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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 25.01.2006
Aktenzeichen: 2 StR 345/05
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3
Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt voraus, dass das Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen Ausgeliefertseins aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf einen ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet. Der subjektive Tatbestand setzt zumindest bedingten Vorsatz dahin gehend voraus, dass das Tatopfer in die sexuelle Handlung nicht einwilligt und dass es gerade im Hinblick auf seine Schutzlosigkeit auf möglichen Widerstand verzichtet (im Anschluss an BGHSt 45, 253).
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

2 StR 345/05

vom 25. Januar 2006

in der Strafsache

gegen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 11. Januar 2006 in der Sitzung am 25. Januar 2006, an denen teilgenommen haben:

Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Bode, Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Otten, Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer, Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck,

Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,

Rechtsanwältin in der Verhandlung als Nebenklägervertreterin,

Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 6. April 2005 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen schuldig ist.

2. Im Übrigen wird die Revision verworfen.

3. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung (Tat II.1: Einzelstrafe vier Jahre) unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen (Fälle II.2 bis II.4; Einzelstrafen jeweils drei Jahre) zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine auf Verfahrensrügen sowie die Sachrüge gestützte Revision führt zur Änderung des Schuldspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Die Verfahrensrügen sind aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend dargelegten Gründen offensichtlich unbegründet.

Die Sachrüge ist unbegründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in den Fällen II.1 bis II.4 wendet. Insbesondere begegnet auch die Annahme voller Schuldfähigkeit in allen Fällen keinen rechtlichen Bedenken. Dagegen hält der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener Vergewaltigung im Fall II.1 rechtlicher Überprüfung nicht stand.

2. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte seit 1999 mit der Mutter der im Februar 1996 geborenen Nebenklägerin M. G. zusammen. Im Fall II.1 war der Angeklagte im Sommer 2001 mit seinem einjährigen Sohn und der damals fünf Jahre alten Nebenklägerin allein in der Wohnung. Er rief diese zu sich ins Wohnzimmer, wo beide zunächst fernsahen. Dann legte er sich mit dem Kind auf den Teppich, entkleidete die Nebenklägerin sowie sich selbst und führte einen angefeuchteten Finger in den Anus des Kindes ein. M. verspürte Schmerzen und sagte dem Angeklagten, er solle aufhören. Dieser führte jedoch nun, obgleich das Kind wegen der heftigen Schmerzen weinte und ihn bat aufzuhören, Analverkehr bis zum Samenerguss durch.

In den Fällen II.2 und II.3 rief der Angeklagte, der im Zeitraum bis Oktober 2003 im Kinderzimmer übernachtete, M. jeweils zu sich ins Bett und entkleidete ihren Unterkörper. Er befeuchtete jeweils den Anus des Kindes mit Speichel und fragte die Nebenklägerin, ob er den Analverkehr durchführen dürfe. Obgleich das Kind dies verneinte, vollzog er sodann den Analverkehr bis zum Samenerguss. Das Kind weinte in beiden Fällen, da es Schmerzen verspürte. Da seine Lebensgefährtin im Schlafzimmer der Wohnung schlief, hielt der Angeklagte M. die Hand vor den Mund, um ihr Weinen zu dämpfen. Er versprach ihr als Belohnung einen Puppenwagen.

Im Fall II.4 schlich der Angeklagte in einer Nacht im November 2003 in das Kinderzimmer, legte sich neben M. und vollzog sodann wiederum den Analverkehr bis zum Samenerguss. Da das Kind vor Schmerzen weinte, hielt er ihm die Hand vor den Mund, um nicht entdeckt zu werden.

b) Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin gehend eingelassen, er habe bei M. die Nähe und körperliche Wärme gesucht, die ihm seine Lebensgefährtin nicht mehr gegeben habe. Die Nebenklägerin hat in ihrer Aussage den Angeklagten nur zögerlich belastet und mehrfach betont, der Angeklagte sei meist "sehr lieb" zu ihr gewesen.

