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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 17.06.2003
Aktenzeichen: 1 StR 34/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 4
StPO § 273 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

1 StR 34/03

vom

17. Juli 2003

in der Strafsache

gegen

wegen Vergewaltigung

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. Juli 2003 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 2. August 2002 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg: Die Strafkammer hat handschriftlich von der Zeugin I.

A. niedergelegte Schriftstücke, vornehmlich Briefe, zur Beweisführung gegen den die Taten bestreitenden Angeklagten verwendet, die nicht vollen Umfangs Gegenstand der Beweiserhebung waren.

Zu Recht beanstandet die Revision, daß das Landgericht bei seiner Beweisführung Beweismittel verwertet, die es nicht prozeßordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt hat und deshalb seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht vollständig aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft hat (§ 261 StPO).

1. Die Strafkammer stellt für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin I. A. , der Schwiegertochter des Angeklagten und den Urteilsgründen zufolge Opfer der Vergewaltigungen, maßgeblich auch darauf ab, daß der Angeklagte der Zeugin mehrere Briefe und eine Bestätigung "Wort für Wort" diktiert habe. Die Verteidigung hatte diese Texte im Verfahren - zum Teil in Kopie - vorgelegt, um zu belegen, daß die Zeugin I. A. sich gegen ihre eigenen Eltern gewandt habe und daß sie Gerüchten entgegengetreten sei, sie werde in der Familie ihres Ehemannes und ihres Schwiegervaters - des Angeklagten - isoliert und schlecht behandelt. I. A. hat hingegen ausgesagt, sie habe die Schriftstücke auf Veranlassung des Angeklagten schreiben müssen; dieser habe ihr die Texte, die auch unzutreffende Behauptungen enthalten hätten, Wort für Wort diktiert. Die Strafkammer hat die Aussage I. A. s für glaubhaft erachtet. Sie ist ihr auch insoweit gefolgt, als sie bekundet hat, der Angeklagte habe sie angehalten, die Texte zu schreiben und ihr diese wörtlich diktiert. Dabei stützt sich die Strafkammer auf das aussagepsychologische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. , dem die Texte der Zeugin I. A. als Anknüpfungstatsachen zur Verfügung standen; darüber hinaus nimmt sie aber auch eine eigenständige Bewertung der Schriftsücke vor. Sie hebt hervor, daß "die Formulierungen, der Satzbau und die gesamte Diktion der Briefe (Bl. 92/99 und 101/106 d.A.)" eindeutig dagegen sprächen, daß diese dem Inhalt nach von I. A. stammten (UA S. 152).

2. Die in Rede stehenden, handschriftlich von der Zeugin I. A. verfaßten Urkunden sind in den Urteilsgründen vollständig in Ablichtung wiedergegeben ("hineinkopiert"; UA S. 14 a bis 14 n) worden. In der Beweisaufnahme sind sie laut Protokoll überwiegend nur "auszugsweise" verlesen worden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die verlesenen Teile wurden dabei - entgegen § 273 Abs. 1 StPO (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 273 Rdn. 16) nicht bezeichnet. Im Hinblick auf die insoweit unklare Sitzungsniederschrift hat der Senat auf entsprechenden Vortrag der Revision im Wege des Freibeweises zum Umfang der Verlesung Dienstliche Äußerungen der berufsrichterlichen Mitglieder der Strafkammer eingeholt. Diese ergaben, daß weite Teile der Schreiben nicht Gegenstand der Urkundsbeweiserhebung waren.

3. Die Strafkammer hat damit ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht allein aus dem Inhalt der Hauptverhandlung geschöpft (§ 261 StPO).

a) Die von I. A. niedergelegten Texte sind in ihrer Deutung tragende Elemente der Beweisführung des Landgerichts. Sie sind mehrere Seiten lang; die Strafkammer stellt auf die Formulierungen, namentlich den Satzbau und den Stil ab. Sie durften daher nicht nur im Wege der Zeugenaussage auf Vorhalt hin und als Anknüpfungstatsachen durch das Sachverständigengutachten in die Beweisaufnahme eingeführt werden; sie bedurften vielmehr des Urkundsbeweises, wenn die Strafkammer unmittelbar auf sie zurückgreifen und nicht nur das Sachverständigengutachten als Beweismittel heranziehen wollte (vgl. BGHSt 11, 159).

b) Die Strafkammer hat die Texte auch zum Zwecke des Beweises verwertet, nicht nur zur Vervollständigung der Urteilsgründe mit nicht beweisbedürftigen Tatsachen (vgl. BGHSt 11, 159, 162). Die Formulierungen der Texte werden für die Bewertung herangezogen, daß diese in ihrem gedanklichen Inhalt und in der Fassung vom Angeklagten herrühren und dieser sie der Zeugin I. A. diktiert habe. Dies aber ist mittragend dafür, daß die Strafkammer die Aussage I. A. s für glaubhaft erachtet hat.

4. Der Senat vermag nicht auszuschließen, daß das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht.

Die Existenz, den Inhalt und die eigenhändige Niederschrift der Urkunden durch die Zeugin I. A. haben Verteidigung und Angeklagter zwar nicht bestritten, vielmehr die Schriftstücke als von I. A. verfaßt vorgelegt. Für die Beweiswürdigung ist es danach aber weiter darauf angekommen, ob die Texte nach Formulierung und Diktion vom Angeklagten diktiert waren und auch gedanklich von ihm stammten, wie die Zeugin A. bekundet hat. Daß für die Beweisführung hier möglicherweise schon die auszugsweise Verlesung weiter Teile der Schriftstücke und das Sachverständigengutachten eine hinreichend tragfähige Beweisgrundlage hätten abgeben können, muß dahingestellt bleiben. Die Strafkammer hat die Texte vollständig in die Urteilsgründe eingefügt und sie damit von Anfang bis Ende beweiskräftig festgestellt. Sie hat sie - neben dem Sachverständigengutachten - einer Würdigung unterzogen, bei der sie u.a. auf die "gesamte Diktion" abhebt und in Klammern zudem die Blattzahlen der Aktenfundstellen zitiert, welche die Schriftstücke vollumfänglich bezeichnen. Daraus erhellt, daß sie bei ihrer Beweiswürdigung auf die gesamten Urkunden zugegriffen hat.

An dieser Bewertung mußten die beiden Schöffen teilhaben, die ihr Richteramt gleichwertig ausüben, denen aber der "Blick in die Akten" grundsätzlich verwehrt ist. Unter diesen Umständen steht fest, daß die Strafkammer - unter Mitwirkung der Schöffen - die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch auf der Grundlage der vollständigen, originalgetreu im Wege der Ablichtung in die Urteilsgründe aufgenommenen in Rede stehenden Schriften der Zeugin I. A. gewonnen hat, diese aber nicht vollständig Gegenstand einer prozeßordnungsgemäßen Beweiserhebung waren.

Das angefochtene Urteil unterliegt infolgedessen der Aufhebung; die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung.

Ende der Entscheidung

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