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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.12.1999
Aktenzeichen: XI R 75/97
Rechtsgebiete: EStG, FGO, ZPO, AO 1977, BFHEntlG


Vorschriften:

EStG § 10d
EStG § 10d Abs. 1 Satz 2
EStG § 10d Abs. 1 Satz 3
FGO § 100 Abs. 2 Satz 2
FGO § 155
FGO § 116
FGO § 115 Abs. 3
FGO § 116
FGO § 120
FGO § 125 Abs. 1 Satz 1
FGO § 115 Abs. 5 Satz 3
FGO § 126 Abs. 3 Nr. 1
ZPO § 705
AO 1977 § 171 Abs. 3 Satz 1
AO 1977 § 171 Abs. 3 Satz 2
BFHEntlG Art. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde aufgrund der 1987 abgegebenen Einkommensteuererklärung zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer 1985 veranlagt. Durch Änderungsbescheid vom 19. Mai 1992 wurde 1985 nach § 10d des Einkommensteuergesetzes 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 (EStG) ein Verlust aus dem Veranlagungszeitraum 1987 in Höhe von 25 306 DM berücksichtigt.

Der Steuerbescheid für 1987 wurde am 17. Mai 1994 geändert; es ergab sich kein rücktragsfähiger Verlust mehr. Die Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1987 hatte zum Teil Erfolg; die Revision ließ das Finanzgericht (FG) nicht zu. Gegen das Urteil legte der Kläger persönlich Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) ein, die mit Beschluss vom 23. April 1996 als unzulässig verworfen wurde. Es fehle an der nach Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) gebotenen ordnungsgemäßen Vertretung vor dem BFH, die Revisionseinlegung sei daher unwirksam.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--), dem vom FG mit Urteil vom 5. September 1995 die Berechnung der Steuer nach § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgegeben worden war, setzte im Bescheid vom 9. Februar 1996 einen negativen Gesamtbetrag der Einkünfte von 9 491 DM für 1987 an. Am 26. März 1996 wurde die Einkommensteuer für das Streitjahr 1985 nach § 10d EStG geändert und nur noch der Verlustrücktrag in Höhe von 9 491 DM --bisher 25 306 DM-- berücksichtigt.

Gegen den Änderungsbescheid für 1985 erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage. Der Bescheid sei unzulässig, da die Festsetzungsverjährung für das maßgebliche Jahr 1987 mit Ablauf der Revisionsfrist am 12. Februar 1996 eingetreten sei. Die von ihm eingelegte Revision sei dem BFH-Beschluss zufolge mangels ordnungsgemäßer Vertretung unwirksam, es verhalte sich so, als habe es die Revision nie gegeben.

Die Klage hatte Erfolg, die Entscheidung ist abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 390.

Das FA stützt seine Revision auf die Verletzung materiellen Rechts. Die Rechtskraft eines FG-Urteils trete nach § 155 FGO i.V.m. § 705 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein, wenn ein Rechtsmittel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist verworfen werde.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger verweist auf die Vorentscheidung und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, dass die Festsetzungsfrist für den Änderungsbescheid betreffend Einkommensteuer 1985 abgelaufen war.

1. a) Nach § 10d Abs. 1 Satz 2 EStG sind bereits ergangene Steuerbescheide vorangegangener Veranlagungszeiträume insoweit zu ändern, als der Verlustabzug zu gewähren oder zu berichtigen ist. Das gilt auch dann, wenn die Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind; die Verjährungsfristen enden insoweit nicht, bevor die Verjährungsfrist für den Veranlagungszeitraum abgelaufen ist, in dem die Verluste nicht ausgeglichen werden (§ 10d Abs. 1 Satz 3 EStG).

b) Die Verjährungsfrist für das Verlustentstehungsjahr 1987, die nach § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG für das streitige Verlustrücktragsjahr 1985 maßgeblich ist, lief erst mit Rechtskraft des Verwerfungsbeschlusses vom 23. April 1996 ab und damit nach Erlass des Änderungsbescheides 1985 vom 26. März 1996.

