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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 29.09.1998
Aktenzeichen: 1 StR 416/98
Rechtsgebiete: StPO, StGB
Vorschriften:
StPO § 261 | |
StPO § 267 Abs. 5 | |
StGB § 176 Abs. 1 |
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
vom
29. September 1998
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 29. September 1998, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Maul als Vorsitzender
und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Granderath, Dr. Brüning, Dr. Wahl, Landau,
Bundesanwalt und Bundesanwalt, als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 28. November 1997 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin - Anklage vom 13. April 1997 - freigesprochen worden ist. Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen. Insoweit fallen die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin freigesprochen. Nach der Anklage vom 13. April 1997 lag ihm zur Last, am 19. August 1996 gegen 20.30 Uhr in Sä. mit einem bislang nicht ermittelten Mittäter in der Parkanlage hinter dem Sch. gymnasium die Nebenklägerin überfallen zu haben, wobei beide Täter den Oralverkehr und den Vaginalverkehr erzwungen haben sollen. Nachdem in der ersten Hauptverhandlung "u.a. wegen eines möglichen Alibis Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten aufgekommen waren", wurde die Hauptverhandlung ausgesetzt. In einer mit diesem Verfahren verbundenen Anklage vom 14. Juli 1997 wurde dem Angeklagten vorgeworfen, an einem nicht näher feststellbaren Tag in der zweiten Augusthälfte mit einem Mittäter hinter einem Busch im Sch. park eine 20- bis 25jährige unbekannt gebliebene Frau, unter anderem bekleidet mit einer blauen Jeanshose, zum Vaginalverkehr gezwungen zu haben.
Mit ihren Revisionen rügen Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin die Verletzung sachlichen Rechts, die Staatsanwaltschaft erhebt darüber hinaus Verfahrensrügen.
Das Rechtsmittel der Nebenklägerin, hinsichtlich des Freispruchs vom Anklagevorwurf der Anklage vom 13. April 1997, hat Erfolg. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das sich nach Revisionsantrag und -begründung auf beide Freisprüche erstreckt und vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, hat hinsichtlich des Freispruchs vom Vorwurf der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin Erfolg, hinsichtlich des Freispruchs betreffend die Anklage vom 14. Juli 1997 ist es unbegründet.
Die Verfahrensrügen der Staatsanwaltschaft sind offensichtlich unbegründet, insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 23. Juli 1998. Dem Freispruch hinsichtlich der in der Anklage vom 14. Juli 1997 bezeichneten Vergewaltigung liegen Rechtsfehler nicht zugrunde, die Revision der Staatsanwaltschaft ist insoweit offensichtlich unbegründet.
II.
Anders verhält es sich hinsichtlich des Freispruchs von der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin. Insoweit war dem Landgericht "die Identifizierung des Angeklagten durch die Zeugin S. nicht so verläßlich genug, daß die Unstimmigkeiten in den Einzeldarstellungen hätten vernachlässigt werden können". Zum Freispruch führte letztlich der Umstand, daß das frühere "Geständnis" des Angeklagten in zahlreichen Details mit den Angaben der Zeugin nicht übereinstimmte. Die Strafkammer kann sich diese Divergenzen "nicht erklären. Die somit bestehenden durchgreifenden Zweifel" an der Identität des Angeklagten mit dem Täter dieser Vergewaltigung führten zum Freispruch des Angeklagten.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Allerdings muß es das Revisionsgericht grundsätzlich hinnehmen, wenn das Gericht den Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2; BGH StV 1994, 580). Insbesondere muß die Beweiswürdigung erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist fehlerhaft (BGHR StGB § 176 Abs. 1 Handlungen 3; BGH wistra 1993, 339; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11). Schließlich dürfen die Anforderungen an eine Verurteilung nicht überspannt werden (BGH NStZ 1988, 236; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 5; § 267 Abs. 5 Freispruch 6; BGH StV 1994, 580).
Diesen Anforderungen wird das Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
1. Das Landgericht mußte die Aussage der Zeugin zugrundelegen und prüfen, ob und warum sie glaubhaft ist und ob sie unter Berücksichtigung der Angaben des Angeklagten ihn als Täter ausreichend identifiziert hat. In diesem Zusammenhang hätte das Landgericht jedoch alle für und gegen seine Täterschaft sprechenden Indizien berücksichtigen und abwägen müssen.
a) Daß der Angeklagte unter dem Auge eine auffällige Narbe trug, wird nicht ausreichend gewürdigt. Eine solche Narbe ist ein Umstand, der - unabhängig von der konkreten Lage, deren Bezeichnung ein Randdetail sein mag - ein Indiz sein kann, das für sich alleine schon zur Überführung eines Täters genügt.
