Judicialis Rechtsprechung
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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 25.07.2000
Aktenzeichen: 1 StR 169/00
Rechtsgebiete: StPO, MRK
Vorschriften:
StPO § 141 Abs. 3 | |
MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d |
1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs. 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist.
2. Der Verteidiger muß regelmäßig Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen.
3. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses. Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.
BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00 - LG Ravensburg
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
vom
25. Juli 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juli 2000, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Maul, Nack, Dr. Boetticher, Dr. Kolz,
Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwälte ,
und Rechtsanwältin als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 16. Dezember 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sexualdelikten (u.a. Vergewaltigung) zum Nachteil seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer auf den Verstoß gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) gestützten Verfahrensrüge Erfolg.
I.
Zentral für die Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten ist die Aussage der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter. Dieser wurde als Zeuge gehört, nachdem die Geschädigte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte.
Die Revision macht mit einer Verfahrensrüge geltend, die ermittlungsrichterliche Vernehmung leide an einem schwerwiegenden Mangel. Bei der Vernehmung der Geschädigten habe der Ermittlungsrichter den nicht in Freiheit befindlichen und noch nicht verteidigten Angeklagten nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen und zugleich nach § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO angeordnet, daß eine Benachrichtigung von dem Vernehmungstermin zu unterbleiben habe. Eine Verteidigerbestellung vor der Vernehmung sei nicht erfolgt. Gleichwohl habe das Landgericht die Verurteilung entscheidend auf die Bekundungen der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter gestützt, wobei keine anderen wichtigen Beweismittel vorgelegen hätten. In dieser Vorgehensweise liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK in Verbindung mit § 141 Abs. 3 StPO. Die Revision bezieht sich insoweit auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24. November 1986 (EuGRZ 1987, 147 - Fall Unterpertinger).
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Anfang November 1997, kurz nach der letzten Tat, flüchtete die Geschädigte zu ihrer Tante, der sie von dem sexuellen Mißbrauch berichtete. Die Tante erstattete am 7. November 1997 Strafanzeige. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Vergewaltigung in 304 Fällen eingeleitet. Noch am selben Tage wurde die Geschädigte polizeilich vernommen. Am 8. November 1997 wurde der Angeklagte vorläufig festgenommen und - nach Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO - polizeilich vernommen. Am 9. November 1997 erließ das Amtsgericht Haftbefehl. Dem Angeklagten wurde eine Vielzahl von Vergehen des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und von Verbrechen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung zur Last gelegt. Bei der am selben Tag erfolgten Anhörung durch den Haftrichter wurde der Angeklagte "darüber belehrt, daß er, bevor er sich entschließe zum Vorwurf Stellung zu nehmen, einen Anwalt seiner Wahl zu Rate ziehen könne". Der Angeklagte äußerte sich dazu nicht. Zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen machte er keine Angaben.
Noch bevor der Angeklagte einen Verteidiger beauftragt hatte, stellte die Staatsanwaltschaft am 10. November 1997 beim Amtsgericht den Antrag, die Geschädigte richterlich zu vernehmen. Dabei sollte der Angeklagte nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen werden; auch eine Benachrichtigung sollte unterbleiben. Diesem Antrag folgte der Ermittlungsrichter und vernahm die Geschädigte am selben Tag. Die Geschädigte machte nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht Angaben, die den Angeklagten belasteten.
Am 17. November beauftragte der Angeklagte einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung, der sich am Folgetag beim Amtsgericht legitimierte und um alsbaldige Akteneinsicht und vorab um die Einsichtnahme in die privilegierten Aktenteile nach § 147 Abs. 3 StPO bat. Mitte Dezember 1997 gab die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Gelegenheit, das Protokoll der richterlichen Vernehmung der Geschädigten einzusehen. Vollständige Akteneinsicht erhielt der Verteidiger erst Anfang April 1998. Im Rahmen eines Haftbeschwerdeverfahrens wies der Verteidiger am 20. März 1998 darauf hin, daß es unklar sei, ob die Geschädigte in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen würde. Wenn dieser Fall eintreten würde, hätte der Angeklagte keine Möglichkeit zur Befragung der Zeugin gehabt, zumal ihm bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten kein Verteidiger bestellt worden sei.
Am 30. März 1998 wurden die Ehefrau des Angeklagten und die Schwester der Geschädigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Ermittlungsrichter vernommen. Auch von der Anwesenheit bei diesen Vernehmungen wurde der Angeklagte antragsgemäß ausgeschlossen. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft wurde jedoch der Verteidiger des Angeklagten von den Terminen benachrichtigt; er nahm an den Vernehmungen teil.
