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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 20.10.1999
Aktenzeichen: 2 StR 248/99
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB § 177 Abs. 1 3. Alt. | |
StGB § 179 Abs. 1 F. 1. Juli 1997 |
1. Zur Verwirklichung der dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB reicht es aus, daß sich der Täter bei Vornahme der sexuellen Handlungen die schutzlose Lage des Opfers bewußt zunutze macht, um den der Tat entgegenstehenden Willen des Opfers zu überwinden. Worauf die schutzlose Lage beruht, ist unerheblich.
2. § 179 StGB kommt als Auffangtatbestand dann in Betracht, wenn das Opfer keinen der Tat entgegenstehenden Willen bilden kann.
BGH, Urt. vom 20. Oktober 1999 - 2 StR 248/99 - LG Köln
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
vom
20. Oktober 1999
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. Oktober 1999, an der teilgenommen haben:
Vizepräsident des Bundesgerichtshofes Dr. Jähnke als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof Theune, Detter, Dr. Bode, Rothfuß als beisitzende Richter,
Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 22. Dezember 1998 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung sowie Vergewaltigung in zwei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Die Verfahrensrügen sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die Sachrüge ist im Ergebnis ebenfalls unbegründet. Einer Erörterung bedarf jedoch die Frage, ob der Tatrichter die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 StGB bejahen durfte oder von einer Tatbestandserfüllung des § 179 StGB ausgehen mußte.
II.
Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte am Abend des 28. Januar 1998 die damals 66-jährige Geschädigte, die er zuvor in einer U-Bahnstation angesprochen hatte, mit zu sich nach Hause. Allein mit ihr in seiner Wohnung versetzte er der Geschädigten aus Ärger über eine vor kurzem gescheiterte Beziehung zu einer anderen Frau ohne jede Vorwarnung mehrere heftige Schläge ins Gesicht. Als sie zu Boden stürzte, stieß der Angeklagte ihren Kopf auf den Boden und schlug weiter auf die sich anfangs noch vergeblich zur Wehr setzende Frau ein. Schließlich ließ er von ihr ab, legte sie auf ein Bett und entschuldigte sich bei ihr. Durch die Tätlichkeiten trug die Geschädigte zahlreiche Hämatome im Gesicht und am Oberkörper sowie eine stark blutende Platzwunde am Hinterkopf davon. Infolge dieser Verletzungen war sie körperlich so geschwächt, daß sie auch am folgenden Tag nicht fähig war, sich ohne fremde Hilfe vom Bett zu erheben.
Am Abend des 29. Januar 1998 legte sich der Angeklagte neben die Geschädigte auf das Bett. Als er sich ihr sexuell näherte, erklärte sie ihm, es ginge ihr schlecht, er solle sie in Ruhe lassen. Dessen ungeachtet führte er mit der Geschädigten, die - wie ihm bewußt war - aufgrund ihres äußerst schwachen Zustands nicht in der Lage war, sich gegen den ihr physisch überlegenen Angeklagten körperlich zur Wehr zu setzen, den Geschlechtsverkehr aus. Dem Angeklagten war klar, daß die Geschädigte ihm schutzlos ausgeliefert war. Einige Zeit später am selben Abend entschloß sich der Angeklagte, erneut mit der Geschädigten geschlechtlich zu verkehren. Auch diesmal bat ihn die Geschädigte, sie in Ruhe zu lassen, weil es ihr so schlecht gehe. Der Angeklagte ließ sich jedoch von seinem Vorhaben nicht abbringen und führte mit ihr den Geschlechtsverkehr aus. Hierbei erkannte er, daß die ihm nach wie vor schutzlos ausgelieferte Geschädigte mit dem Geschlechtsverkehr nicht einverstanden war, sich angesichts ihres geschwächten körperlichen Zustands und seiner physischen Überlegenheit aber wiederum nicht körperlich zur Wehr setzen konnte und wollte.
III.
Das Landgericht hat die sexuellen Übergriffe des Angeklagten zu Recht als Vergewaltigungen gemäß § 177 Abs. 1 3. Alt. und Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung des 33. Strafrechtsänderungsgesetzes (33. StrÄndG) vom 1. Juli 1997 (BGBl I 1607) gewertet.