Die fehlende Beschreibung und Erörterung dieses Beweisanzeichens bei der erforderlichen Gesamtwürdigung ist nicht deshalb unschädlich, weil das Landgericht es jedenfalls festgestellt hat. Die Besorgnis, es könne gleichwohl außer Betracht geblieben sein, ist damit nicht ausgeräumt. Das Landgericht knüpft vielmehr an die ungenaue Bezeichnung der konkreten Lage durch die Zeugin (über dem/am Auge) einer solchen auffallenden Kennzeichnung Bedenken an, ohne die belastende Wirkung dieses Merkmals als solchem, wie es erforderlich gewesen wäre, hervorzuheben.
b) Die Formulierung des Landgerichts, der erste Identifizierungsversuch bei der Wahllichtbildvorlage habe "nicht zweifelsfrei" ergeben, daß die Zeugin den Angeklagten als Täter wiedererkannt habe, und die mit der Identifizierung des Angeklagten in der Hauptverhandlung verbundenen einschränkenden Bewertungen lassen besorgen, das Landgericht habe angesichts des Zeitablaufs und der mit der Tat verbundenen erheblichen psychischen Probleme der Nebenklägerin den Wert und damit die belastende Wirkung dieser erfolgten Identifizierungen verkannt. Vor allem äußert sich das Landgericht nicht dazu, daß die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung den Angeklagten zusätzlich auch an dem hängenden Augenlid und an seiner näselnden Stimme wiedererkannt haben will, was wiederum besonders auffällige Details der Identifizierung sein können. Insbesondere der letztgenannte Umstand hängt aber gerade nicht von der Frage des Wiedererkennens aufgrund der vorangegangenen Wahllichtbildvorlage ab.
c) Auch weitere Identifizierungsmerkmale der Täterbeschreibung wie das beschriebene "ovale Gesicht" des Täters und der Umstand, daß der Täter zwar kein reines Hochdeutsch, aber auch keinen auffälligen Dialekt gesprochen haben soll, sowie die übereinstimmende Angabe von Angeklagtem und Opfer zur Alkoholisierung erfahren keine Würdigung.
d) Das Landgericht mißt demgegenüber der einschränkenden Bezeichnung der Barttracht des Angeklagten durch die Zeugin hohes Gewicht bei.
Zuzugeben ist dem Landgericht in diesem Zusammenhang, daß die Täterbezeichung bei der Wahllichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren einen geringeren Beweiswert haben konnte. Doch enthält auch die Würdigung dieses Beweisergebnisses Rechtsfehler. Das Landgericht hat bei den Feststellungen zur erfolgten Wahllichtbildvorlage zwar eingeräumt, die Nebenklägerin habe den "Blonden" nicht ausdrücklich als bartlos bezeichnet. Aus dem Umstand aber, daß Kriminalbeamte üblicherweise nach der Barttracht Unbekannter fragen, hat es jedoch zu Unrecht darauf geschlossen, die Nebenklägerin habe den Umstand, daß der Angeklagte zur Tatzeit einen Bart trug, überhaupt nicht erwähnt. Dies steht in Widerspruch dazu, daß die Nebenklägerin bei Vorlage der Lichtbildsätze jedenfalls das Lichtbild des Angeklagten mit Vollbart aussortierte und den Lichtbildsatz des Angeklagten mit dem Schnauzbart in der Form bezeichnete, daß "dieser Mann es am ehesten sei. Das Gesicht stimme wohl, der Bart aber nicht!"
Bei solchen Identifizierungsleistungen der Nebenklägerin unter den genannten erschwerenden Umständen - Zeitablauf, psychische Probleme - stellt die vom Landgericht geforderte "zweifelsfreie" Identifizierung bei der Lichtbildvorlage eine Überspannung tatrichterlicher Überzeugungsbildung grundsätzlich dann dar, wenn zahlreiche weitere Indizien auf einen Täter hindeuten.
e) Schließlich ist die Beweiswürdigung insofern lückenhaft, als die Beschreibung des Tatopfers durch den Angeklagten nicht in eine Gesamtwürdigung als belastendes Indiz eingestellt wurde. Der Angeklagte hat die Nebenklägerin als Opfer weitgehend richtig beschrieben. Insbesondere auffällig ist der Umstand, daß die Nebenklägerin tatsächlich längere lockige Haare getragen hat, die der Angeklagte bei seiner Vernehmung als "Löwenmähne" bezeichnet hatte.
2. Auch die Würdigung der Einlassung des Angeklagten begegnet Bedenken.
Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß das - widerufene - Geständnis des Angeklagten deshalb problematisch ist, weil es in einer Anzahl wesentlicher Punkte von den Angaben der - uneingeschränkt glaubwürdigen - Geschädigten abweicht. So hat der Angeklagte die Kleidung völlig abweichend geschildert; ebensowenig haben sich hinsichtlich des Weges, den die Geschädigte vor der Tat ging, und des Tathergangs in seinen Einzelheiten die Angaben miteinander in Einklang bringen lassen. Diese Unstimmigkeiten würden den Angaben des Angeklagten jedoch nur dann jeden Beweiswert nehmen, wenn davon auszugehen wäre, daß sein Geständnis erfunden war oder eine andere Tat betraf.
