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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 06.12.2005
Aktenzeichen: 1 StR 441/05
Rechtsgebiete: StGB, StPO
Vorschriften:
StGB § 176 Abs. 3 Nr. 1 | |
StGB § 66 | |
StGB § 66 Abs. 1 | |
StGB § 66 Abs. 2 | |
StGB § 66 Abs. 3 | |
StGB § 66 Abs. 3 Satz 1 | |
StGB § 66b Abs. 1 | |
StGB § 66b Abs. 2 | |
StGB § 176 | |
StPO § 275a | |
StPO § 275a Abs. 2 | |
StPO § 207 |
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
vom 6. Dezember 2005
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. Dezember 2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Nack und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Wahl, Dr. Kolz, die Richterin am Bundesgerichtshof Elf, der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 7. Juli 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die auch vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg. Die Jugendkammer hat nicht in der gesetzlichen Verfahrensweise entschieden und hat in der Sache (schon) die (formalen) Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrungen verkannt.
I.
Folgender Verfahrensgang liegt zu Grunde:
1. Der Betroffene war am 20. Oktober 1998 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen (§ 176 StGB in der bis 31. März 1998 geltenden Fassung) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. In einem Fall betrug die Einzelstrafe sechs Monate, die übrigen fünf Fälle waren besonders schwere Fälle i. S. d. (damaligen) § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB; in einem Fall wurde eine Strafe von vier Jahren - die Einsatzstrafe - verhängt, in den vier weiteren Fällen betrug die Einzelstrafe jeweils drei Jahre und sechs Monate. Dieses Urteil ist seit dem 10. März 1999 rechtskräftig.
Der Betroffene hat die Strafe bis Mitte Oktober 2005 vollständig verbüßt.
2. Am 7. Juni 2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, den Betroffenen nachträglich in Sicherungsverwahrung unterzubringen, da die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB erfüllt seien. Diesen Antrag hat die Jugendkammer durch den angefochtenen Beschluss vom 7. Juli 2005 als unzulässig zurückgewiesen. Es fehlten die formalen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, die genannte Verurteilung vom 20. Oktober 1998 sei nicht wegen Verbrechen, sondern wegen Vergehen erfolgt. Darüber hinaus rechtfertige auch eine Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse nicht die gemäß § 66b Abs. 2 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich das zunächst als sofortige Beschwerde, später als Revision bezeichnete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft. Sie macht geltend, die Jugendkammer hätte nur auf Grund einer Hauptverhandlung und dementsprechend durch Urteil entscheiden dürfen. In der Sache lägen zwar nicht die Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, dafür jedoch die des § 66b Abs. 1 StGB vor. Auch die von der Jugendkammer vorgenommene Gesamtwürdigung sei aus im Einzelnen dargelegten Gründen rechtsfehlerhaft.
4. Wie die Verteidigung dem Senat vorgetragen hat, ist der Betroffene inzwischen auf freiem Fuß. Die Jugendkammer hat mit Beschluss vom 30. August 2005 einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Unterbringungsbefehls abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht München durch Beschluss vom 12. Oktober 2005 ( ) aus formellen und materiellen Gründen verworfen.
II.
Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig (vgl. zu einem im Verfahrensablauf im Kern identischen Fall BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05) und greift durch.
1. Wie in der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Einzelnen ausgeführt ist, ergibt sich aus § 275a StPO, dass über einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung nur auf Grund einer mündlichen Hauptverhandlung in der dafür vorgesehenen Besetzung (also mit Schöffen) entschieden werden kann. Eine Entscheidung durch Beschluss, also ohne Schöffen, kann regelmäßig keinen Bestand haben.
2. a) Auch die Verteidigung verkennt nicht, dass bei einem Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 275a Abs. 2 StPO die Regeln über das Zwischenverfahren nicht gelten. Sie hält diese Regelung aber für lückenhaft und ihre Konsequenz, dass auf einen solchen Antrag dann stets auf Grund einer Hauptverhandlung zu entscheiden sei, für verfehlt. Es ginge nicht an, dass über einen Antrag, der aus zwingenden rechtlichen Gründen keinesfalls Erfolg haben könne, nur nach einer Hauptverhandlung und auch noch unter Heranziehung von zwei Gutachtern (vgl. § 275a Abs. 4 Satz 2 StPO) entschieden werden dürfe. Die Jugendkammer habe daher zu Recht in entsprechender Anwendung von § 207 StPO den Antrag der Staatsanwaltschaft durch Beschluss zurückgewiesen.
b) Der Senat kann dem letztlich nicht folgen.