Vor Beginn der Hauptverhandlung teilten die Geschädigte, ihre Schwester sowie die Ehefrau des Angeklagten dem Gericht mit, sie würden von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Das Landgericht hat deshalb den Ermittlungsrichter als Zeugen gehört, der bekundete, was diese Zeugen des Angeklagten bei ihm ausgesagt hatten. Gegen den vor der Vernehmung des Ermittlungsrichters erhobenen Widerspruch des Verteidigers wurde die Aussage des Ermittlungsrichters verwertet.
II.
1. Nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (der im Wortlaut mit Art. 14 Abs. 3 Buchst. e IPbürgR übereinstimmt) hat der Angeklagte das Recht, "Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen".
Dieses Fragerecht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert: Urteile vom 24. November 1986 - 1/1985/87/134 - Unterpertinger gegen Österreich = EuGRZ 1987, 147; vom 6. Dezember 1988 - 24/1986/122/171-173 - Barberà gegen Spanien; vom 7. Juli 1989 - 19/1987/142/196 - Bricmont gegen Belgien; vom 20. November 1989 - 10/1988/154/208 - Kostovski gegen Niederlande = StV 1990, 481; vom 27. September 1990 - 25/1989/185/245 - Windisch gegen Österreich = StV 1991, 193; vom 19. Dezember 1990 - 26/1989/186/246 - Delta gegen Frankreich; vom 19. Februar 1991 - 1/1990/192/252 - Isgrò gegen Italien; vom 19. März 1991 - 24/1990/215/277 - Cardot gegen Frankreich = EuGRZ 1992, 437; vom 26. April 1991 - 30/1990/221/283 - Asch gegen Österreich = EuGRZ 1992, 474; vom 28. August 1992 - 39/1991/291/362 - Artner gegen Österreich = EuGRZ 1992, 476; vom 20. September 1993 - 33/1992/378/452 - Saïdi gegen Frankreich; vom 26. März 1996 - 54/1994/501/583 - Doorson gegen Niederlande und vom 7. August 1996 - 48/1995/554/640 - Ferrantelli and Santangelo gegen Italien. Danach gilt:
a) Die Garantie des Fragerechts ist eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens - "specific aspect of the general concept of fair trial - (Fälle Unterpertinger Nr. 29; Barberà Nr. 67; Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 23; Asch Nr. 25; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Dabei wird das Fragerecht auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Recht der Verteidigung insgesamt verstanden (BGH StV 1996, 471).
b) Die Ausgestaltung des Fragerechts ist primär dem nationalen Recht überlassen (Fälle Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; siehe auch BGHSt 45, 321 und Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Art. 6 MRK Rdn. 216). Das gesamte Beweisverfahren muß allerdings im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts gesehen werden: "the whole matter of the taking and presentation of evidence must be looked at in the light of paragraphs ... 3 of Article 6 of the convention" (Fall Barberà Nr. 76).
Die Vertragsstaaten müssen daher das Fragerecht entsprechend ausgestalten: "Paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph 3, also requires the Contracting States to take positive steps, in particular ... to enable him [the accused] to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him" (Fall Barberà Nr. 78).
c) Für die Frage eines Konventionsverstoßes kommt es nach ständiger Rechtsprechung des EGMR darauf an, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung fair gewesen ist: "The Court's task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair" (Fälle Barberà Nr. 89; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; ebenso Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 216). Insoweit sind maßgebliche Kriterien:
aa) Die Beweisgewinnung muß grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung erfolgen: "The Court infers, as the Commission did, that all the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument" (Fälle Barberà Nr. 78; Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Der Angeklagte muß grundsätzlich Zeugen befragen können: "... the hearing of witnesses must in general be adversarial" (Fall Barberà Nr. 78).
bb) Das bedeutet allerdings nicht, daß die Zeugenaussage stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden muß; auch kann aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK kein Recht abgleitet werden, bei der Zeugenvernehmung im Vorverfahren anwesend zu sein (Vogler, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Art. 6 Rdn. 551). Die Verwertung von Aussagen, die im Vorverfahren gemacht wurden, ist als solche nicht konventionswidrig (Fälle Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Asch Nr. 27; siehe dazu auch Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar 2. Aufl. Art. 6 Rdn. 200). Das polizeiliche Vernehmungsprotokoll darf als Surrogat verlesen werden (Fälle Unterpertinger Nr. 31; Asch Nr. 25), und auch die Vernehmungs-personen dürfen als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden (Fälle Kostovski Nr. 42; Asch Nr. 25).
Bei bestimmten Konstellationen darf auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden, etwa aus Gründen des Zeugenschutzes (Fälle Unterpertinger Nr. 30; Doorson Nr. 70), oder wenn zu befürchten ist, daß der Zeuge in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde (Vogler aaO Rdn. 552). Eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen ist daher nicht in jedem Fall zwingend geboten, um die Aussage verwertbar zu machen (Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 225; vgl. auch Fälle Bricmont Nrn. 79, 86; Ferrantelli u.a. Nr. 52).
cc) Allerdings muß die Justiz eine solche Einschränkung des Fragerechts durch andere Maßnahmen kompensieren: " ... principles of fair trial also require that in appropriate cases the interests of the defence are balanced against those of witnesses or victims called upon to testify.... Nevertheless, no violation of Article 6 para. 1 taken together with Article 6 para. 3 (d) of the Convention can be found if it is established that the handicaps under which the defence laboured were sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities" (Fall Doorson Nrn. 70, 72; vgl. auch Fall Kostovski Nr. 43).
