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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.05.1999
Aktenzeichen: XI R 97/94
Rechtsgebiete: EStG 1987


Vorschriften:

EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 § 10d Abs. 1
EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 § 26
BUNDESFINANZHOF

Ist der Einkommensteuerbescheid wegen Verlustrücktrags zu ändern, so können Ehegatten das Veranlagungswahlrecht grundsätzlich bis zur Unanfechtbarkeit des Änderungsbescheids erneut ausüben, und zwar unabhängig von dem durch den Verlustabzug eröffneten Korrekturspielraum.

EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 § 10d Abs. 1, § 26

Urteil vom 19. Mai 1999 - XI R 97/94 -

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 1995, 480)


Gründe

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die 1985 keine eigenen Einkünfte erzielt hatte, war mit Bescheid vom 7. Dezember 1987 zusammen mit ihrem damaligen Ehemann, dem Beigeladenen, zur Einkommensteuer für 1985 veranlagt worden. Sie begann 1987 mit dem Aufbau einer kieferorthopädischen Praxis, die sie 1988 eröffnete. Ihr entstanden im Veranlagungszeitraum 1987 Betriebsausgaben, die --bei getrennter Veranlagung-- 1987 zu einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte von 6 465 DM führten.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) änderte den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid 1985 und berücksichtigte einen Verlustrücktrag in Höhe von 6 465 DM. Die bisher festgesetzte Einkommensteuer von 12 734 DM ermäßigte sich auf 10 514 DM.

Gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1985 vom 16. November 1990 legte die Klägerin Einspruch ein und begehrte, eine getrennte Veranlagung durchzuführen.

Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage trug die Klägerin vor, die Verluste, die sie aufgrund des Aufbaus der kieferorthopädischen Praxis erlitten habe, sollten ihr allein zugute kommen. Ihr Mann habe sich geweigert, die Steuererstattung 1985 an sie auszukehren. Im Falle der getrennten Veranlagung sei für sie im Streitjahr 1985 eine Steuerschuld von 0 DM zugrunde zu legen. Der bisher durchgeführte Verlustrücktrag stehe ihr in vollem Umfang als Verlustvortrag für das Jahr 1990 zu und führe dort zu einer Steuerermäßigung von 3 434 DM.

Das Finanzgericht (FG) hat den geänderten Einkommensteuerbescheid 1985 und die Einspruchsentscheidung aufgehoben und das FA verpflichtet, eine Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1985 im Wege der getrennten Veranlagung für die Klägerin durchzuführen. Es führt im wesentlichen aus, die von der Klägerin getroffene Wahl, eine getrennte Veranlagung durchzuführen, sei nicht willkürlich. Für den 1987 entstandenen Verlust sei für 1985 eine Veranlagung vorhanden, die auf Besteuerungsgrundlagen beruhe, welche zur Aufnahme dieses Verlustes bereitständen. Das FA sei zu einer Änderung des diesbezüglichen Einkommensteuerbescheids verpflichtet gewesen. Der Konflikt zwischen diesem Offizialprinzip und dem Prinzip der Neueröffnung der Wahlmöglichkeit gemäß § 26 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nach der neueren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteil vom 25. Juni 1993 III R 32/91, BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824) im Sinne des Vorrangs der Wahlmöglichkeit zu lösen. Nach der genannten Entscheidung treffe § 351 der Abgabenordnung (AO 1977) keine das Wahlrecht einschränkende Regelung. Das Antragsrecht der Klägerin sei nicht beschränkt.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung der §§ 10d, 26 EStG, §§ 172 Abs. 1 Nr. 2 d und 177 AO 1977. Es macht im wesentlichen geltend, die Entscheidung des III. Senats des BFH in BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824 sei zu § 165 AO 1977 ergangen und nicht auf Änderungen nach § 10d EStG anwendbar. Die erneute Ausübung des Wahlrechts nach § 26 EStG sei bei einer Änderung nach § 10d EStG an einen Änderungsrahmen gebunden.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie trägt im wesentlichen vor, Ehegatten solle auch bei Durchführung eines Verlustrücktrags die wirtschaftlich sinnvolle Entscheidung verbleiben, ob sie unter den neuen steuerlichen Voraussetzungen in späteren Jahren bei der ursprünglich gewählten Veranlagungsart bleiben wollen oder ob die Veranlagungsart geändert werden soll, um den größtmöglichen Steuervorteil hierdurch auszuschöpfen.