Der Angeklagte ist durch Urteil vom 14. März 2003 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in einem und wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in neun Fällen rechtskräftig zu Einzelstrafen von einem Jahr und sechs Monaten und neun Mal neun Monaten (Gesamtfreiheitsstrafe: drei Jahre) verurteilt worden; diese Einzelstrafen sind in die vorliegend nachträglich gebildete erste Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen worden. Dem lag zu Grunde, dass der Angeklagte zwischen November 1996 und September 1997 in mindestens zehn Fällen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem 11-jährigen Mädchen aus der Nachbarschaft ausgeführt hatte. Zwischen diesem Kind und dem Angeklagten entwickelte sich eine quasi partnerschaftliche Beziehung, die sexuellen Kontakte fanden einvernehmlich statt.

c) Das Landgericht hat in allen vier Fällen die Voraussetzungen des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB als gegeben angesehen. Im Fall II.1 hat es den Angeklagten daneben auch wegen Vergewaltigung in der Tatvariante des Ausnutzens einer schutzlosen Lage gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1 StGB verurteilt. Das Kind sei hier den Einwirkungen des Angeklagten "mangels sonstiger anwesender Erwachsener" schutzlos ausgeliefert gewesen; diesen Umstand habe der Angeklagte gekannt und ausgenutzt (UA S. 5). In den Fällen II.2 bis II.4 habe dagegen eine schutzlose Lage nicht vorgelegen, da in diesen Fällen die Mutter des Kindes in einem anderen Raum der Wohnung geschlafen habe (UA S. 12). Auch Gewalt im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB sei in diesen Fällen nicht festzustellen.

3. Die Verurteilung auch wegen Vergewaltigung im Fall II.1 wird von den Feststellungen nicht getragen.

a) Zutreffend hat das Landgericht hier die Voraussetzungen einer schutzlosen Lage im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB als gegeben angesehen. Zwar hat es diese Feststellung ohne weitere Erwägung allein auf den Umstand gestützt, dass sich im Fall II.1 außer dem Angeklagten und dem Tatopfer keine weitere (erwachsene) Person in der Mietwohnung befand, während in den Fällen II.2 bis II.4 jeweils die Mutter des Tatopfers in einem anderen Raum der Wohnung schlief. Auf den Umstand des Alleinseins von zwei Personen in einer Wohnung oder einer anderen nach außen abgegrenzten Räumlichkeit kann aber, wie der Senat schon im Urteil vom 21. Dezember 2005 - 2 StR 245/05 - ausgeführt hat, nicht schon ohne weiteres die Feststellung gestützt werden, die betroffene Person habe sich in einer Lage befunden, in welcher sie den Einwirkungen der anderen Person schutzlos ausgeliefert war. Hierfür kommt es vielmehr auf eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen Umstände an. Eine Trennung zwischen äußeren und inneren, etwa in der körperlichen oder psychischen Konstitution des Tatopfers liegenden Umständen, wie sie in Entscheidungen des 3. und 4. Strafsenats vorgenommen worden ist (vgl. BGH NStZ 2003, 533; 2005, 267, 268), ist häufig kaum möglich und auch vom Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht vorausgesetzt (vgl. BGHSt 45, 253, 256). Es kommt vielmehr allein darauf an, dass das Tatopfer nach objektiver ex-ante-Prognose möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre, d. h. ihnen weder mit Aussicht auf Erfolg körperlichen Widerstand entgegen setzen noch sich ihnen durch Flucht entziehen noch auf die Abwendung durch Hilfe dritter Personen hoffen könnte (vgl. MüKo-Renzikowski § 177 Rdn. 40; Laufhütte/Roggenbuck in LK 11. Aufl., Nachtrag zu § 177 Rdn. 2; Wolters/Horn in SK-StGB 6. Aufl., § 177 Rdn. 13a f.; Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl., § 177 Rdn. 27 ff.; jeweils m.w.N.). Umstände in den äußeren Gegebenheiten, in der Person des Opfers oder des Täters können sich insoweit ergänzen, sich aber auch entgegen stehen oder einander ausschließen. Eine solche Gesamtwürdigung hat das Landgericht nicht ausdrücklich vorgenommen.

