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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 28.06.2000
Aktenzeichen: 2 StR 213/00
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB vor § 1 Wahlfeststellung |
Bleibt offen, ob der sexuelle Mißbrauch einer Schutzbefohlenen vor oder nach dem 14. Geburtstag des Tatopfers begangen wurde, so ist der Täter auch dann auf wahldeutiger Tatsachengrundlage unter Anwendung des Zweifelssatzes nach § 174 StGB zu verurteilen, wenn bei Annahme des früheren Tatzeitraums für dieses Delikt - nicht jedoch für den tateinheitlich verwirklichten sexuellen Mißbrauch eines Kindes - das Verfahrenshindernis der Verjährung eingreift.
BGH, Beschluß vom 28. Juni 2000 - 2 StR 213/00 - LG Aachen
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
vom
28. Juni 2000
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 28. Juni 2000 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Tenor:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 28. Januar 2000 wird mit der Maßgabe verworfen, daß im Fall 1 der Urteilsgründe die Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen entfällt.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und wegen weiterer Fälle freigesprochen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Beschlußtenor ersichtlichen Umfang Erfolg, im übrigen erweist sie sich als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Soweit der zwischen 1990 bis 1992 vorgenommene sexuelle Übergriff des Angeklagten auf die am 29. Mai 1982 geborene Zeugin auch den Tatbestand des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen erfüllt, ist Verfolgungsverjährung eingetreten (Fall 1 der Urteilsgründe). Die für das Vergehen nach § 174 StGB geltende Verjährungsfrist war abgelaufen, als die erste zur Verjährungsunterbrechung geeignete Handlung am 13. Mai 1999 erfolgte. Die Verurteilung wegen des tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen muß deshalb entfallen. Die verhängte Einzelstrafe und die Gesamtstrafe können jedoch bestehen bleiben. Es ist auszuschließen, daß sie bei Annahme einer Strafbarkeit nur wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern milder ausgefallen wären, zumal die verjährte Straftat strafschärfend hätte berücksichtigt werden dürfen.
Keinen Bedenken begegnet die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen 2 und 3 der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Das Landgericht vermochte nicht zu klären, ob diese beiden Fälle in der Zeit vor oder nach dem 29. Mai 1996, dem 14. Geburtstag der Zeugin, begangen wurden und ist in beiden Fällen von einem Tatzeitpunkt nach dem 29. Mai 1996 ausgegangen.
Die denkbaren Geschehensabläufe, bei denen nicht nur die Tatzeit sondern - davon abhängig - auch das Schutzalter des Opfers offen geblieben ist, führen zu unterschiedlichen rechtlichen Ergebnissen.
Hatte die Zeugin das 14. Lebensjahr bereits vollendet, scheidet § 176 StGB aus, und es kommt nur eine Verurteilung nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht. Wurden die Taten vor dem 14. Geburtstag der Zeugin begangen, so hat der Angeklagte neben dem Tatbestand des § 174 StGB tateinheitlich § 176 StGB erfüllt. Jedoch kann das an sich strafbare Vergehen nach § 174 StGB verjährt sein, es bleibt dann die Strafbarkeit wegen eines nicht verjährten Verbrechens nach § 176 StGB:
Der Sache nach liegt Tatsachenalternativität vor. Eine Verurteilung allein nach § 174 StGB kann und muß erfolgen, wenn dieser Tatbestand in jedem Fall nicht verjährt vorliegt. Daß im Falle einer Tatbegehung vor dem 14. Geburtstag neben dem Tatbestand des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen tateinheitlich auch der des sexuellen Mißbrauchs von Kindern erfüllt wäre, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn nach dem Grundsatz in dubio pro reo ist von der dem Angeklagten günstigeren Alternative auszugehen, so daß das tateinheitlich verwirklichte Delikt des § 176 StGB zum Wegfall kommt (vgl. zum ganzen: Eser in Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. § 1 Rdn. 95, Gribbohm in LK StGB, 11. Aufl. § 1 Rdn. 112; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. § 261 Rdn. 128, 137 f; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, S. 38 f; ders., Wahlfeststellung und in dubio pro reo S. 43 f, 50).
Eine eindeutige Verurteilung allein wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen hat aber auch dann zu erfolgen, wenn bei einem hier möglichen frühen Tatzeitraum das Verfahrenshindernis der Verjährung hinsichtlich dieses Delikts eingreift. Da auch bei dieser Sachverhaltsvariante der Angeklagte verfolgbare Straftaten (nach § 176 StGB) begangen hätte und andere straflose Alternativen ausscheiden, kann er nicht freigesprochen werden. Es ist vielmehr nach dem Zweifelssatz die Tatalternative zugrunde zu legen, die die minder schwere ist. Dies ist das Delikt nach § 174 StGB. Nach der gesetzlichen Wertung sollen sowohl der Tatbestand des § 174 StGB als auch der des § 176 StGB die ungestörte sexuelle Entwicklung und Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen schützen. Dabei sieht der Gesetzgeber - bei deutlich höherer Strafdrohung - Kinder unter 14 Jahren als generell besonders schutzbedürftig an, weil sie sexuellen Übergriffen schon auf Grund ihres geringen Alters nicht begegnen können, während Jugendliche geschützt sind, wenn sie in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen stehen, bei denen sie Angriffen auf ihre geschlechtliche Freiheit durch den Gewalthaber ausgesetzt sein können (BGHSt 1, 58; 8, 280). Die auch in den unterschiedlichen Strafdrohungen zum Ausdruck gekommene gesetzliche Abstufung rechtfertigt es deshalb, diese Fallgestaltungen entsprechend den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für Fälle von Verurteilungen auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage bei normativ-ethischen Stufenverhältnissen zu behandeln (BGHSt 31, 136; 32, 56; s. auch BGHSt 38, 83 m. Anm. Schmoller, JR 1993, 247).
Ende der Entscheidung
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