Die Begehungsalternative des Ausnutzens einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, hat der Gesetzgeber mit dem 33. StrÄndG neu in die umgestaltete Vorschrift des § 177 Abs. 1 StGB aufgenommen. Diese Erweiterung bezweckt die Schließung von Strafbarkeitslücken, die nach früherem Recht auftreten konnten, wenn das Opfer starr vor Schrecken oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen läßt, ohne daß Gewalt ausgeübt oder zumindest konkludent mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wird. Es sollen auch Fälle erfaßt werden, in denen das Opfer nur deshalb auf Widerstand verzichtet, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint (BTDrucks. 13/7324 S. 6; vgl. BGHSt 44, 228). Tatbestandlich setzt § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB eine Lage des Opfers, in der es der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, sowie ein Nötigen zu sexuellen Handlungen durch den Täter unter Ausnutzung dieser Lage voraus.
1. Für die Bestimmung der Anforderungen, die an das Vorliegen einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB zu stellen sind, kann, da bei der Formulierung dieser Tatalternative im Gesetzgebungsverfahren zum 33. StrÄndG an die Interpretation des Merkmals der hilflosen Lage in § 237 StGB aF angeknüpft wurde (vgl. BTDrucks. 13/323 S. 5 und 13/2463 S. 6), auf die Auslegung zurückgegriffen werden, die der Begriff der hilflosen Lage in § 237 StGB aF durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfahren hat. Eine schutzlose Lage ist danach dann gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solche Maße verringert sind, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (BGHSt 44, 228).
a) Unerheblich ist, auf welche Umstände die schutzlose Lage des Opfers zurückzuführen ist. Die verminderten Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten können sich sowohl aus äußeren Gegebenheiten als auch aus in der Person des Opfers liegenden Umständen einschließlich der in § 179 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen ergeben. Für eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Ursachen der schutzlosen Lage bietet der Wortlaut der Vorschrift keine Grundlage. Auch die Gesetzesmaterialien sprechen gegen eine solche Abgrenzung. Zwar wollte der Gesetzgeber mit der dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB insbesondere die früher unter § 237 StGB aF fallenden Entführungsfälle erfassen (BTDrucks. 13/7324 S. 6). Hierin sollte sich der Anwendungsbereich der Vorschrift jedoch keineswegs erschöpfen. Aus der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages zum 33. StrÄndG vom 14. Mai 1997 ergibt sich vielmehr, daß die neu geschaffene Begehungsalternative auch darauf abzielt, den Schutz geistig und körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, vor erzwungenen sexuellen Übergriffen zu verbessern (BTDrucks. 13/7663 S. 5; vgl. auch BTDrucks. 13/8267 S. 4, 10 und 13/9064 S. 13). Darüber hinaus stehen einer Unterscheidung von äußeren Umständen einerseits und Zuständen des Opfers andererseits durchgreifende Praktikabilitätsüberlegungen entgegen, da sie in denjenigen Fällen, in denen eine schutzlose Lage sowohl auf äußeren Faktoren, als auch auf in der Person des Opfers liegenden besonderen Umständen beruht, zu nicht lösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führt. Dies um so mehr, als nach der Rechtsprechung zu § 179 StGB bei der Prüfung der Widerstandsunfähigkeit auch Beeinträchtigungen aus der Tatsituation infolge Überraschung, Schreck oder Schock zu berücksichtigen sind (BGHSt 36, 145; BGHR StGB § 179 Abs. 1 Widerstandsunfähigkeit 2).
b) Die Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, muß durch den Täter nicht herbeigeführt worden sein (Mildenberger, Schutzlos - Hilflos - Widerstandsunfähig [1998], S. 56 f. und Streit 1999, 3, 7; Laubenthal JZ 1999, 583, 584; Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 177 Rdn. 11; aA Horn in SK-StGB 6. Aufl. § 177 Rdn. 14; vgl. auch Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 177 Rdn. 6). Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, welcher die dritte Alternative des § 177 Abs. 1 StGB nicht auf das Ausnutzen einer vom Täter verursachten schutzlosen Lage beschränkt. Auch die Entstehungsgeschichte spricht gegen eine solche Auslegung der Ausnutzungsalternative. Denn der Gesetzgeber hat sich bei der Formulierung der dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB zwar an der Tatbestandsumschreibung des Ausnutzens einer hilflosen Lage in § 237 StGB aF orientiert, ohne jedoch den ersten Teilakt der Tathandlung des § 237 StGB aF - die Schaffung der hilflosen Lage durch den Täter mittels Entführung - in die neu gefaßte Vorschrift des § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB zu übernehmen. Schließlich vermag der Hinweis auf die Notwendigkeit, den Anwendungsbereich des § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB im Verhältnis zu der mit einer deutlich geringeren Strafandrohung ausgestatteten Vorschrift des § 179 StGB plausibel abzugrenzen, eine Beschränkung der Ausnutzungsalternative auf vom Täter zuvor geschaffene Lagen nicht zu rechtfertigen. Eine sachgerechte Grenzziehung zwischen den §§ 177 Abs. 1 3. Alt. und 179 StGB ist vielmehr ohne weiteres anhand des Tatbestandsmerkmals Nötigen möglich.