Dem Angeklagten muß regelmäßig - entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium - eine angemessene und geeignete Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen entweder selbst zu befragen oder befragen zu lassen: "As a rule, these rights require that an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either at the time the witness was making his statement or at some later stage of the proceedings" (Fall Kostovski Nr. 41; siehe auch die Fälle Unterpertinger Nr. 31; Barberà Nr. 86; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Gollwitzer (aaO Art. 6 MRK Rdn. 227) interpretiert dies zutreffend dahin, daß dem auch nachträglich, etwa durch eine nochmalige Vernehmung des Zeugen, Rechnung getragen werden kann. Dabei reicht es nicht aus, nur die Vernehmungsperson befragen zu können, denn Zeuge im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK ist die originäre Auskunftsperson (Fälle Kostovski Nr. 40; Asch Nr. 25; ebenso BGH StV 1996, 471; BGH NStZ 1993, 292; Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 214, 223).
Unter Umständen kann die Einschränkung des Fragerechts seitens des Angeklagten dadurch kompensiert werden, daß wenigstens der Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist und den Zeugen befragen kann (Fall Doorson Nrn. 68, 73: anonymer Zeuge; Vogler aaO Art. 6 Rdn. 552).
dd) Für die Frage eines Konventionsverstoßes ist es auch bedeutsam, ob der Angeklagte auf die Befragung des Zeugen rechtzeitig beantragt hat (vgl. einerseits die Fälle Windisch Nr. 37; Delta Nr. 37: ausdrücklicher Antrag und andererseits die Fälle Cardot Nr. 35; Asch Nr. 29: keinen Antrag gestellt; siehe auch Vogler aaO Art. 6 Rdn. 551), und ob die Ablehnung der Befragung begründet wurde (Fall Bricmont Nr. 89).
d) Eine ähnliche Fallgestaltung wie die vorliegende - Rückgriff auf frühere Bekundungen eines Zeugen, der in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht - liegt den österreichischen Fällen Unterpertinger und Asch zugrunde.
aa) Alois Unterpertinger wurde vom Landesgericht Innsbruck wegen zwei Fällen der Körperverletzung verurteilt. Im ersten Fall hatte er seiner Stieftochter im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten (seine Frau hatte ihn einen "Zuchthäusler" genannt) eine Kratzwunde am Auge zugefügt. Im zweiten Fall hatte er seiner Ehefrau einen Fußtritt gegen die Hand versetzt und ihr dabei den Daumen gebrochen. Zu dem ersten Vorfall vernahm das Gendarmeriepostenkommando Wörgl die Ehefrau als Verdächtige und die Stieftochter als Beteiligte. Wegen des zweiten Vorfalls erstattete die Ehefrau Anzeige beim Gendarmeriepostenkommando Wörgl. Das Bezirksgericht in Kufstein leitete Vorerhebungen wegen der beiden Vorfälle ein. Die Ehefrau wurde vor dem Untersuchungsrichter als Zeugin vernommen und bestätigte - nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht - ihre bisherigen Angaben.
In der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck machten die Ehefrau und die Stieftochter von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Aufgrund der Zeugnisverweigerung durfte nach § 252 Abs. 1 der Österreichischen Strafprozeßordnung das Protokoll über die Vernehmung der Ehefrau vor dem Untersuchungsrichter nicht verlesen werden. Nach Österreichischem Recht (OGH ÖJZ 1975, 304) mußten jedoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft Schriftstücke anderer Art (§ 252 Abs. 2 StPO), insbesondere die Aussagen der Zeuginnen vor der Gendarmerie, zu Beweiszwecken verlesen werden. Das Oberlandesgericht Innsbruck verwarf die Berufung des Angeklagten. Bei der Wiederholung und Ergänzung der Beweisaufnahme konnte die als Entlastungszeugin gehörte Schwägerin des Angeklagten nichts relevantes bekunden; weitere Zeugen wurden nicht gehört, da sie nur zu unwesentlichen Nebenumständen benannt worden waren.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise kein faires Verfahren und entschied, daß durch diese Vorgehensweise Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK verletzt worden seien. Durch die Zeugnisverweigerung vor Gericht hätten die Zeuginnen den Angeklagten daran gehindert, ihnen Fragen zu den vor der Gendarmerie gemachten Bekundungen zu stellen oder stellen zu lassen. Zwar habe er Erklärungen dazu abgeben können, aber das Berufungsgericht sei seinen Beweisanträgen zur Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen nicht nachgegangen. Auch wenn die Bekundungen der Zeuginnen nicht die einzigen Beweismittel gewesen seien, so habe das Berufungsgericht doch sein Urteil entscheidend auf deren Angaben gestützt. In bezug auf diese Aussagen seien seine Verteidigungsrechte verletzt worden, weil er in keinem Stadium des vorausgegangenen Verfahrens die Möglichkeit gehabt habe, Fragen an die Belastungszeuginnen zu stellen.