Für die Anwendung des Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB kann aus deliktstypischen Besonderheiten bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht die Folgerung gezogen werden, schon das objektive Merkmal der Lage schutzlosen Ausgeliefertseins sei anhand isolierter Kriterien (hier etwa: Anwesenheit einer schlafenden dritten Person in einem anderen Raum der Wohnung) einzuschränken. Vielmehr kommt es auf eine Gesamtwürdigung aller äußeren und in der Person der Beteiligten liegenden Umstände an.

Bei Anwendung zutreffender Maßstäbe ergeben sich vorliegend aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe in hinreichendem Umfang Umstände, welche jedenfalls im Fall II.1 die Feststellung einer schutzlosen Lage rechtfertigen. Dies drängt sich insbesondere angesichts des Alters der Nebenklägerin von nur fünf Jahren auf und bedurfte daher hier keiner ausdrücklichen näheren Darlegung. Ob bei umfassender Würdigung eine schutzlose Lage auch in den Fällen II.2 bis II.4 anzunehmen gewesen wäre, kann offen bleiben, da ihre Verneinung den Revisionsführer nicht beschwert.

b) Jedoch sind hier die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht gegeben.

aa) Der Senat hat entschieden, dass der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB schon mit der Vornahme einer sexuellen Handlung ohne oder gegen den Willen des Tatopfers gegeben sei, wenn der Täter hierbei eine schutzlose Lage ausnutzt (vgl. Senatsentscheidungen BGHSt 45, 253, 260; NStZ-RR 2003, 42; NStZ 2004, 440, 441; ebenso der 4. Strafsenat im Urteil vom 25. Oktober 2001 - 4 StR 262/01, NStZ 2002, 199, 200). Im Urteil vom 28. Januar 2004 - 2 StR 351/03 (NStZ 2004, 440) hat der Senat für eine auf äußeren Umständen beruhende schutzlose Lage eines Kindes weiter gehend entschieden, es komme nicht darauf an, ob das Opfer selbst die objektiv gegebene Schutzlosigkeit seiner Lage erkennt und ob es sich vor Zwangshandlungen des Täters fürchtet; ausreichend sei vielmehr, dass das Opfer die sexuelle Handlung nicht will und dass der Täter dies mindestens billigend in Kauf nimmt und die Lage der Schutzlosigkeit ausnutzt.

Dies ist in Entscheidungen anderer Senate des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. vom 27. März 2003 - 3 StR 446/02 = NStZ 2003, 533; Beschl. vom 14. Februar 2005 - 3 StR 230/04 = StV 2005, 269; Beschl. vom 1. Juli 2004 - 4 StR 229/04 = NStZ 2005, 267; Beschl. vom 9. August 2005 - 3 StR 464/05; Beschl. vom 26. August 2005 - 3 StR 260/05 = StV 2006, 15; vgl. auch Pfister NStZ-RR 2004, 356) sowie in der Literatur auf Kritik gestoßen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 177 Rdn. 38 ff., Renzikowski in MüKo-StGB § 177 Rdn. 46 f.; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 177 Rdn. 11; Horn/Wolters in SK-StGB 7. Aufl., § 177 Rdn. 14 a; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, 2005, § 2 Rdn. 39; jew. m. w. Nachw.). Der Senat hat im Urteil vom 21. Dezember 2005 - 2 StR 245/05 - offen gelassen, ob an der in der Entscheidung vom 28. Januar 2004 - 2 StR 351/03 (NStZ 2004, 440) dargelegten Rechtsansicht festzuhalten sei.

