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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 13.04.2000
Aktenzeichen: XI R 3/99
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977, EStG, BFHEntlG


Vorschriften:

FGO § 76 Abs. 2
FGO § 121
FGO § 73
FGO § 74
FGO § 121
FGO § 90a
AO 1977 § 165 Abs. 1
AO 1977 § 165
EStG § 32 Abs. 6
BFHEntlG Art. 1 Nr. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden in den Streitjahren 1989 und 1991 zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Sie haben zwei Kinder (geboren 1979 und 1985) und erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.

Im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärungen machten sie für 1989 Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 16 855 DM und für 1991 in Höhe von 19 949 DM geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erkannte hingegen Sonderausgaben nur in Höhe der Vorsorgepauschale von 7 020 DM an. Außerdem berücksichtigte er die jeweils gesetzlich vorgesehenen Kinderfreibeträge. Der Bescheid für 1989 erging hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge vorläufig.

Mit ihren hiergegen erhobenen Einsprüchen wandten sich die Kläger u.a. gegen die beschränkte Abzugsfähigkeit der Vorsorgeaufwendungen, die nach ihrer Auffassung realitätsfernen Grundfreibeträge, die Kinderfreibeträge sowie gegen den Vorläufigkeitsvermerk im Einkommensteuerbescheid für 1989 sowie die angekündigte Vorläufigkeitserklärung durch das FA für 1991. Das FA hob daraufhin den Vorläufigkeitsvermerk betreffend 1989 auf und wies die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurück.

Während der Klageverfahren erklärte sich das FA nochmals bereit, die Bescheide hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge und der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen für vorläufig zu erklären, damit im Falle einer günstigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Steuerfestsetzungen geändert werden könnten. Mit Schreiben vom 11. April 1994 stellte das Finanzgericht (FG) dem Klägervertreter --betreffend 1991-- anheim, im Hinblick auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. November 1993 X B 83/93 (BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119) und das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 2. August 1993 5 K 1004/93 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1994, 115) die Zustimmung zur Vorläufigkeitserklärung zu erklären. Mit Schreiben vom 10. Oktober 1994 bat das FG um Mitteilung, ob die Kläger betreffend 1989 mit der Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks einverstanden seien. Am Tag der mündlichen Verhandlung, zu der ihr Prozessbevollmächtigter nicht erschien, ging ein Schriftsatz der Kläger ein, indem sie einer Vorläufigkeitserklärung ausdrücklich widersprachen. Daraufhin verwarf das FG die Klage mangels Rechtsschutzinteresses wegen rechtsmissbräuchlicher Versagung der Zustimmung zur Vorläufigkeitserklärung.

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger Verletzung der Art. 103 Abs. 1, 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) sowie des § 76 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und des § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und beantragen, die Urteile des FG aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt Zurückweisung der Revisionen.

II. Die Verfahren XI R 3/99 und XI R 4/99 werden gemäß §§ 121, 73 FGO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Auf die Revisionen der Kläger sind die Urteile des FG aufzuheben. Die Sachen sind antragsgemäß an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die von den Klägern erhobenen Verfahrensrügen sind teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet. Insbesondere hat das FG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 FGO) nicht verletzt. Die Entscheidung des FG, die Verweigerung der Zustimmung zur Vorläufigkeitserklärung der angefochtenen Bescheide sei rechtsmissbräuchlich, konnte die Kläger nicht mehr überraschen, nachdem sowohl das FG als auch das FA (vgl. Schriftsatz vom 13. Juli 1994 betreffend 13 K 38/94) auf einen möglicherweise Missbrauch des Klagerechts hingewiesen hatten. Hinsichtlich der übrigen Verfahrensrügen ergeht die Entscheidung gemäß Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) ohne Begründung.

2. Die Revisionen sind begründet, weil das FG keine Prozessurteile hätte erlassen dürfen. Da das FA den ursprünglichen Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO 1977) im Einkommensteuerbescheid 1989 auf Einspruch der Kläger im Einspruchsverfahren aufgehoben hatte und der Einkommensteuerbescheid 1991 von Anbeginn nicht vorläufig ergangen war, hatten die Kläger ein Rechtsschutzinteresse an einer gerichtlichen Entscheidung; ohne Vorläufigkeitsvermerk konnten die angefochtenen Bescheide wegen einer möglichen Verfassungswidrigkeit des § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht mehr geändert werden.

a) Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des BFH fehlt zwar der Klage das Rechtsschutzinteresse, wenn ein Steuerbescheid in einem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, die verfassungsrechtliche Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 22. März 1996 III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, m.w.N.). Wird jedoch der bei Gericht bereits angefochtene Steuerbescheid erst während des Klageverfahrens gemäß § 165 AO 1977 für vorläufig erklärt, so entfällt nach der Rechtsprechung des BFH das Rechtsschutzinteresse nicht (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 10. Februar 1995 III B 73/94, BFHE 176, 435, BStBl II 1995, 415). Der erkennende Senat kann dahingestellt lassen, ob dem zu folgen ist, da das Rechtsschutzinteresse als Sachurteilsvoraussetzung grundsätzlich im Zeitpunkt des Ergehens der Sachentscheidung vorliegen muss (vgl. auch z.B. Gräber/ von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., Vor § 33 Rdnr. 4 a). Da im Streitfall die angefochtenen Steuerbescheide weder im Zeitpunkt der Klageerhebung noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung für vorläufig erklärt worden waren, ist das Rechtsschutzinteresse nach den Grundsätzen der zitierten Entscheidungen nicht entfallen.

b) Die Klage war auch nicht deswegen unzulässig, weil die Kläger der nachträglichen Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks widersprochen haben. Die Umstände des Streitfalles lassen die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht zu.

aa) Für das Streitjahr 1991 ergibt sich dies schon daraus, dass Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Höhe des Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 6 EStG in der seit 1990 geltenden Fassung nicht (mehr) dem BVerfG vorlagen (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG vom 25. September 1992 2 BvL 5/91 u.a., BStBl II 1993, 413, 417) und daher insoweit zur Verfassungsmäßigkeit oder -widrigkeit keine verfassungsrechtliche Überprüfung und Entscheidung zu erwarten war. Das Rechtsschutzinteresse darf den Klägern nicht allein deswegen abgesprochen werden, weil möglicherweise seinerzeit die Erwartung bestanden hat, im Rahmen des beim BVerfG anhängigen Verfahrens könnten Beurteilungsmaßstäbe aufgestellt werden, die auch für die im Streitjahr 1991 geltende Fassung des § 32 Abs. 6 EStG von Bedeutung sein könnten (vgl. BFH in BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506; BFH-Beschluss vom 17. Dezember 1996 X B 282/95, BFH/NV 1997, 278).

bb) Für das Streitjahr 1989 gilt im Ergebnis nichts anderes.

Die Kläger hatten mangels Vorläufigkeit des Einkommensteuerbescheides 1989 ein Rechtsschutzinteresse an der Klage, weil anderenfalls eine denkbare Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrages im Jahr 1989 nicht mehr bei der Veranlagung 1989 berücksichtigt werden konnte. Zwar ist allgemein anerkannt, dass Anspruch auf Rechtsschutz nur derjenige hat, der schutzwürdige Interessen verfolgt und Rechtsmissbrauch keinen Rechtsschutz erhält (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 8. Juli 1994 III R 78/92, BFHE 175, 7, BStBl II 1994, 859, m.w.N.). Auch ist davon auszugehen, dass die seinerzeit zu erwartende Entscheidung des BVerfG Rechtsgrundsätze über die Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 6 EStG auch für das Streitjahr 1989 aufstellt, weil es sich sowohl 1987 als auch 1989 um die nämliche Rechtsnorm handelte (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673; in BFHE 180, 218, BStBl II 1996, 506, m.w.N.). Dem Anliegen der Kläger an einem verfassungsrechtlich angemessenen Kinderfreibetrag hätte daher auch durch eine Vorläufigkeitserklärung entsprochen werden können.

Gleichwohl ist die Verweigerung der Zustimmung zur nachträglichen Vorläufigkeitserklärung schon deshalb nicht rechtsmissbräuchlich, weil das FG mit oder ohne Zustimmung der Kläger nach der Rechtsprechung des BFH das Verfahren nach § 74 FGO aussetzen muss (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17. September 1997 X R 87/94, BFH/NV 1998, 560, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 10. Februar 1995 III B 73/94, BFHE 176, 435, BStBl II 1995, 415). Hat das Verhalten der Beteiligten im Klageverfahren aber keine prozessuale Auswirkung, so kann es auch nicht zur Unzulässigkeit der Klage führen. Da die Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO nicht antragsgebunden ist, ist der Widerruf der Anträge auf Aussetzung des Verfahrens durch die Kläger unerheblich (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Tz. 3 c). Dem steht nicht entgegen, dass ein unzulässiges Klageverfahren nicht auszusetzen ist (z.B. BFH-Beschluss vom 24. Januar 1995 X B 208/94, BFH/NV 1995, 569), denn die Kläger hatten mangels Vorläufigkeit des Bescheides ein Rechtsschutzinteresse an der Klage.

Der Senat hat es für sachgerecht gehalten, gemäß §§ 121, 90a FGO durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.



Ende der Entscheidung

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