bb) Johann Asch wurde vom Kreisgericht St. Pölten wegen Nötigung und Körperverletzung verurteilt. Er hatte seine Lebensgefährtin mit einem Gürtel geschlagen. Am nächsten Tag schickte der Arzt die Geschädigte in ein Krankenhaus; die Ärzte attestierten ihre Verletzungen. Danach zeigte die Lebensgefährtin den Angeklagten bei der Gendarmerie Brand-Laaben an. Über ihre Bekundungen wurde ein Protokoll aufgenommen. Wenige Tage später erschien die Lebensgefährtin bei der Gendarmerie und wollte ihre Anzeige zurückziehen. Am selben Tag wurde der Angeklagte bei der Gendarmerie angehört.
In der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht machte die Lebensgefährtin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Das Kreisgericht hörte daraufhin den Vernehmungsbeamten der Gendarmerie, der über die ihm gegenüber gemachten Angaben der Lebensgefährtin und von den ihm dabei gezeigten Verletzungen berichtete. Auch verlas es das Vernehmungsprotokoll. Das Kreisgericht stützte sich bei seiner Überzeugung unter anderem auf die Angaben des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste. Das Oberlandesgericht Wien verwarf die Berufung des Angeklagten. Es hielt die Angaben der Lebensgefährtin vor der Gendarmerie nach § 252 StPO für verwertbar. Den Antrag des Angeklagten auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens lehnte das Oberlandesgericht ab.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise keine Verletzung des fairen Verfahrens. Es wäre sicherlich vorzuziehen gewesen, wenn die persönliche Anhörung der Zeugin möglich gewesen wäre. Aber das Recht, auf das sie sich zur Zeugnisverweigerung berief, könne nicht dazu dienen, die Strafverfolgung lahmzulegen. Wenn nur die Rechte der Verteidigung beachtet würden, habe das nationale Gericht die Aussage der Zeugin verwerten können, insbesondere im Hinblick darauf, daß die Aussage durch weitere Beweismittel, namentlich die ärztlichen Atteste, gestützt wurde. Zudem habe der Angeklagte sowohl bei der Gendarmerie als auch vor Gericht Gelegenheit gehabt, zu den Angaben der Zeugin Stellung zu nehmen; dabei habe er widersprüchliche Angaben gemacht, die seine eigene Glaubwürdigkeit erschütterten. Außerdem habe der Angeklagte weder den Vernehmungsbeamten befragt, noch andere Zeugen benannt. Ein medizinisches Sachverständigengutachten habe er erst in der Berufungsinstanz beantragt, zu einem Zeitpunkt, als Verletzungsspuren nicht mehr feststellbar waren. Vor allem aber sei klar, daß die Angaben der Zeugin vor der Gendarmerie nicht das einzige Beweismittel gewesen seien, auf das sich das Kreisgericht gestützt habe. Das Gericht habe neben anderen Beweismitteln auch den persönlichen Eindruck des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste berücksichtigt. Insofern unterscheide sich der vorliegende Fall von den Fällen Unterpertinger und Delta.
2. Diese Auslegung der MRK durch den EGMR ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozeßrechts zu berücksichtigen. Der Senat hat dazu im Urteil vom 18. November 1999 (Tatprovokation, Umsetzung der Entscheidung Teixeira = NJW 2000, 1123, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 321) ausgeführt:
"Es entspricht den Grundregeln des Verfahrens vor dem EGMR, daß sich seine Entscheidung darauf beschränkt zu erklären, daß das Gerichtsurteil einer Vertragspartei der MRK in Widerspruch mit den Verpflichtungen aus dieser Konvention steht. Gestatten die innerstaatlichen Gesetze der Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Entscheidung, so hat der EGMR nach Art. 50 MRK (aufgrund der am 1. November 1998 in Kraft getretenen Änderung der Konvention durch das Protokoll Nr. 11 [BGBl. II 1995 S. 578] nunmehr Art. 41 MRK) der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Dem EGMR obliegt es somit nicht, nationale Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln aufzustellen. Der Gerichtshof betont dementsprechend, die Zulässigkeit von Beweismitteln werde in erster Linie durch die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts geregelt und es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, die von ihnen zusammengetragenen Beweise zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs bestehe darin festzustellen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Darstellung der Beweismittel fair gewesen sei.