Der vorliegende Fall hat Anlass zur nochmaligen Prüfung gegeben. Im Ergebnis hält der Senat die Einwände für berechtigt, soweit sie sich gegen den Verzicht auf eine subjektive Verknüpfung zwischen der Zwangslage des Tatopfers und der Nötigungswirkung der Täterhandlung richten. Er hält daher an der Rechtsprechung nicht fest, wonach es für die Vollendung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht darauf ankomme, ob das Tatopfer selbst die Schutzlosigkeit seiner Lage erkennt und im Hinblick hierauf, d. h. aus Furcht vor Gewalteinwirkungen des Täters, auf körperlichen Widerstand verzichtet. Eine solche Auslegung des Tatbestands überschreitet zwar nicht die Wortlautgrenze und verstößt daher nicht gegen das Bestimmtheitsgebot (BVerfG NJW 2004, 3768 mit Bespr. Güntge NJW 2004, 3750). Der Wortlaut der Vorschrift legt sie aber auch nicht nahe. Sie entfernt sich überdies von gesetzgeberischen Zwecken und führt zu systematischen Problemen in der Abgrenzung zu anderen Tatbeständen sowie zur Ungleichgewichtigkeit der Tatvarianten des § 177 Abs. 1 StGB.

bb) Aus den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 13/323, S. 1, 5; BT-Drucks. 13/2463, S. 1, 6; BT-Drucks. 13/7324, S. 1, 6; BT-Drucks. 13/4543, S. 2; BT-Drucks. 13/7663, S. 5) ergibt sich kein nahe liegender Anhaltspunkt dafür, es komme für den Tatbestand des Nötigens unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht darauf an, ob das Tatopfer selbst sein schutzloses Ausgeliefertsein bemerkt hat und ob sein Verhalten in einem kausalen Zusammenhang hiermit steht. Dies ergibt sich auch nicht aus Erwägungen des Gesetzgebers zur Abgrenzung des Nötigungstatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 zu dem Missbrauchstatbestand des § 179 Abs. 1 StGB. Danach sollte die Einfügung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 den Schutz geistig oder körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, vor erzwungenen sexuellen Übergriffen verbessern (BT-Drucks. 13/7663, S. 5). Daher sind von § 177 Fälle nicht erfasst, in welchen die Widerstandsfähigkeit einer Person gänzlich aufgehoben ist oder in denen ein eigenen oder fremden sexuellen Handlungen entgegenstehender Wille des Tatopfers nicht vorliegt.

Der Bundesgerichtshof hat daher mehrfach entschieden, § 177 Abs. 1 Nr. 3 erfasse solche Fälle, in denen das Opfer sexuelle Handlungen über sich ergehen lässt, weil es sich in hilfloser Lage befindet und Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint, § 179 Abs. 1 StGB greife dagegen als Auffangtatbestand ein, wenn eine Beugung eines entgegenstehenden Willens des Tatopfers nicht vorliegt (vgl. BGHSt 45, 253, 260 f.; BGH, Beschl. vom 22. Februar 2005 - 4 StR 9/05, StraFo 2005, 344 f.; vgl. auch BGH, Beschl. vom 13. 11. 2002 - 4 StR 438/02, BGHR StGB § 179 Abs. 1 Widerstandsunfähigkeit 9). Ein vom Rechtsausschuss des Bundestags geforderter Bericht der Bundesregierung (vgl. BT-Drucks. 13/7663, S. 5) ist auf der Grundlage einer bundesweiten Praxisbefragung zu dem Ergebnis gelangt, dass § 179 StGB auch weiterhin einen eigenständigen Anwendungsbereich neben § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB habe. Der Gesetzgeber hat dies zuletzt durch eine Erweiterung der Vorschrift und eine Angleichung der Strafrahmen für besonders schwere Fälle und Qualifikationen an § 177 StGB durch das Gesetz vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3007) bestätigt.