Der Ablauf der Festsetzungsfrist für das Verlustentstehungsjahr 1987 war durch die Anfechtung des Einkommensteuerbescheides nach § 171 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gehemmt. Danach läuft die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor über die Anfechtung des Steuerbescheides unanfechtbar entschieden worden ist. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn die Entscheidung über die Anfechtung weder im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch im Klageverfahren vor dem FG oder BFH weiter angefochten werden kann (Hartmann/ Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 171 AO Anm. 22, 27), d.h. das Urteil im Instanzenzug unabänderbar, also formell rechtskräftig geworden ist (BFH-Beschluss vom 14. Juli 1971 I R 127, 154/70, BFHE 103, 36, BStBl II 1971, 805). Erst mit dem Verwerfungsbeschluss vom 23. April 1996 wurde über die Einkommensteuersache 1987 abschließend entschieden; gegen den Verwerfungsbeschluss ist kein weiteres Rechtsmittel statthaft.

Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) vom 24. Oktober 1983 GmS-OGB 1/83 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1984, 591) tritt bei der Verwerfung eines an sich statthaften (vgl. hierzu unter 3.) und rechtzeitig eingelegten (vgl. hierzu unter 2.) Rechtsmittels die Rechtskraft des Urteils i.S. des § 705 ZPO --erst-- mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein. Die früher vertretene Auffassung, die Rechtskraft des angefochtenen Urteils trete nicht erst in dem Augenblick ein, in dem der Verwerfungsbeschluss formell rechtskräftig werde, weil der Verwerfungsbeschluss nur deklaratorische Wirkung habe (vgl. BFH in BFHE 103, 36, BStBl II 1971, 805) ist durch den Beschluss des GmS-OGB (in HFR 1984, 591) überholt (BFH-Beschluss vom 26. November 1986 VIII R 295/81, BFH/NV 1987, 108).

2. Der hemmenden Wirkung der den Steuerbescheid 1987 betreffenden Revision steht nicht entgegen, dass sie von dem nicht postulationsfähigen Kläger persönlich eingelegt wurde.

a) Eine durch einen nach Art. 1 Nr. 1 Satz 1 BFHEntlG nicht Postulationsfähigen eingelegte Revision ist zwar unwirksam, sie ist aber "kein unbeachtliches Nichts", das zu keiner gerichtlichen Amtshandlung Anlass gäbe, sondern ein tatsächliches Geschehen; sie ist lediglich wegen fehlender Postulationsfähigkeit des Rechtsmittelführers als unzulässig zu verwerfen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 1987 II R 7/87, BFH/NV 1988, 238, und vom 31. Januar 1978 VII K 2/77, BFHE 124, 156, BStBl II 1978, 232; Rüsken in Beermann, a.a.O., § 120 FGO Rz. 42; für Rücknahme der Berufung eines nicht postulationsfähigen Rechtsanwalts Beschluss des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 22. März 1994, XI ZB 3/94, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht --NJW-RR-- 1994, 759 unter 2.). § 705 ZPO stellt allein auf das tatsächliche Geschehen einer rechtzeitigen Einlegung des --an sich statthaften-- Rechtsmittels ab.

b) Die Rechtslage ist insoweit mit dem Fall vergleichbar, dass der Prozessvertreter die nach § 62 FGO vorgeschriebene Vollmacht nicht innerhalb einer gesetzten richterlichen Ausschlussfrist einreicht. Auch in diesem Fall erweist sich die Einlegung des Rechtsmittels als unwirksam mit der Folge, dass es wegen Fehlens einer Sachentscheidungsvoraussetzung und Prozesshandlungsvoraussetzung (vgl. Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 62 Tz. 2, 48, 78; BFH-Urteil vom 16. November 1993 VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891) durch Prozessurteil als unzulässig zu verwerfen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 30. Juli 1991 VIII B 88/89, BFHE 165, 22, BStBl II 1991, 848, m.w.N.). Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einer Revision nach § 124 Abs. 1 FGO ist für die Kategorie unwirksamer Prozesshandlungen gegenüber den aus anderen Gründen unzulässigen Rechtsmitteln eine unterschiedliche Behandlung nicht vorgesehen.