Die MRK, die nach Art. II des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist und dabei im Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes steht (BVerfGE 74, 358, 370), ist als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei den in einem Strafverfahren angewendeten Gesetzen stets zu prüfen, ob die Anwendung und Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht, 'denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will' (BVerfGE aaO; vgl. Ulsamer, FS Zeidler [1987] 1799, 1800)."
III.
Die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts - hier § 141 Abs. 3 StPO - führt dazu, daß in Fällen der vorliegenden Art dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden muß.
1. Das Gesetz schreibt, wie § 141 Abs. 3 Satz 1 StPO zeigt, auch in Fällen, in denen später im gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird, für das Vorverfahren nicht ausnahmslos die Bestellung eines Verteidigers vor. Nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO "beantragt" die Staatsanwaltschaft jedoch schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Verteidigers, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird.
a) In der traditionellen Sprache des Gesetzes (vgl. auch § 201 Abs. 1 StPO: "Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit" und § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO) bedeutet dies, daß die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen muß, sobald die Mitwirkung des Verteidigers notwendig sein wird (ähnlich Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 141 Rdn. 5; Pfeiffer, StPO 2. Aufl. § 141 Rdn. 2). "Notwendig sein wird" heißt, daß die Pflicht zur Antragstellung schon dann entsteht, wenn abzusehen ist, daß die Mitwirkung notwendig werden wird (Laufhütte in KK 4. Aufl. § 141 Rdn. 3).
Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 StPO zur Verteidigerbestellung im Vorverfahren. Das StPÄG 1964 fügte an den damals bestehenden Satz, daß der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden kann (heutiger Satz 1 des Abs. 3), die Sätze an: "Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag stellen, falls die Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird." Seine heutige Fassung erhielt § 141 Abs. 3 StPO durch das 1. StVRG vom 9. Dezember 1974. Die Erweiterung der Verteidigerbestellung und die immer strengeren Formulierungen der Anweisung an die Staatsanwaltschaft (von einer Kann- zu einer Soll-Bestimmung und schließlich zu den Worten "beantragt dies") machen deutlich, daß der Gesetzgeber die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker ausbauen wollte und deshalb eine Antragspflicht gesetzlich vorgeschrieben hat.
Zwar bestimmt § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO, daß dem unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger für die Dauer der Untersuchungshaft bestellt wird, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter es beantragt. Daraus kann indes nicht der Schluß gezogen werden, daß die Staatsanwaltschaft mit der Antragstellung stets drei Monate zuwarten darf. Diese Regelung stellt angesichts der Gesetzesentwicklung zu § 141 Abs. 3 StPO nur eine Mindestgarantie dar (vgl. Rundverfügung des Hessischen Generalstaatsanwalts vom 11. Januar 1994 zur Pflichtverteidigung nach einem Monat U-Haft, abgedruckt in StV 1994, 223).
b) Ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen, kann hier dahinstehen.
aa) Jedenfalls dann, wenn die ermittlungsrichterliche Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ansteht, bei der der Beschuldigte kein Anwesenheitsrecht hat, wird in der Regel geboten sein zu prüfen, ob dem nicht verteidigten Beschuldigten zuvor ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen ist, der die Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung wahrnimmt (Wache in KK 4. Aufl. § 168c Rdn. 8; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 168c Rdn. 4; vgl. auch Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 168c Rdn. 9). Diese Prüfung obliegt nach § 141 Abs. 3 StPO in erster Linie der Staatsanwaltschaft. Dies entbindet den Ermittlungsrichter indes nicht von der Verantwortung, für ein konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu tragen.
bb) Wird darüber hinaus der zentrale zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge unter Ausschluß des Beschuldigten aus Gründen der Beweissicherung ermittlungsrichterlich vernommen, so reduziert sich das Ermessen bei der Frage der Bestellung eines Verteidigers auf Null. Anderes mag dann gelten, wenn die durch die Zuziehung eines Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den Untersuchungserfolg gefährden würde. Nur diese Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit der Vorgabe der MRK vereinbar. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierte Fragerecht auch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht gewährleistet werden kann.
2. Hier durfte der Angeklagte zwar von der Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten ausgeschlossen werden und auch seine Benachrichtigung konnte unterbleiben (§ 168c StPO). Sowohl der Ermittlungsrichter als auch das erkennende Gericht haben die Gefährdung des Untersuchungserfolgs geprüft und bejaht. Die revisionsgerichtliche Prüfung (vgl. dazu BGHSt 29, 1) läßt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere liegt keine Überschreitung der dem tatrichterlichen Ermessen gesetzten Schranken vor. Daß so verfahren werden kann, entspricht auch der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 MRK (siehe oben). Ein Verteidiger konnte nicht benachrichtigt werden, denn der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigt.