Der Senat hat mit Beschluß vom 27. August 1997 beim III. Senat des BFH angefragt, ob er einer Abweichung von seinem Urteil in BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824 zustimme. Der III. Senat hat mit Beschluß vom 6. Februar 1998 III ER -S- 4/97 geantwortet, daß er an seiner in dem Urteil in BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824 vertretenen Rechtsauffassung für die Änderungsvorschriften der AO 1977 festhalte, er jedoch keine Bedenken habe, wenn die Frage der erneuten Ausübung des Veranlagungswahlrechts im Zusammenhang mit einer Änderung nach § 10d EStG anders beantwortet werde. Die Beschlüsse sind in BFH/NV 1998, 309, und BFH/NV 1999, 160 veröffentlicht.

Die Revision des FA ist unbegründet. Sie ist gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

Zu Recht hat das FG das FA verpflichtet, die Klägerin für das Streitjahr 1985 getrennt zur Einkommensteuer zu veranlagen.

1. Nach der im Streitfall anzuwendenden Vorschrift des § 10d EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 sind Verluste im zweiten Veranlagungszeitraum, falls dies nicht möglich ist, im ersten Veranlagungszeitraum vor dem Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen. Sind für die vorangegangenen Veranlagungszeiträume bereits Steuerbescheide erlassen worden, so sind diese insoweit zu ändern, als der Verlustabzug zu gewähren oder zu berichtigen ist. Dies gilt nach § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG auch dann, wenn die Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind.

Nach ständiger Rechtsprechung enthält § 10d (Abs. 1) Sätze 2 und 3 EStG eine gegenüber den Vorschriften der AO 1977 eigenständige Korrekturvorschrift, aufgrund derer die Bestandskraft des für das Rücktragsjahr ergangenen Steuerbescheids insoweit durchbrochen wird, als ausgehend von der bisherigen Steuerfestsetzung und den dafür ermittelten Grundlagen die Steuerschuld durch die Berücksichtigung des Verlustabzugs gemindert würde (vgl. BFH-Urteil vom 27. September 1988 VIII R 432/83, BFHE 155, 83, BStBl II 1989, 225, und Senatsurteil vom 9. Juli 1992 XI R 29/91, BFHE 168, 558, BStBl II 1993, 29).

Bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten im Verlustrücktragsjahr ist nach § 26b EStG der Verlust vom Gesamtbetrag der Einkünfte beider Ehegatten abzuziehen (vgl. BFH-Urteil vom 13. November 1979 VIII R 193/77, BFHE 129, 262, BStBl II 1980, 188). Dies gilt unabhängig davon, ob derjenige Ehegatte, bei dem der Verlust entstanden ist, im Rücktragsjahr eigene Einkünfte hatte. Allerdings können Ehegatten die Veranlagungsart gemäß § 26 EStG bis zur Unanfechtbarkeit eines Berichtigungs- oder Änderungsbescheids wählen und die einmal getroffene Wahl innerhalb dieser Frist --vorbehaltlich rechtsmißbräuchlichen oder willkürlichen Verhaltens (vgl. BFH-Urteil vom 10. Januar 1992 III R 103/87, BFHE 166, 295, BStBl II 1992, 297, m.w.N.)-- frei widerrufen.

