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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 01.09.2004
Aktenzeichen: 2 StR 268/04
Rechtsgebiete: StPO, StGB, JGG


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 2
StPO § 349 Abs. 4
StGB § 21
StGB § 23
StGB § 49
StGB § 49 Abs. 1 Nr. 1
StGB § 63
StGB § 64
JGG § 106
JGG § 106 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

2 StR 268/04

vom 1. September 2004

in der Strafsache

gegen

wegen versuchten Mordes u.a.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 1. September 2004 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 4. Dezember 2003 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechtes rügt. Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die Versagung einer Strafmilderung gemäß §§ 21, 49 StGB weist Rechtsfehler auf. Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht der Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB die Grundlage, so daß der gesamte

Rechtsfolgenausspruch aufzuheben ist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts versuchte der Angeklagte den schlafenden Zeugen M. durch Schläge mit verschiedenen Gegenständen zu töten. Der Angeklagte konnte die Tat durch Einschreiten der Polizei nicht vollenden; das Opfer erlitt schwere Verletzungen. "Bei Begehung der Tat war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, der an einem Alkoholabhängigkeitssyndrom und einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens leidet, infolge der Alkoholisierung und einer bestehenden emotional instabilen Persönlichkeitsstörung aufgrund einer krankhaften seelischen Störung und schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert, aber nicht ausgeschlossen" (UA S. 24).

Die Strafkammer hat einen maximalen BAK-Wert von 2,84 %o zur Tatzeit angenommen (UA S. 43). Sie ist dem Sachverständigen darin gefolgt, daß beim Angeklagten ein Alkoholabhängigkeitssyndrom gemäß der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD 10: F 10.2) vorliege. Dessen Trinkverhalten entspreche dem sogenannten "süchtigen Trinken" (sogenannter gamma-Typ), welches durch Kontrollverluste beim Trinken gekennzeichnet sei. Der Angeklagte leide zudem an einer schwer ausgeprägten emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F 60.3), die im Verhältnis zum bestehenden Alkoholabhängigkeitssyndrom wesentlich schwerer wiege (UA S. 44). Beim Angeklagten liege darüber hinaus sowohl eine Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD 10: F 90.0) als auch eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD 10: F 90.1) vor, die stark ausgeprägt sei (UA S. 45).

Das Landgericht hat auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten Erwachsenenstrafrecht angewandt. Eine Milderung nach §§ 21, 49 StGB hat der Tatrichter unter Bezugnahme auf BGH NStZ 2003, 480 abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 106 JGG hat er verneint (UA S. 68). Eine Strafrahmenmilderung gemäß §§ 23, 49 StGB hat er jedoch vorgenommen.

2. Die Versagung einer Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49 StGB begegnet hier durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Tatrichter hat zwar erörtert, daß der Angeklagte auch seine bisherigen Straftaten unter Alkoholeinfluß begangen und gewußt habe, "daß er unter Alkoholeinfluß zu Aggressivität neige und Angst habe, irgendwann mal jemanden totzuschlagen" (UA S. 67). Die Strafkammer hat sich aber nicht damit auseinandergesetzt, ob dem Angeklagten der Alkoholkonsum uneingeschränkt vorwerfbar ist. Dies ist unter anderem dann nicht der Fall, wenn der Täter alkoholkrank oder alkoholüberempfindlich ist. Eine Alkoholerkrankung, bei der die Alkoholaufnahme nicht als schulderhöhender Umstand zu werten ist, kann vorliegen, wenn der Täter den Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt, der seine Fähigkeit, der Versuchung zu übermäßigem Alkoholkonsum zu widerstehen, einschränkt (vgl. u.a. BGH, Urt. vom 17. Juni 2004 - 4 StR 54/04; BGH, Beschl. vom 27. Januar 2004 - 3 StR 479/03 und BGH, Urt. vom 9. Juli 2003 - 2 StR 106/03 letzter Satz).

Im Hinblick auf das festgestellte Alkoholabhängigkeitssyndrom, dessen Annahme hier auch die angegebene Abstinenzphase nicht entgegensteht (UA S. 44), drängte sich im vorliegenden Fall dem Tatrichter die Erörterung auf, ob dem Angeklagten der Alkoholkonsum uneingeschränkt vorgeworfen werden kann. Hierbei war zu berücksichtigen, daß beim Angeklagten eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliegt, die im Verhältnis zum bestehenden Alkoholabhängigkeitssyndrom wesentlich schwerer wiegt. Gerade wenn im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB und bei der Abgrenzung zu § 64 StGB darauf abgestellt wird, daß diese Störung ursächlich für das eher sekundäre Alkoholabhängigkeitssyndrom und deshalb geboten ist, in erster Linie die emotional instabile Persönlichkeitsstörung zu behandeln (UA S. 71), liegt nahe, daß dem Angeklagten sein Alkoholkonsum nicht uneingeschränkt vorgeworfen werden kann, da er seine Persönlichkeitsstörung nicht zu verantworten hat.

