. Dezember 1994 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer vom 12. Februar 1996 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25. Juni 2001 mit der Maßgabe aufzuheben, dass der Feststellungsbescheid vom 12. Februar 1996 wieder auflebt.

Das FA beantragt im Wesentlichen unter Hinweis auf BFH in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision des Klägers ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass die im Urteil des erkennenden Senats in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 aufgestellten Rechtsgrundsätze auch dann gelten, wenn ein Feststellungsbescheid nach § 10d Abs. 3 (heute: Abs. 4) EStG aufgehoben oder geändert wird und die Folgebescheide bereits bestandskräftig geworden sind.

1. Der Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1994 vom 12. Februar 1996 war aufzuheben, weil nach Ergehen dieses Bescheides der nicht ausgeglichene Verlust des Veranlagungszeitraums 1994 voll gemäß § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen wurde.

Nach § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG sind Feststellungsbescheide über den verbleibenden Verlustabzug zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die in § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Beträge ändern und deshalb der entsprechende Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern ist. Die nach § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Beträge sind der bei Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte (hier: 1994) nicht ausgeglichene Verlust, die nach § 10d Abs. 1 EStG abgezogenen, d.h. zurückgetragenen und die nach § 10d Abs. 2 EStG abziehbaren Beträge und der auf den Schluss des vorangegangen Veranlagungszeitraums festgestellte verbleibende Verlustabzug. Im Streitfall hat sich nach Erlass des Bescheides vom 12. Februar 1996 der Betrag des abgezogenen Verlustrücktrags --von 0 DM in 453 154 DM-- geändert.

2. Dem Erlass des Aufhebungsbescheides stand keine Feststellungsverjährung nach § 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 entgegen.

a) Nach § 181 Abs. 5 AO 1977 kann eine gesonderte Feststellung auch noch nach Ablauf der für sie geltenden Feststellungsfrist insoweit erfolgen, als die gesonderte Feststellung für eine Steuerfestsetzung von Bedeutung ist, für die die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der gesonderten Feststellung noch nicht abgelaufen ist. Hintergrund dieser Regelung ist die dienende Funktion des Feststellungsverfahrens (BTDrucks VI/1982, S. 157; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 181 AO 1977 Tz. 19). Entsprechend dem in § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 enthaltenen Rechtsgedanken gilt § 181 Abs. 5 AO 1977 zudem über seinen Wortlaut hinaus auch, wenn die gesonderte Feststellung zwar nicht für eine Steuerfestsetzung, sondern für eine weitere Feststellung von Bedeutung ist (BFH-Urteile vom 10. Dezember 1992 IV R 118/90, BFHE 170, 336, BStBl II 1994, 381; vom 31. Oktober 2000 VIII R 14/00, BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156; vom 1. Juli 2003 VIII R 92/02, juris Nr: STRE200350920).

b) Der erkennende Senat hat mit Urteil in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 entschieden, dass unter Beachtung von Sinn und Zweck der Feststellungsbescheide im Allgemeinen und des § 181 Abs. 5 AO 1977 im Besonderen Bescheide über den verbleibenden Verlustabzug nach § 10d Abs. 3 EStG nicht nur für Steuerfestsetzungs- oder Feststellungsbescheide des unmittelbar anschließenden Veranlagungszeitraums "von Bedeutung" sind. Auch eine mittelbare Bedeutung dieser Bescheide für spätere Veranlagungen und Feststellungen reiche aus (vgl. auch BFH-Urteil in juris Nr: STRE200350920; Wendt, Finanz-Rundschau --FR-- 2002, 1193). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen in dem genannten Urteil Bezug genommen.

c) Der erkennende Senat hält an den Grundsätzen dieser Entscheidung fest. Sie sind --entgegen der Auffassung des Klägers-- auch anzuwenden, wenn Streitgegenstand nicht der Erlass eines Erstbescheides, sondern eines Änderungs- bzw. Aufhebungsbescheides ist und der Einkommensteuerbescheid sowie der Feststellungsbescheid nach § 10d Abs. 3 EStG des unmittelbaren Folgejahres bereits bestandskräftig geworden sind.

aa) Die Vorschriften über die Festsetzungs- bzw. Feststellungsverjährung gelten gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 für die erstmalige Steuerfestsetzung bzw. -feststellung "sowie ihre Aufhebung oder Änderung" gleichermaßen. Rechtlich irrelevant ist auch, dass der erkennende Senat in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 über einen erstmals zum 31. Dezember 1990 zu erlassenden Bescheid zur Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zu entscheiden hatte. Die Verjährungsvorschriften enthalten für neu eingeführte Festsetzungs- oder Feststellungsverfahren keine Sonderregelungen.