a) Nicht ausreichend und widersprüchlich gewürdigt ist insoweit das Motiv des Angeklagten, das dem Widerruf seines bei mehreren Vernehmungen wiederholten Geständnisses zugrunde gelegen haben soll. Während einerseits sein Entschluß, sich in einer Art Trotzreaktion gegenüber seinem Vater freiwillig ins Gefängnis zu begeben, als "nicht widerlegt" bezeichnet wird, wird dieses Motiv andererseits als "möglich und glaubhaft" bezeichnet. Daß letzteres zugleich mit durchgreifenden Zweifeln an der Täterschaft begründet wird, stellt einen Zirkelschluß dar, der als Verstoß gegen Denkgesetze unzulässig ist. Dem Landgericht wäre eine eingehende Würdigung des - an sich eher lebensfremden - Motivs zum Widerruf des Geständnisses und eine Darlegung der zeitlichen Abläufe und der näheren Umstände, wie es zum Widerruf gekommen ist - etwa die nähere Darlegung der in der ersten, dann ausgesetzten Hauptverhandlung entstandenen Zweifel (Alibi) und die Kausalität anwaltlicher Beratung -, abzuverlangen gewesen. Die weitgehend kritiklose Hinnahme des behaupteten Motivs, das zudem im Widerspruch zu seinem Verhalten und seinen Äußerungen vor seinem Geständnis steht (s. unten b), stellt sich vorliegend als Lücke in der Beweiswürdigung dar.
b) Schließlich ist die Verbindung der Aussage der Zeugin St. , daß der Angeklagte bei ihr zu Hause abends in betrunkenem Zustand einen "Moralischen" gehabt und weinend davon gesprochen habe, er habe mit einem anderen eine Vergewaltigung begangen, mit dem nicht "widerlegten" Entschluß, sich über ein falsches Geständnis ins Gefängnis zu begeben, nicht zu vereinbaren. Lag, was das Landgericht nicht feststellen konnte, diese Bekundung des Angeklagten zeitlich nach Kenntnisnahme des Angeklagten von der Presseberichterstattung, so ergab sich hieraus insofern ein belastendes Indiz für die Täterschaft des Angeklagten, als Anzeichen echter Reue auf die tatsächliche Beteiligung an der Tat schließen ließen. Lag diese Aussage jedoch nicht im zeitlichen Kontext der Presseberichterstattung, so war es lebensfremd anzunehmen, der Angeklagte habe seinen Wunsch, sich durch ein falsches Geständnis in ein Gefängnis zu begeben, gerade mit einer Vergewaltigung gemeinsam mit einem anderen Täter begründet und nicht, was auf der Hand gelegen hätte, mit Vorwürfen gegenüber seinem Vater, von dem er sich ungerecht behandelt fühlte.
c) Die Geschädigte hatte bezüglich des Mittäters eine Tätowierung auf dessen Handrücken (Spinne) erwähnt. Dieses Detail konnte der Angeklagte der Presse entnommen haben. An seiner Einlassung, sein Mittäter habe eine tätowierte Spinne auf dem Oberarm gehabt, hat der Angeklagte auch nach Vorhalt der abweichenden Angaben der Zeugin festgehalten. Dies hätte zu der Überlegung Veranlassung geben können, daß der Angeklagte nicht lediglich von dritter Seite Gehörtes zur falschen Selbstbelastung wiedergibt. Demgegenüber hat das Landgericht der Divergenz zwischen Opfer- und Angeklagtenaussage bezüglich der genauen Lage der ungewöhnlichen Tätowierung besondere (entlastende) Bedeutung beigemessen.
d) Das Landgericht hat bei seiner Würdigung unbeachtet gelassen, daß nicht nur die Trunkenheit des Angeklagten bei zusätzlichem Drogenkonsum, die seelische Anspannung der Nebenklägerin nach der Tat und Selbstschonungstendenzen des Angeklagten die Widersprüche zwischen seiner Schilderung und der der Nebenklägerin zu erklären vermochten, sondern insbesondere der lange Zeitablauf zwischen der Tat, dem Bekanntwerden der Tat, der ersten Befragung der Nebenklägerin und der späteren Vernehmung erst im Februar 1997.
e) Das Landgericht geht davon aus, nichts habe dafür gesprochen, daß im August 1996 eine weitere Vergewaltigung durch zwei Täter erfolgt sei, auf die sich das Geständnis des Angeklagten hätte beziehen können. Gerade diesem Umstand, daß die Tat vom 19. August 1996 von zwei Tätern durchgeführt wurde, was der Angeklagte nicht nur in allen seinen Vernehmungen, sondern auch gegenüber der Zeugin St. erwähnte, hätte das Landgericht im Rahmen seiner Gesamtwürdigung deshalb aber besondere Bedeutung beimessen müssen.
III.
Auf diesen Beweiswürdigungsmängeln kann das Urteil beruhen. Es ist nicht auszuschließen, daß das Landgericht bei ihrer Vermeidung die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte.
Ende der Entscheidung
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