2. Für den Fall des Verlustrücktrags ist der VIII. Senat des BFH davon ausgegangen, daß Ehegatten zum Widerruf der getroffenen Wahl befugt sind, wenn dadurch der durch den Verlustabzug eröffnete Korrekturspielraum bei beiden weder über- noch unterschritten wird (BFH-Urteil vom 27. September 1988 VIII R 98/87, BFHE 155, 91, BStBl II 1989, 229). Der erkennende Senat folgt --entgegen seiner im Anrufungsbeschluß in BFH/NV 1998, 309 geäußerten Ansicht-- dieser Rechtsmeinung nicht. Er ist vielmehr der Auffassung, daß auch bei der Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids nach § 10d EStG das Veranlagungswahlrecht grundsätzlich unabhängig davon erneut ausgeübt werden kann, inwieweit durch den Verlustabzug die Bestandskraft durchbrochen wird. Der Senat hat mit Urteil vom 20. Januar 1999 XI R 31/96 für den Fall einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 entschieden, daß die Berechtigung der Ehegatten, ihr Veranlagungswahlrecht zu widerrufen, nicht durch den Änderungsrahmen beschränkt wird. Die Korrekturvorschrift des § 10d EStG weist in bezug auf die Durchbrechung der Bestandskraft und im Verhältnis zum Veranlagungswahlrecht der Ehegatten gegenüber den Änderungsvorschriften der AO 1977 keine Besonderheiten auf, die es rechtfertigen könnten, die erneute Ausübung des Veranlagungswahlrechts durch den Korrekturspielraum zu beschränken.

§ 10d Abs. 1 Sätze 2 und 3 EStG gehört wie die Änderungsvorschriften der AO 1977 zu den Vorschriften i.S. des § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d AO 1977, die unter bestimmten Voraussetzungen und in deren Grenzen die Durchbrechung der materiellen Bestandskraft des Steuerbescheids zulassen. Die Rückwirkung der Verwirklichung eines Sachverhalts auf einen früheren Veranlagungszeitraum beim Verlustabzug entspricht dem Grundgedanken des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 (vgl. Bericht des Finanzausschusses zum Einkommsteuer-Änderungsgesetz vom 20. April 1976, BTDrucks 7/4705, S. 4); aus ihr läßt sich eine Beschränkung der erneuten Ausübung des Ehegattenwahlrechts auf den durch den Verlustabzug eröffneten Korrekturspielraum nicht herleiten.

Abgesehen davon, daß die im Urteil in BFHE 155, 91, BStBl II 1989, 229 geäußerte Rechtsmeinung für die Entscheidung des VIII. Senats nicht tragend war, braucht der erkennende Senat wegen der Abweichung auch deshalb nicht beim VIII. Senat anzufragen, weil mittlerweile die Zuständigkeit für Einkommensteuer betreffend Verlustabzug, wenn Fragen des § 10d EStG streitig sind, auf ihn übergegangen ist.

3. Bei Anwendung der vorstehenden Rechtsgrundsätze auf den Streitfall war die Klägerin berechtigt, ihre Zustimmung zur Zusammenveranlagung für das Streitjahr 1985 zu widerrufen und nunmehr die getrennte Veranlagung zu wählen. Aufgrund des von ihr 1987 erzielten Verlustes war der Einkommensteuerbescheid 1985 nach § 10d EStG von Amts wegen zu ändern, wobei der durch den Verlustabzug eröffnete Korrekturspielraum die erneute Ausübung des Ehegattenwahlrechts nicht beschränkte. Obgleich die Klägerin im Streitjahr keine eigenen Einkünfte bezogen hatte, war ihr Antrag, nunmehr getrennt veranlagt zu werden, nicht willkürlich. Ihr Interesse, den von ihr erwirtschafteten Verlust in späteren Jahre vorzutragen, um dadurch ihre Einkommensteuer zu mindern, ist als Grund für die erneute Ausübung des Wahlrechts anzuerkennen. Aufgrund ihrer Wahl ist eine getrennte Veranlagung durchzuführen (§ 26 Abs. 2 Satz 1 EStG).

Ende der Entscheidung

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