3. Dieses gesetzlich zulässige "handicap" bei der Einschränkung des Fragerechts hätte die Justiz dann aber durch die Bestellung eines Verteidigers für den unverteidigten Angeklagten ausgleichen müssen.
Bei der im Hinblick auf das faire Verfahren vorzunehmenden Gesamtbetrachtung ist auch das Vorverfahren - und damit das Handeln der Staatsanwaltschaft - in den Blick zu nehmen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK: "dem Staat zuzurechnenden Verfahrensgestaltung"). In Fällen der vorliegenden Art muß die Justiz von sich aus aktiv werden mit dem Ziel, daß die Verteidigung (zum Begriff siehe BGH StV 1996, 471) Gelegenheit hat, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen ("requires the Contracting States to take positive steps": EGMR Fall Barberà Nr. 78).
Das Fragerecht wäre gewährleistet gewesen, wenn ein Verteidiger bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung anwesend gewesen wäre. Da der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt keinen Verteidiger hatte, wäre die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, vor der Vernehmung der Zeugin die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen (§ 141 Abs. 3 Satz 2 StPO).
Hier war im Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung bereits abzusehen, daß im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO vorliegen würden. Dem Angeklagten wurden bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens zahlreiche Sexualverbrechen (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) zur Last gelegt. Die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten hatte einen hohen Beweiswert. Zu Recht hat deshalb der Haftrichter einen dringenden Tatverdacht bejaht. Damit war aber auch schon zu diesem Zeitpunkt abzusehen, daß in dem hochwahrscheinlich zu erwartenden gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung vorliegen würden.
Eine Verletzung des Fragerechts war hier zu besorgen, nachdem der Angeklagte - auf Antrag der Staatsanwaltschaft - nicht benachrichtigt und von der Anwesenheit ausgeschlossen wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte den Antrag gestellt, die Zeugin "möglichst bald" richterlich zu vernehmen, da befürchtet werden müsse, der Angeklagte werde "alles unternehmen, möglicherweise auch durch Dritte, um seine Tochter von der Aussage abzuhalten". Das weist aus, daß die ermittlungsrichterliche Vernehmung insbesondere dem legitimen (vgl. Nr. 10, 19a, 221, 222 RiStBV) Zweck der Beweissicherung - Rückgriff auf den Vernehmungsrichter - für den Fall einer späteren Zeugnisverweigerung dienen sollte. Wenn aber dieser auch von der Staatsanwaltschaft für naheliegend gehaltene Fall eintreten würde, dann war abzusehen, daß das Fragerecht nicht zu gewährleisten war.
4. Die im Hinblick auf die Garantie des Fragerechts Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK vorzunehmende Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO führt daher dazu, daß die Staatsanwaltschaft verpflichtet war, die Bestellung eines Verteidigers nach dieser Vorschrift (also nicht nur für die einzelne Ermittlungshandlung) noch vor der Zeugenvernehmung zu beantragen. Hier sind keine Umstände erkennbar, die es gerechtfertigt hätten, daß auch die Benachrichtigung des bestellten Verteidigers unterbleiben konnte (die Entscheidung BGHSt 29, 1 betrifft einen anderen Fall: ein bereits tätiger Verteidiger wurde aus Gründen, die in seiner Person lagen, nicht benachrichtigt).
a) Angemessen und geeignet ist dieser Ausgleich grundsätzlich aber nur, wenn der Verteidiger zu einer sachgerechten Mitwirkung an der Vernehmung auch in der Lage war.
In Fällen der vorliegenden Art läßt sich die Zuverlässigkeit der Belastungsaussage des einzigen Tatzeugen in der Regel nur dann beurteilen - insbesondere kann nur so die Hypothese einer bewußten Falschbeschuldigung ausgeschlossen werden -, wenn der Inhalt der Aussage einer Analyse unterzogen werden kann (sog. Aussageanalyse, grundlegend dazu BGHSt 45, 164). Zentral dafür ist die Detailliertheit der Aussage. Eine Aussage kann mittels der Aussageanalyse nur dann als glaubhaft beurteilt werden, wenn sie signifikante Realitätskriterien aufweist. In bezug auf das Fragerecht muß dabei den Detailkriterien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, namentlich den Realkennzeichen, die eine Verflechtung mit objektivierbaren zeitlichen und örtlichen Umständen belegen.