Der Senat kann nicht ausschließen, daß der Tatrichter bei rechtsfehlerfreier Erörterung eine Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49 StGB vorgenommen hätte. Der Strafausspruch hat daher keinen Bestand. Dies führt hier auch zur Aufhebung der Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB (die an sich rechtlich nicht zu beanstanden ist; vgl. u.a. BGHSt 44, 338), da diese untrennbar mit den Feststellungen zum Strafausspruch verbunden ist, aus denen sich die Voraussetzungen der positiv festgestellten erheblich verminderten Schuldfähigkeit ergeben. Es kann dahinstehen, ob der Revision des Angeklagten entnommen werden kann, daß die Maßregel nach § 63 StGB vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sein soll, eine solche Beschränkung wäre - anders als bei § 64 StGB (vgl. BGHSt 38, 362, 363) - wegen der dargelegten engen Verknüpfung nicht wirksam (vgl. hierzu auch Senatsbeschluß vom 20. September 2002 - 2 StR 335/02).

Der Rechtsfehler bei der Erörterung der §§ 21, 49 StGB nötigt aber nicht zur Aufhebung auch des Schuldspruchs. Der Tatrichter hat - sachverständig beraten - die Annahme von Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB), insbesondere im Hinblick auf die gewonnene Überzeugung von einem Tatmotiv des Angeklagten (UA S. 56), rechtsfehlerfrei verneint. Der aufgezeigte Erörterungsmangel erstreckt sich nicht auf die Frage der Schuldunfähigkeit, welche bei der gegebenen Sachlage ohnehin auszuschließen ist.

3. Im Hinblick auf die Ausführung des Tatrichters zu § 106 JGG weist der Senat darauf hin, daß eine unmittelbare Prüfung dieser Vorschrift, die eine "Sonderregelung zur Milderung der Rechtsfolgen" darstellt (vgl. BGHSt 31, 189, 191), nur dann geboten ist, wenn ansonsten eine lebenslange Freiheitsstrafe verwirkt wäre. Da der Tatrichter hier eine - allerdings im Hinblick auf die Nähe zur Tatvollendung näher zu begründende - Milderung nach Versuchsgrundsätzen (§§ 23, 49 StGB) vorgenommen hat und deshalb zu einem Strafrahmen von drei Jahren bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe gelangt ist, war die Prüfung einer Strafrahmenverschiebung nach § 106 JGG entbehrlich. § 106 JGG fordert eine stärkere Berücksichtigung des Resozialisierungsgedankens dadurch, daß auch bei grundsätzlich verwirkter lebenslanger Freiheitsstrafe bei einem Heranwachsenden geprüft werden muß, ob eine spätere Wiedereingliederung des Täters erwartet werden kann. Ist aber lebenslange Freiheitsstrafe, zum Beispiel durch Strafrahmenverschiebungen - wobei bereits die einfache Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB einen gegenüber § 106 Abs. 1 JGG wesentlich günstigeren Strafrahmen eröffnet - nicht verwirkt und deshalb eine spätere Wiedereingliederung ohnehin möglich, kann die Sonderregelung des § 106 JGG nicht darüber hinaus zu einer Strafrahmenverschiebung führen. Soweit in der einschlägigen Literatur (vgl. u.a. Eisenberg JGG 10. Aufl. § 106 Rdn. 3; Brunner/Dölling JGG 11. Aufl. § 106 JGG Rdn. 8; Ostendorf JGG 4. Aufl. § 106 Rdn. 3; Diemer/Schoreit/Sonnen JGG 4. Aufl. § 106 Rdn. 10) für die Gegenmeinung die Entscheidungen des 1. Strafsenats vom 16. Juni 1959 - 1 StR 261/59 (= BGH LM Nr. 10 zu § 105 JGG = NJW 1959, 1500 nur Leitsatz) und des 4. Strafsenates vom 19. August 1960 - 4 StR 182/60 (= MDR 1960, 938) angeführt werden, so befassen sich diese nicht mit (einer weiteren Strafrahmenverschiebung gemäß) § 106 JGG.

Wenn auch eine zusätzliche Strafrahmenverschiebung nach § 106 JGG nicht möglich ist, so hat der dieser Vorschrift zugrundeliegende allgemeine Gedanke auch Gültigkeit für die Bemessung zeitiger, insbesonderer längerer, Freiheitsstrafen (vgl. Senatsbeschluß vom 12. August 1994 - 2 StR 348/94 - Leitsatz in StV 1984, 609). Denn bei der Frage, ob gegen einen Heranwachsenden eine lange Freiheitsstrafe zu verhängen ist, sind die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben in der Gesellschaft zu erwarten sind, regelmäßig besonders eingehend zu prüfen (Senatsbeschluß aaO).

Ende der Entscheidung

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