bb) Die Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides für 1995 und des Verlustfeststellungsbescheides zum 31. Dezember 1995 steht der Aufhebung des Verlustfeststellungsbescheides zum 31. Dezember 1994 nicht entgegen. Die materiellen Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung des Bescheides vom 12. Februar 1996 regelt § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG, die der Feststellungsverjährung §§ 181, 169 ff. AO 1977. Danach hindert die Bestandskraft der Bescheide des Folgejahres weder die Aufhebung oder Änderung des vorangegangenen Bescheides über den verbleibenden Verlustabzug, noch führt sie zum Ablauf der Feststellungsfrist für den Feststellungsbescheid des Vorjahres.

cc) Der Auffassung des erkennenden Senats, im Rahmen des § 181 Abs. 5 AO 1977 auch eine mittelbare "Bedeutung" ausreichen zu lassen, steht der Wortlaut des § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG nicht entgegen. Verbleibender Verlustabzug ist der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichene Verlust, vermindert um die nach § 10d Abs. 1 EStG abgezogenen und die nach § 10d Abs. 2 EStG abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustabzug. Soweit der Kläger aus der Formulierung "auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustabzug" schließt, nur der vorangegangene festgestellte verbleibende Verlustabzug habe "Bedeutung" i.S. des § 181 Abs. 5 AO 1977, verkennt er, dass nach der gesetzlichen Systematik die zu früheren Feststellungszeitpunkten festgestellten verbleibenden Verlustabzüge sich nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 in einer Art "Kettenreaktion" auf den zuletzt festgestellten verbleibenden Verlustabzug auswirken. Dem steht die Bestandskraft der "dazwischen liegenden" Feststellungsbescheide nicht entgegen, denn Feststellungsbescheide sind gemäß § 182 Abs. 1 AO 1977 u.a. für andere Feststellungsbescheide bindend, soweit die in ihnen getroffenen Feststellungen für Folgebescheide, d.h. hier die folgenden Bescheide nach § 10d Abs. 3 EStG, von Bedeutung sind.

dd) Wie der erkennende Senat bereits in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 näher ausgeführt hat, sollen dem Steuerpflichtigen durch die Technik der separaten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen weder Vor- noch Nachteile entstehen. Dies gilt --entgegen der Meinung des Klägers-- auch für den Feststellungsbescheid nach § 10d Abs. 3 EStG. Dem stehen die Ausführungen im Bericht des Finanzausschusses in BTDrucks 11/2536 nicht entgegen. Sie belegen die mit der Einführung des gesonderten Feststellungsverfahrens nach § 10d Abs. 3 EStG verfolgten Zwecke (Begrenzung von Rechtsstreitigkeiten, zeitnahe Ermittlung des verbleibenden Verlustabzugs; Steuervereinfachung; Rechtsfrieden) und sind im Zusammenhang mit der seinerzeit aufgegebenen zeitlichen Begrenzung des Verlustvortrags und vor dem Hintergrund der bis einschließlich 1989 geltenden Rechtslage zu verstehen. Sie betreffen nicht die in der AO 1977 geregelte Feststellungsverjährung. Der Einkommensteuerbescheid des Verlustentstehungsjahrs war --und ist es auch heute noch-- nicht Grundlagenbescheid für den Steuerbescheid im Verlustabzugsjahr. Dies führte dazu, dass bei jeder Veranlagung der Verlust im Verlustentstehungsjahr, ggf. die Höhe der positiven Einkünfte in den Verlustrücktrags- oder -vortragsjahren jeweils neu zu ermitteln waren (vgl. z.B. Darstellung in Herrmann/ Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 10d EStG Rdnr. 133, 139). Der damit verbundenen Unsicherheit hinsichtlich der "Höhe des für die Zukunft verbleibenden Verlustabzugs" (BTDrucks 11/2536, S. 78) sollte durch die Einführung des gesonderten Feststellungsverfahrens begegnet werden. Nur noch wenn sich die in § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG genannten Beträge "ändern", kann ein ergangener Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs aufgehoben oder geändert werden (§ 10d Abs. 3 Satz 4 EStG). Weder § 10d Abs. 3 EStG noch den Gesetzesmaterialien hierzu lässt sich hingegen entnehmen, dass Verlustvorträge entgegen der bis einschließlich 1989 geltenden Rechtslage künftig "verjähren" sollten. Insoweit verkennt der Kläger, dass sich § 181 Abs. 5 AO 1977 nicht nur zu Lasten des Steuerpflichtigen, sondern auch zu dessen Gunsten auswirken kann.

ee) Soweit der Kläger bemängelt, bei Anwendung des § 181 Abs. 5 AO 1977 gebe es keinen Vertrauensschutz mehr in den Bestand eines bestandskräftigen Feststellungsbescheides nach § 10d Abs. 3 EStG, bleibt darauf hinzuweisen, dass ein solches Vertrauen nur im Rahmen des Gesetzes Schutz genießt (vgl. hierzu z.B. Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO 1977 Tz. 1). Der erkennende Senat weicht daher auch nicht von den vom Kläger zitierten BFH-Urteilen ab, weil diese nicht zu § 181 Abs. 5 AO 1977 ergangen sind.

Ende der Entscheidung

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