c) Die vorgenommene Beurteilung steht nicht im Widerspruch zu der im Anschluss an die BFH-Entscheidung vom 16. August 1979 I R 95/76 (BFHE 129, 1, BStBl II 1980, 47) ergangenen BFH-Rechtsprechung, derzufolge die von einer nicht postulationsfähigen Person eingelegte Revision nicht geeignet ist, die für die Einlegung der Revision gesetzlich vorgeschriebene Frist zu wahren, so dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen kann. Der I. Senat ist in seiner Entscheidung zunächst davon ausgegangen, dass die nicht postulationsfähige Person innerhalb der Revisionsfrist eine (unwirksame) Revision eingelegt hatte, um sodann zu folgern, dass für die Frage, ob i.S. des § 56 FGO eine gesetzliche Frist nicht eingehalten wurde, das Handeln der nicht postulationsfähigen Person nicht anders bewertet werden könne als ein Nichthandeln (vgl. Thomas/ Putzo, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 20. Aufl., Anm. 2 vor § 230 ZPO). Die Entscheidung betrifft damit einen anderen Sachverhalt. Im Streitfall ist nicht das tatsächliche Geschehen der Rechtsmitteleinlegung verspätet i.S. des § 705 ZPO erfolgt, sondern die fristgerechte Prozesshandlung war mangels Vertretungsbefugnis unwirksam (vgl. Beschluss vom 28. September 1995 X B 114/95, BFH/NV 1996, 241).

3. Bei der vom Kläger eingelegten Revision handelt es sich um ein statthaftes Rechtsmittel i.S. des Beschlusses des GmS-OGB.

Der dort verwendete Begriff der Statthaftigkeit stellt darauf ab, ob das Rechtsmittel "an sich" statthaft ist (vgl. GmS-OGB in HFR 1984, 591), d.h. für eine Entscheidung dieser Art überhaupt gegeben ist (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., Vor § 115 Tz. 8) und das angefochtene Urteil damit --von besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen abgesehen-- noch durch eine höhere Instanz überprüft werden kann (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., Vor § 115 Tz. 6, § 115 Tz. 3, 8, § 124 Tz. 2).

In diesem Sinne bedeutet Unstatthaftigkeit eines Rechtsmittels die generelle Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung kraft Gesetzes, ohne dass es noch eines richterlichen Rechtsfindungsaktes bedürfte, sei es durch das FG, sei es durch den BFH (vgl. BGH-Urteil vom 15. November 1989 IVb ZR 3/89, BGHZ 109, 211). Auch ist im Hinblick auf die Möglichkeiten der zulassungsfreien Revision nach § 116 FGO und der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 115 Abs. 3 FGO bei Erlass des Urteils noch offen, ob es zu einer weiteren Überprüfung im Instanzenzug kommen wird. Die Rechtskraft des Urteils tritt dementsprechend nicht mit der Verkündung, sondern erst mit Ablauf der Frist für die Einlegung einer Revision nach §§ 116, 120 FGO bzw. einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 115 Abs. 3 FGO oder der Entscheidung über eines dieser Rechtsmittel ein (vgl. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 115 Abs. 5 Satz 3 FGO).

Darauf, dass die konkret eingelegte Revision nach Art. 1 Nr. 5 BFHEntlG nicht statthaft war, weil sie weder vom FG oder BFH zugelassen worden war, noch mit ihr ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. von § 116 Abs. 1 FGO schlüssig gerügt wurde (zur ständigen Rechtsprechung vgl. BFH-Beschlüsse vom 27. September 1988 III R 26/88, BFH/NV 1989, 378; vom 12. August 1996 VIII R 33/96, BFH/NV 1997, 138, und vom 21. April 1997 VIII R 26/97, BFH/NV 1997, 797), kommt es nicht an. Das Erfordernis der Zulassung der Revision stellt sich im Sinne der Entscheidung des GmS-OGB nicht als Frage der Statthaftigkeit, sondern als eine sonstige Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsmittel dar (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., Vor § 115 Tz. 9; BFH-Beschluss vom 11. Februar 1991 X R 149/90, BFHE 163, 307, BStBl II 1991, 462).

4. Das FA konnte deshalb bis zur Rechtskraft des Beschlusses vom 23. April 1996 den angefochtenen Bescheid 1987 nach den Grundsätzen über die Änderung nicht bestandskräftiger Verwaltungsakte (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 163, 307, BStBl II 1991, 462) und damit auch den Einkommensteuerbescheid 1985 nach § 10d Abs. 1 Satz 2 EStG ändern. Insoweit war der nach § 169 Abs. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zum 31. Dezember 1991 eingetretene Ablauf der Festsetzungsfrist durch die Spezialvorschrift des § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG gehemmt.

5. Der Senat erkennt gemäß §§ 90a, 121 FGO durch Gerichtsbescheid.

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