2. Als Tathandlung verlangt § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB in der Fassung des 33. StrÄndG ein Nötigen unter Ausnutzen der schutzlosen Lage des Opfers. Hierfür genügt, daß der Täter sich die sein Tatvorhaben ermöglichende oder erleichternde schutzlose Lage des Opfers bewußt zunutze macht, um dessen entgegenstehenden Willen zu überwinden. Einer die Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 StGB erfüllenden Nötigungshandlung bedarf es nicht.
a) Daß jede unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage erfolgende Überwindung eines entgegenstehenden Opferwillens für die Verwirklichung der dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB ausreicht (Mildenberger, Schutzlos - Hilflos - Widerstandsunfähig [1998] S. 80 und Streit 1999, 3, 14; Wetzel, Die Neuregelung der §§ 177-179 StGB unter besonderer Berücksichtigung des ehelichen Bereichs und ausländischer Rechtsordnungen [1998] S. 178), ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Norm. Nötigen bedeutet seinem Wortsinn nach einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten aufzwingen, ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen bestimmen. Begrifflich erfaßt wird jede Einwirkung von Zwang auf den Willen eines anderen. Um den Schutz der Willensfreiheit des einzelnen auf den strafwürdigen Bereich zu beschränken, stellt das Strafrecht das Nötigen allerdings nur bei Einsatz bestimmter, in den verschiedenen Tatbeständen unterschiedlich umschriebener Angriffsmittel unter Strafe (vgl. §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1, 108 Abs. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1, 177 Abs. 1, 239 b Abs. 1, 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 StGB). So definiert § 240 Abs. 1 StGB die Nötigung als gerade mittels Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel erfolgender Willenszwang. Wenn aber erst die tatbestandliche Verknüpfung mit den Tatmitteln Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel in § 240 Abs. 1 StGB das Nötigen zur strafbaren Nötigung macht, folgt daraus zwingend, daß der Begriff des Nötigens im Kontext anderer Vorschriften in seinem Bedeutungsgehalt nicht mit einer Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB gleichgesetzt werden kann (aA Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 14). Vielmehr ist insoweit - ebenso wie bei der Auslegung des § 240 Abs. 1 StGB selbst - der weiterreichende allgemeine Sinngehalt des Begriffs zugrunde zu legen. Daß das Tatbestandsmerkmal Nötigen und die durch § 240 Abs. 1 StGB definierte Nötigung inhaltlich nicht deckungsgleich sind, wird auch durch die Gesetzesfassung des § 121 Abs. 1 Nr. 1 StGB bestätigt. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber im Hinblick auf eine den Begriff des Nötigens weit auslegende Rechtsprechung (RGSt 58, 76; BGH NJW 1951, 160) durch einen auf § 240 StGB hinweisenden Klammerzusatz ausdrücklich klargestellt, daß für die Gefangenenmeuterei nach § 121 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StGB ein die Voraussetzungen der Nötigung erfüllender Willenszwang erforderlich ist (vgl. BTDrucks. 7/ 550 S. 220).
b) Aus der systematischen Struktur des § 177 Abs. 1 StGB läßt sich eine vom allgemeinen Wortsinn abweichende Auslegung des Tatbestandsmerkmals Nötigen nicht ableiten. Wie der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 3. November 1998 (BGHSt 44, 228) unter Hinweis auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Vorschrift dargelegt hat, stehen die verschiedenen Alternativen des § 177 Abs. 1 StGB gleichrangig nebeneinander. Diese Gleichstellung der drei Begehungsformen schließt es aus, das Ausnutzen einer schutzlosen Lage des Opfers lediglich als qualifizierendes Merkmal einer ansonsten der Vorschrift des § 240 Abs. 1 StGB unterfallenden Nötigung zu interpretieren (so aber Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 14; vgl. auch Renzikowski NStZ 1999, 377, 380). Bei der neu eingefügten dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB handelt es sich vielmehr um eine eigenständig neben die bisherigen Tatmittel tretende Begehungsvariante, bei deren Vorliegen ein Nötigen zu sexuellen Handlungen den Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB verwirklicht. Der zur früheren Rechtslage in Rechtsprechung und Literatur verbreitete Sprachgebrauch, wonach die Tathandlung der Vergewaltigung in einer qualifizierten Nötigung zum Beischlaf bestehe (vgl. BGH NStZ 1985, 546), fand seine Rechtfertigung in dem Umstand, daß die herkömmlichen Tatmittel des § 177 Abs. 1 StGB aF sämtlich zugleich auch Nötigungsmittel im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB waren, die Vergewaltigung sich somit als Spezialfall der Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB darstellte. Die durch das 33. StrÄndG erfolgte Erweiterung der Tatmittel der §§ 177 Abs. 1 StGB über den Kreis der von § 240 StGB erfaßten Nötigungsmittel hinaus hat diesem Sprachgebrauch die Grundlage entzogen.