cc) Nötigen ist das Beugen eines dem Ansinnen des Täters entgegen stehenden Willens durch Ausüben von Zwang. Auf eine bestimmte Form des Täterhandelns oder den Einsatz eines bestimmten Zwangsmittels kommt es hierbei grundsätzlich nicht an (vgl. im Einzelnen BGHSt 45, 253, 257 ff.). Voraussetzung einer vollendeten Nötigung ist, dass das Tatopfer durch die Nötigungshandlung zu einem seinem Willen entgegen stehenden Verhalten veranlasst wird, dass also das Vornehmen eigener oder Dulden fremder Handlungen auf einem dem Täter zuzurechnenden Zwang beruht. Diese kausale Verknüpfung ist nach Ansicht des Senats auch für die beiden Varianten des Nötigungs-Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht entbehrlich. Da der Einsatz eines spezifischen Zwangsmittels hier aber - anders als in § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 - nicht vorausgesetzt ist, muss sich die Zwangswirkung aus den Umständen ergeben, welche die Lage konstituieren, in der das Opfer möglichen Gewalt-Einwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Käme es auf die Zwangswirkung der spezifischen Schutzlosigkeit nicht an, so wäre kein Grund ersichtlich, warum das Gesetz gerade sie zur Voraussetzung einer Nötigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 macht.

Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters kann nur dann Zwangswirkung auf das Tatopfer entfalten, wenn dieses solche Einwirkungen fürchtet und im Hinblick hierauf entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet. Wenn eine Person, die weder durch Gewalt noch durch Drohung genötigt wird, sich für den Fall der Weigerung auch nicht vor der Zufügung von Übeln fürchtet, so gibt es für sie keinen Grund, gegen ihren Willen eine eigene Handlung vorzunehmen oder eine fremde Handlung zu dulden. Eine Lage der "Schutzlosigkeit" wäre in diesem Fall für das Verhalten der betroffenen Person nicht kausal (vgl. Horn/Wolters aaO § 177 Rdn. 14a; Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 39).

Wie der Senat im Urteil vom 20. Oktober 1999 dargelegt hat, soll § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aber Fälle erfassen, in denen das Opfer ohne Anwendung von Gewalt oder (qualifizierter) Drohung durch den Täter dessen sexuelle Handlung über sich ergehen lässt, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint (BGHSt 45, 253, 259 f.). Dies setzt, worauf der 3. und 4. Strafsenat zutreffend hingewiesen haben (BGH NStZ 2003, 533; StV 2005, 269; NStZ 2005, 356; StV 2006, 15, 16; Beschl. vom 9. August 2005 - 3 StR 464/05), notwendig voraus, dass das Opfer des §177 Abs. 1 Nr. 3 StGB die tatsächlichen Umstände seiner spezifischen Zwangslage (Schutzlosigkeit) erkennt und gerade im Hinblick hierauf, nämlich aus Furcht vor möglichen Gewalteinwirkungen des Täters, von Widerstand absieht, ohne aber seinen den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen aufzugeben.

dd) Bei einem Verzicht auf das subjektive Zwangselement ergeben sich im Übrigen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen sexueller Nötigung und sexuellem Missbrauch (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 40; MüKo-Renzikowski aaO § 177 Rdn. 46; Horn/Wolters aaO § 177 Rdn. 14a).

Im Gesetzgebungsverfahren des 33. StÄG und des 6. StrRG war nicht beabsichtigt, den Anwendungsbereich der §§ 176, 176a einzuschränken. Dass Kinder sich in den Fällen des § 176 StGB aufgrund ihrer physischen und psychischen Konstitution fast regelmäßig in einer schutzlosen Lage befinden, ist in den Beratungen nicht thematisiert worden. Wenn auf eine subjektive Zwangswirkung beim Tatopfer der sexuellen Nötigung verzichtet würde, so hätte dies aber zur Folge, dass in den typischen Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes regelmäßig § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB anwendbar und das Vergehen des sexuellen Missbrauchs nur noch aus Gründen der Strafzumessung von Bedeutung wäre. Damit würde der gefestigte Deliktstypus des sexuellen Missbrauchs zum bloßen Anhängsel eines umfassenden "Nötigungs"-Tatbestands. Dass der Gesetzgeber dies nicht gewollt hat, ergibt sich auch daraus, dass er nach intensiver Diskussion in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB im Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3007) entschieden hat, den Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kindern weiterhin nur als Vergehen unter Strafe zu stellen (BT-Drucks. 15/350, S. 17; vgl. auch BT-Drucks. 14/8778, S. 5), und dass er im Übrigen weit reichende Änderungen der §§ 176, 176a StGB vorgenommen und die Strafrahmen an die des § 177 StGB angeglichen hat.