Deshalb muß der Verteidiger - soll das Fragerecht nicht beeinträchtigt sein - regelmäßíg Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen, weil er nur so in der Lage ist, sachkundige Fragen, insbesondere Kontrollfragen, wie Situationsfragen (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2. Aufl. Band II Rdn. 610) zu stellen. Solche Fragen - nicht notwendig zum engen Kern des Tatvorwurfs -, mit denen insbesondere die zeitliche und räumliche Verflechtung der Aussagedetails überprüft wird, können regelmäßig nur mit einem entsprechenden Hintergrundwissen gestellt werden.
b) Auch wenn der Verteidiger die Möglichkeit der Rücksprache mit dem Beschuldigten hatte, können ergänzende Fragen an den Zeugen erforderlich sein, deren Notwendigkeit sich erst ergibt, nachdem der Beschuldigte vom Inhalt der Zeugenaussage Kenntnis erlangt hat. Hier kann eine durch die Abwesenheit des Beschuldigten bedingte Beeinträchtigung des Fragerechts dadurch ausgeglichen werden, daß die Verteidigung Gelegenheit erhält, auch nachträglich Fragen an den Zeugen zu stellen oder stellen zu lassen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 227). Die nachträgliche Befragung kann auch durch Vorlage eines schriftlichen Fragenkatalogs erfolgen, zumal auf diese Weise weitgehend ausgeschlossen werden kann, daß der Untersuchungszweck gefährdet wird. Da in Fällen der vorliegenden Art der Zeuge nicht anonym ist, kommen die Bedenken des EGMR (vgl. die Fälle Kostovski Nr. 42; Windisch Nr. 28 einerseits und den Fall Isgrò Nr. 35 andererseits) zur schriftlichen Befragung des anonymen Zeugen nicht zum Tragen.
c) Der Senat hat hier nicht über den - möglicherweise anders zu beurteilenden - Fall zu entscheiden, daß durch ein Zusammenwirken des Verteidigers mit dem Beschuldigten (vgl. BGHSt 29, 1) oder auch nur allein als Folge der Konsultation der Untersuchungszweck gefährdet sein könnte. Hier könnte allerdings wenigstens eine nachträgliche (schriftliche) Befragung angezeigt sein.
d) In künftigen Fällen kann auch eine Vernehmung mittels Videokonferenz nach § 168e StPO eine angemessene und geeignete, und oft sogar die beste Möglichkeit sein, um das Fragerecht zu gewährleisten.
IV.
Das Unterlassen der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers hat das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung beeinträchtigt. Dieses Versäumnis mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses, das durch den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter zur Grundlage der Urteilsfindung wurde. Damit wirkte der im Vorverfahren begangene Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung fort; das unterliegt der revisionsgerichtlichen Prüfung (§ 337 StPO; vgl. BGHR StPO § 349 Abs. 1 Unzulässigkeit 1).
1. Der Senat hält eine Beweiswürdigungs-Lösung für sachgerechter als ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter. Bei der Beweiswürdigungs-Lösung darf zwar auf den Vernehmungsrichter zurückgegriffen werden, allerdings sind dann - ähnlich wie beim anonymen Zeugen (grundlegend BGHSt 17, 382; vgl. zuletzt BGH NStZ 1998, 97; StV 1999, 7; NStZ 2000, 265; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 27; siehe auch BVerfG - Kammer - NJW 1997, 999 sowie BGHSt 45, 321: konventionswidrige Tatprovokation) - besonders strenge Beweis- und Begründungsanforderungen aufzustellen.
a) Auch das grundsätzlich bestehende Verwertungsverbot des § 252 StPO (vgl. BGH NJW 2000, 596, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 203 und BGH NJW 2000, 1247, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 342) gilt nicht uneingeschränkt.
Zwar kann der Rückgriff auf den Vernehmungsrichter ausgeschlossen sein, wenn gegen die Benachrichtigungspflicht der §§ 168c, 224 StPO verstoßen wurde (BGHSt 9, 24; 29, 1; 26, 332; 29, 131, 140; 42, 86; 42, 391; BGH NStZ 1987, 132; 1989, 282).
In seiner neueren Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten aber mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und deshalb eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll nach § 252 Abs. 2 Satz 2 StPO mit geringerem Beweiswert "herabgestuft" wird (BGHSt 34, 231, 234, 235; BGH StV 1992, 232; BGH NStZ 1998, 312).
Auch hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 29, 1; 42, 391) bei einem berechtigten Ausschluß von der Anwesenheit oder einer berechtigten Nichtbenachrichtigung kein Verwertungsverbot aufgrund fehlender Beteiligungsrechte angenommen.
b) Für die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts ist eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens vorzunehmen. Dazu gehört, daß das gesamte Beweisverfahren im Lichte des Fragerechts gesehen werden muß (vgl. Fall Barberà Nr. 76). Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es dabei zudem auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an. Unter diesem Gesichtspunkt stellt der EGMR zwar in erster Linie auf das Beweisverfahren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab. Jedoch findet im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die Beweiswürdigung Berücksichtigung, wie gerade die Differenzierung des EGMR in den Fällen Unterpertinger und Asch zeigt. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall abhängt, liegt es nahe, eine dem konkreten Fall gerecht werdende Lösung zu finden. Das ist mit der Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen; sie hält der Senat deshalb für vorzugswürdig.