c) Für eine weite Interpretation des Begriffs Nötigen spricht im übrigen die Entstehungsgeschichte der Norm. § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB will - wie dargelegt - im Interesse eines umfassenden Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung Fälle erfassen, in denen das Opfer ohne Anwendung von Gewalt oder (qualifizierter) Drohung durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen läßt, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint. Dieser Zielsetzung entsprechend reicht es nach den Gesetzesmaterialien zur Verwirklichung der dritten Alternative des § 177 Abs. 1 StGB aus, wenn durch das Ausnutzen der schutzlosen Lage ein der Tat entgegenstehender Wille des Opfers gebeugt wird (vgl. BTDrucks. 13/7663 S. 4, 5). Dagegen findet sich für die Auffassung, § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB setze als Mittel der Willensbeugung über das Ausnutzen der schutzlosen Lage hinaus eine dem Schweregrad nach unter der qualifizierten Drohung des § 177 Abs. 1 2. Alt. StGB angesiedelte Drohung mit einem empfindlichen Übel voraus, in den Materialien keinerlei Anhaltspunkte. Soweit in den Gesetzesmaterialien vereinzelt der Begriff der Nötigung verwendet wird, ist er ersichtlich nicht im formellen Sinne des § 240 Abs. 1 StGB, sondern als Synonym für die Beugung eines entgegenstehenden Willens gemeint.
3. Indem die dritte Alternative des § 177 Abs. 1 StGB auch Fälle erfaßt, in denen Opfer, die sich aufgrund einer der in § 179 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen in einer schutzlosen Lage befinden, unter Überwindung ihres entgegenstehenden Willens zu einem sexuellen Verhalten bestimmt werden, dehnt die Neufassung den Anwendungsbereich des § 177 Abs. 1 StGB gegenüber der Vorschrift des § 179 StGB erheblich aus. Diese veränderte Grenzziehung zwischen den §§ 177 und 179 StGB, die in den betreffenden Fällen wegen der unterschiedlichen Strafandrohungen zu einer deutlichen Strafverschärfung führt, entspricht den Absichten des Gesetzgebers. Dieser wollte mit der Tatalternative des Ausnutzens einer schutzlosen Lage gerade auch den Schutz geistig und körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, vor erzwungenen sexuellen Übergriffen verbessern. Der Vorschrift des § 179 StGB kommt danach nur noch die Aufgabe zu, als Auffangtatbestand den für diese Menschen bereits durch § 177 Abs. 1 StGB vermittelten Strafschutz zu ergänzen und diejenigen Fälle zu erfassen, in denen eine Beugung eines der Tat entgegenstehenden Willens durch den Täter nicht vorliegt (vgl. hierzu BTDrucks. 13/7663 S. 4, 5; vgl. auch BTDrucks. 13/8267 S. 4, 10 und 13/9064 S. 13). Die Unterschiedlichkeit der Strafandrohungen in den verschiedenen Fallkonstellationen - Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bei § 177 Abs. 1 StGB gegenüber einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bei § 179 Abs. 1 StGB - findet ihre Rechtfertigung darin, daß der Täter in den Fällen des § 177 Abs. 1 3. Alt. StGB die Schutzlosigkeit des Opfers nicht nur wie in § 179 StGB durch schlichte Vornahme einer sexuellen Handlung ausnutzt, sondern darüber hinaus den der Tat entgegenstehenden Willen des Opfers beugt.
4. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen befand sich die Geschädigte, die allein mit dem Angeklagten in dessen Wohnung war und sich infolge des durch die vorausgegangenen Mißhandlungen verursachten schlechten Gesundheitszustandes nicht ohne fremde Hilfe aus dem Bett erheben konnte, in einer Lage, in der sie der Einwirkung des Angeklagten schutzlos ausgeliefert war. Diese Situation machte sich der Angeklagte jeweils bewußt zunutze, um entgegen dem ausdrücklich erklärten Willen der Geschädigten mit ihr den Geschlechtsverkehr auszuführen.
Der Schuldspruch ist daher rechtlich nicht zu beanstanden. Auch der Rechtsfolgenausspruch läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Ende der Entscheidung
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