Soweit in der Entscheidung NStZ 2004, 440, 441 darauf hingewiesen ist, ein Anwendungsbereich der §§ 176, 176a bleibe für Fälle erhalten, in denen kindliche Opfer sexuellen Handlungen zustimmen, engt dies den eigenständigen Bereich der genannten Vorschriften zu sehr ein und wird der regelmäßigen Tatsituation des § 176 StGB nicht gerecht. Es ist nicht nahe liegend anzunehmen, dass eine nennenswerte Anzahl von missbrauchten Kindern in die sexuellen Handlungen tatsächlich bewusst einwilligt oder dass der Täter dies jeweils annimmt. Kennzeichnend für das Delikt sind vielmehr Unterordnung unter den Willen des Täters aus Abhängigkeit, undifferenziertem kindlichen Vertrauen, vager Furcht vor Missstimmung oder Entzug von Zuwendung, vor Trennung oder Verlust der Familie, usw. Es ist gerade das Kennzeichen des Delikts des sexuellen Missbrauchs von Kindern, dass die für Erwachsene geltenden Abgrenzungen zwischen "Zwang" und "Missbrauch" hier oft nur eingeschränkt, jedenfalls aber nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten der kindlichen Psyche angewandt werden können (vgl. dazu auch Eisenberg, Kriminologie 6. Aufl., § 55 Rdn. 6 ff. m. w. N.).

ee) Im Ergebnis erweisen sich die Bedenken gegen einen Verzicht auf eine subjektive Zwangswirkung der Schutzlosigkeit als durchgreifend. Wie in den Fällen des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB ist daher für die Vollendung der Variante des Abs. 1 Nr. 3 ein funktionaler und finaler Zusammenhang zwischen objektivem Nötigungselement (Schutzlosigkeit vor Gewalteinwirkungen), Opferverhalten (Dulden oder Vornehmen einer sexuellen Handlung) und Täterhandlung erforderlich. Das bloße objektive Vorliegen von Schutzlosigkeit - als Gesamtbewertung äußerer und in den Personen liegender Umstände - reicht nicht aus, wenn die betroffene Person ihre tatbestandsspezifische Schutzlosigkeit gar nicht erkennt oder sexuelle Handlungen nicht aus Furcht vor drohenden "Einwirkungen", sondern aus anderen Gründen duldet oder vornimmt, oder wenn eine Person durch sexuelle Handlungen in einer Situation, in welcher es sich ihrer nicht versieht, überrascht wird, ohne dass das Bewusstsein von der Schutzlosigkeit eine Zwangswirkung entfaltet. Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt vielmehr voraus, dass das Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen Ausgeliefertseins aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf einen ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet. Der subjektive Tatbestand setzt zumindest bedingten Vorsatz dahin gehend voraus, dass das Tatopfer in die sexuelle Handlung nicht einwilligt und dass es gerade im Hinblick auf seine Schutzlosigkeit auf möglichen Widerstand verzichtet. Nimmt der Täter dies irrig an, so ist ein Versuch des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB gegeben.

Ein solcher Zwangszusammenhang kann auch in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach den Umständen des Einzelfalls nahe liegen. Sein Vorliegen ergibt sich aber nicht schon allein daraus, dass das betroffene Kind dem erwachsenen Täter - regelmäßig - körperlich unterlegen ist oder dass eine Missbrauchstat, wie in den weitaus meisten Fällen der §§ 176, 176a StGB, in einer Tatsituation begangen wird, in welcher das Opfer objektiv schutzlos ist. Vielmehr sind hier die deliktsspezifischen kriminologischen und psychologischen Bedingungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu berücksichtigen. Es ist im Einzelfall anhand einer umfassenden Würdigung der die Tat prägenden Umstände zu prüfen, ob der Täter aufgrund der missbräuchlichen Ausnutzung typischer kindlicher Unterlegenheit und Abhängigkeit zu seinem Ziel gelangt ist und gelangen wollte oder ob es sich um einen von § 177 Abs. 1 Nr. 3 erfassten Fall nötigender Ausnutzung einer konkretisierten Furcht des Kindes vor körperlicher Gewalteinwirkung gehandelt hat.