Notwendige Voraussetzung für eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren auf die nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung wäre, wie für jede analoge Anwendung nicht unmittelbar anwendbarer Bestimmungen, eine vom Gesetzgeber nicht erkannte ("planwidrige") Regelungslücke (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2005 - 1 StR 350/05; Wahl, NStZ 1988, 317 m. w. N.). Daran fehlt es. Die Materialien zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung ergeben eindeutig, dass der Gesetzgeber die Verfahrensregeln, die für die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) gelten, für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung übernehmen wollte (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 15). In dem Verfahren über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist für ein "Zwischenverfahren" aber schon deshalb keine Notwendigkeit, weil bereits ein Hauptverfahren stattgefunden hat, in dem die formalen Voraussetzungen von Sicherungsverwahrung zu prüfen waren. Dies ist bei nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Dementsprechend heißt es auch in den Gesetzesmaterialien, dass bei vorbehaltener Sicherungsverwahrung auf jeden Fall eine weitere gerichtliche Entscheidung erfolgen muss, während ein Verfahren wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nur stattfindet, wenn die Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Antrag stellt (aaO S. 16). Wenn der Gesetzgeber trotzdem für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung die Regeln über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für anwendbar erklärt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er übersehen hätte, dass damit auch hier für ein Zwischenverfahren kein Raum ist. Darauf, ob auch eine andere Regelung vorstellbar und im Einzelfall zweckmäßiger sein könnte, kommt es unter diesen Umständen nicht an.
3. Von alledem unabhängig ist jedoch die Frage, ob eine Entscheidung, mit der eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung abgelehnt wurde, weil zwingend vorgeschriebene formale - also ohne jede wertende Würdigung feststellbare - Voraussetzungen fehlen, je darauf beruhen könnte (§ 337 StPO), dass sie nicht in der vorgeschriebenen Form oder ohne Anhörung von Sachverständigen getroffen wurde.
Der Senat braucht dem aber nicht näher nachzugehen, weil die formalen Voraussetzungen einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung entgegen der Auffassung der Jugendkammer vorliegen.
Allerdings hat die Jugendkammer, ersichtlich orientiert am ursprünglichen Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. oben I. 2.), zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB nicht vorliegen, weil die Vorverurteilung nicht Verbrechen betrifft. Sie hat jedoch verkannt, dass dieser Mangel im Antrag der Staatsanwaltschaft sie nicht davon freistellte, den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, wobei gegebenenfalls entsprechende Hinweise zu geben sind (§ 275a Abs. 2 StPO i. V. m. §§ 264, 265 StPO).
Hier liegen die Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB i. V. m. § 66 Abs. 2 StGB vor. § 66b Abs. 1 StGB verlangt die Verurteilung wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Vergehens. Dies liegt vor, § 176 StGB ist dort genannt. Weiter ist gemäß § 66b Abs. 1 StGB, letzter Halbsatz, erforderlich, dass die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind. Damit ist auf die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 bis 3 StGB verwiesen. Hieraus ergeben sich auch für § 66b Abs. 1 StGB verschiedene Fallgruppen entsprechend denjenigen des § 66 StGB (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 66b Rdn. 10 m. w. N.). Hier liegen die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vor. Der Verurteilung wegen sechs Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von über sieben Jahren liegen nämlich vier Fälle zu Grunde, in denen je eine Strafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt wurde, und ein Fall, in dem diese Strafe sogar vier Jahre betrug (vgl. oben I. 1.).
4. Da nach alledem die formellen Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung vorliegen, kommt es entscheidend auf die (tatrichterliche) Würdigung der Persönlichkeit des Verurteilten, seiner Straftaten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse an. Die hierauf bezogenen knappen Ausführungen der Jugendkammer und das hiergegen gerichtete Vorbringen der Staatsanwaltschaft - das, soweit bisher ersichtlich, nicht ohne weiteres zu einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung drängt - können jedoch auf sich beruhen. Wie dargelegt, könnte, wenn überhaupt, die Entscheidung durch Beschluss statt durch Urteil allenfalls dann unschädlich sein, wenn die Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft aus Rechtsgründen ohne jede wertende Würdigung zwingend geboten gewesen wäre (vgl. oben II. 3.). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Ende der Entscheidung
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