Bei der Beweiswürdigungs-Lösung ist zwar zu bedenken, daß auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht mitwirken konnte. Aber insofern ist die Verteidigung in einer ähnlichen Lage wie bei dem "im Dunkel bleibenden" (BGHSt 17, 382, 386) anonymen Zeugen. Dort ist die Beeinträchtigung des Fragerechts häufig sogar noch stärker, weil nicht einmal die Person des Zeugen bekannt ist und weil auf bestimmte Fragen oft keine Antwort gegeben wird. Wenn daher die Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein konventionsgemäßer Ausgleich ist, muß dies auch für die vorliegende Fallgestaltung gelten.
Auf die Vergleichbarkeit der Problematik des Fragerechts hat der Bundesgerichtshof bereits in BGHSt 17, 382, 385 f. hingewiesen: "Einem anonymen Gewährsmann gegenüber versagen jedoch nicht nur die Rechte aus den §§ 240, 257 StPO - insoweit ist die Lage nicht wesentlich anders, als wenn der Wissensträger zwar bekannt ist, in der Hauptverhandlung aber nicht vernommen werden kann - ...".
Die Verneinung eines Verwertungsverbots erweist sich auch systemkonform mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem Konventionsverstoß aufgrund einer unzulässigen Tatprovokation (BGHSt 45, 321).
2. Daß das Vernehmungsergebnis infolge unterbliebener Verteidigerbestellung fehlerhaft zustande gekommen ist, muß daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere Beachtung finden. Diese muß vor allem zwei Anforderungen genügen:
a) Zunächst ist zu beachten, daß der originäre Zeuge in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung steht. Dazu gilt, was der Bundesgerichtshof schon 1962 (BGHSt 17, 382, 385) ausgeführt hat: "Bei einem Zeugen vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Beweiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht".
Hier ist zwar der unmittelbar gehörte Zeuge ein Ermittlungsrichter, dessen Vernehmungsergebnis grundsätzlich, auch wegen der in § 168c Abs. 2 bestimmten Beteiligungsrechte, eine gewichtige Beweiskraft zukommt (vgl. BGHSt 45, 342; BGH NStZ 1998, 312). Die Verteidigung hatte aber keine Möglichkeit zur Befragung des originären Zeugen. Insofern muß der Tatrichter zusätzlich beachten, daß die Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit dem Instrumentarium der Aussageanalyse begrenzt ist, weil die Aussage durch das Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO) nur beschränkt aufgeklärt und vervollständigt werden kann.
b) Deshalb gilt auch hier wie beim gesperrten Zeugen (BGHSt 17, 382, 386): Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.
c) Daß eine - sorgfältigste (BGHSt 17, 382, 386) - Überprüfung der von dem Vernehmungsrichter wiedergegebenen Aussage nach diesen Maßstäben erfolgt ist, muß der Tatrichter in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil deutlich machen.
3. Diesen - bislang allerdings vom Bundesgerichtshof noch nicht aufgestellten besonderen Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen - genügt das angefochtene Urteil nicht. Insbesondere liegen keine anderen wichtigen Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vor, die das eigentliche Tatgeschehen bestätigen.
Das Landgericht hat eine Beweiswürdigung vorgenommen, die ersichtlich davon ausging - und insoweit auch rechtsfehlerfrei ist -, den Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen bei Fällen von "Aussage gegen Aussage" zu genügen. Es hat seine Überzeugung ganz entscheidend auf die Angaben der Geschädigten beim Ermittlungsrichter gestützt. Dabei hat es auch eine fachkundige Analyse des Inhalts der dort getätigten Aussage vorgenommen und insbesondere auf Detailkriterien abgestellt.
Schon hierbei wäre allerdings zu bedenken gewesen, daß gerade das Gewicht der "Einbettung in den Gesamtlebenssachverhalt" und der Schilderung "von Details und Begleiterscheinungen" durch das Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs beschränkt war. Daß weitere Beweismittel die "Kammer in ihrer Überzeugungsbildung stützen und diese abrunden", reicht im Hinblick auf das fehlerhaft zustande gekommene ermittlungsrichterliche Vernehmungsergebnis nicht aus, um der vom Senat daraus abgeleiteten Anforderung zu genügen, daß die Aussage durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt wird. Die anderen Zeugen waren keine Augenzeugen des sexuellen Kerngeschehens und teilweise Zeugen vom Hörensagen. Auch objektive Beweismittel von Gewicht, mit denen die von der Geschädigten bekundeten sexuellen Handlungen bestätigt worden wären, standen nicht zur Verfügung.
Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil. Der Senat hat nicht selbst auf Freispruch erkannt (§ 354 Abs. 1 StPO), denn er kann nicht ausschließen, daß bei einer Zurückverweisung in einer erneuten Hauptverhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für eine Verurteilung tragfähig wären.
Ende der Entscheidung
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