c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe wird die Annahme des § 177 Abs. 1 Nr. 3 im Fall II.1 der Urteilsgründe durch die Feststellungen des Landgerichts nicht getragen. Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild der Nebenklägerin und des Angeklagten hat das Landgericht auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Senats nicht getroffen; insbesondere ist nicht festgestellt, dass das Kind sich in der Tatsituation vor Gewalteinwirkungen des Angeklagten fürchtete und dass der Angeklagte dies erkannte oder billigend in Kauf nahm. Die Nebenklägerin hat den Angeklagten vielmehr ausdrücklich als im Allgemeinen "sehr lieb" beschrieben. Dies unterscheidet den Fall von dem durch Senatsbeschluss vom 21. Dezember 2005 - 2 StR 245/05 - entschiedenen Fall, in welchem die sexuellen Übergriffe des Täters in einem familiären "Klima der Gewalt" und Einschüchterung stattfanden. Auch hat sich das Entfallen des die Schutzlosigkeit begründenden Umstands (Abwesenheit der Mutter) in den Fällen II.2 bis II.4 auf das Verhalten des Kindes nicht ausgewirkt. Dies spricht dagegen, dass seine Fügsamkeit im Fall II.1 gerade auf diesem Umstand beruhte.

d) Dass eine neue Hauptverhandlung mit einer abermaligen intensiven und belastenden Vernehmung der Nebenklägerin zu weiter gehenden Feststellungen führen würde, welche eine Verurteilung auch wegen Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB oder deren Versuch im Fall II.1 der Urteilsgründe tragen würde, schließt der Senat aus. Er hat daher den Schuldspruch geändert.

4. Das Entfallen der Verurteilung auch wegen Vergewaltigung im Fall II.1 der Urteilsgründe führt hier nicht zur Aufhebung des Strafausspruchs. Das Landgericht hat die Verhängung der Einzelstrafe von vier Jahren in diesem Fall im Unterschied zu den Einzelstrafen von jeweils drei Jahren in den übrigen Fällen nicht näher begründet. Auch wenn die Höhe der Einzelstrafe auf der rechtsfehlerhaften Annahme tateinheitlicher Verwirklichung des § 177 Abs. 1 beruhen sollte, wäre die Einzelstrafe in dieser Höhe aber jedenfalls angemessen (§ 354 Abs. 1a S. 1 StPO). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich um die erste Tat der Tatserie handelte und der Angeklagte hier erstmals die Hemmschwelle zur Tatbegehung überschritt. Auch die besonders gravierende Tatausführung an einem nur fünf Jahre alten Kind lässt die Einzelstrafe als angemessen erscheinen. Die milden Einzelstrafen in den Fällen II.2 bis II.4 beschweren den Angeklagten nicht.

5. Auch die Maßregelanordnung ist rechtsfehlerfrei und kann bestehen bleiben. Die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 S. 2 StGB liegen unzweifelhaft vor. Auch die materiellen Voraussetzungen sind hinreichend festgestellt. Das gilt auch für die Voraussetzungen eines Hangs im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Zwar enthält das Urteil insoweit zunächst nur Ausführungen zur Gefährlichkeit des Angeklagten (UA S. 11 f.); aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, namentlich auch aus den Ausführungen zur Maßregelanordnung (UA S. 14 f.), ergibt sich jedoch mit hinreichender Deutlichkeit, dass das Landgericht die Prognose der Gefährlichkeit auf die zutreffend begründete Annahme eines Hangs zu schweren Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB gestützt hat.

6. Der geringfügige Erfolg der Revision rechtfertigt eine Kostenentscheidung gemäß § 473 Abs. 4 StPO nicht.

Ende der Entscheidung

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